Keine Wahl?
Die beiden familienbiografisch grundierten Tatsachenromane des 1976 geborenen norwegischen Autors Simon Stranger sind zwei gleichermaßen überraschenden wie erschütternden Entdeckungen zu verdanken. Bei dem 2018 mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichneten Roman Vergesst unsere Namen nicht war es der Bericht seiner Schwiegermutter über ihre Kinderjahre im „Bandeklosteret“ in Trondheim. Obwohl ihr Großvater, Hirsch Komissar, im Oktober 1942 Opfer einer Hinrichtungsaktion der Nazis geworden war, hatte ihre Familie nach Kriegsende ausgerechnet dieses Haus bezogen, in dem der norwegische Kollaborateur Henry Oliver Rinnan und seine Bande Gefangene gefoltert und ermordet hatten.
Beim neuen, unabhängig zu lesenden Museum der Mörder und Lebensretter war es ein Hinweis auf die Widerstandskämpfer, die im November 1942 der Familie von Simon Strangers Frau zur Flucht ins neutrale Schweden verhalfen. Die beiden jungen Männer, Peder Pedersen und Håkon Løvestadt, die die Großmutter seiner Frau, Ellen Glott, deren Schwestern und Eltern retteten, hatten einen Monat zuvor das jüdische Ehepaar Rakel und Jacob Feldman ermordet, ausgeraubt und in einem Waldsee an der norwegisch-schwedischen Grenze versenkt:
Es war nur eine Notiz eines Forschers vom Jødisk Museum, aber diese Notiz offenbarte, dass die Erzählungen von deiner Flucht, von den Mördern und dem ermordeten Ehepaar miteinander zusammenhängen. (S. 9)
Dunkle Rätsel
Wie konnten die Helden des Widerstands, die mit hohem eigenem Risiko Hunderte jüdische Flüchtlinge vor den Deportationen ins neutrale Schweden in Sicherheit brachten, zu Mördern werden? Hatten sie wirklich keine andere Wahl, wie sie 1947 vor Gericht beteuerten, oder war es doch Habgier? Auch Simon Strangers Urgroßvater Sigurd Wahl berief sich in seinem Prozess wegen Landesverrats 1945 darauf, keine Wahl gehabt zu haben, als er in seiner Druckerei Propagandamaterial für die Nationalsozialisten herstellte, aber war es tatsächlich so? Warum kamen auch in Norwegen so viele Täterinnen und Täter nach dem Krieg mit milden Strafen oder gar Freisprüchen davon?

Foyer – 12 Säle – Ausgang
Während in Vergesst unsere Namen nicht, im norwegischen Original Leksikon om lys og mørke, die Kapitel wie in einer Enzyklopädie mit „A“ bis „Z“ überschrieben sind und jeder Buchstabe Stichwörter liefert, bewegen wir uns bei Museum der Mörder und Lebensretter durch 14 Ausstellungsräume, angefüllt mit Originaldokumenten, Fotos und Erinnerungsstücken. Akribisch recherchierte Fakten zur Geschichte des Antisemitismus, zum Holocaust in Norwegen und zur eigenen Familiengeschichte mischen sich wohlaustariert mit Fiktion, die häufig mit Wendungen wie „ich stelle mir vor…“ eingeleitet wird. Emotional wird es, wenn Simon Stranger einzelne jüdische Schicksale erzählt, eine Demonstration neuer Rechter in Oslo beobachtet, die definitiv eine Wahl hätten, oder wenn er Ellen, die Tochter aus gutem Osloer Fabrikantenhaus, direkt anspricht. Ihr Trauma aus Heimatverlust, Enteignung und geplatzter Pianistinnenkarriere konnte sie trotz Rettung und Rückkehr bis zu ihrem Tod 1996 nicht überwinden.
Stark ist der Roman auch dann, wenn Simon Stranger die Grenzen zwischen Zuschauer-, Mitläufertum und Mittäterschaft auslotet und über Selbstzweifel schreibt:
Wer wäre ich während des Krieges gewesen, der ich als Jugendlicher so aufgeschlossen war, so offen und empfänglich für große Ideen? Hätte ich zu jenen gehört, die sich von den Strömungen dieser Zeit mitreißen ließen? (S. 160)

Auf Museum der Mörder und Lebensretter habe ich mich in diesem Literaturfrühling 2025 am meisten gefreut und das zurecht. Die geniale Konstruktion, die gelungene Verbindung aus Fakten und Fiktion, die erschreckende Aktualität und das mitreißende Zusammenspiel von Forscherdrang und Empathie machen den aufwühlenden, von Thorsten Alms hervorragend übersetzten Roman höchst empfehlenswert.
Simon Stranger: Museum der Mörder und Lebensretter. Übersetzung aus dem Norwegischen von Thorsten Alms. Eichborn 2025
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