Sorj Chalandon: Herz in der Faust

   Die Wut, die bleibt

 

2013 hat mich der Roman Die Brandungswelle der französischen Autorin Claudie Gallay begeistert, zu dem sie ein Gedicht ihres populären Landsmanns, Lyrikers, Filmemachers, Drehbuch- und Theaterautors Jacques Prévert (1900 – 1977) inspiriert hatte: „Le gardien de phare aime trop les oiseaux“.

 

Haus und Grab von Jacques Prévert in Omonville-la-Petite . © B.&M. Busch.

Einen Auftritt hat Jacques Prévert mit seinem 1934 veröffentlichten Gedicht „La chasse à l’enfant“, die Kinderjagd, auch im Roman Herz in der Faust des 1952 in Tunis geborenen französischen Journalisten und mehrfach preisgekrönten Bestsellerautors Sorj Chalandon. Im Gedicht wie im Roman geht es um die Korrektionsanstalt Haute-Boulogne auf der vom Atlantik umtosten bretonischen Belle-Île-en-Mer, einer Strafkolonie, erbaut auf einer Zitadelle Vaubans. Zwischen 1880 und 1977 wurden dort Kinder und Jugendliche von 12 bis 21 Jahren wegen kleinerer Diebstähle, Landstreicherei, als Waisen oder unerwünschten Familienmitglieder untergebracht. Zur Zeit des Romans in den 1930er-Jahren übten kriegstraumatisierte Wärter unter den Augen einer heuchlerischen Politik, Justiz und Verwaltung ungezügelt sadistische Gewalt aus. Die Insassen wurden Opfer körperlicher, sexueller und psychischer Misshandlungen durch Aufseher und Mitgefangene, drakonischer Strafen, Hunger, Vernachlässigung, demütigender Schikanen und Ausbeutung.

Aufstand und Flucht
Am 27. August 1934 kam es zu einem Aufstand und zur Massenflucht von 56 Kindern und Jugendlichen über die sechs Meter hohe Mauer. Die anschließende unbarmherzige Treibjagd durch Aufseher, Gendarmen, die „brave“ Inselbevölkerung, Touristinnen und Touristen, befeuert durch ein Kopfgeld von 20 Francs, thematisiert Jacques Prévert in seinem Gedicht.

In Sorj Chalandons Roman Herz in der Faust kann sich einer der Ausbrecher der Gefangennahme entziehen: der fiktive Jules Bonneau. Er ist, mit Ausnahme des Epilogs, Ich-Erzähler, ein Heimatloser, der im Alter von 13 Jahren 1927 in die Anstalt eingewiesen wurde und den Kampfnamen „Kröte“ trägt. Er berichtet über seinen siebenjährigen Aufenthalt unter unmenschlichsten Bedingungen, der aus ihm einen wutgetriebenen, unbeherrschten, gewaltbereiten, misstrauischen, in Rachefantasien schwelgenden und um Gerechtigkeit ringenden Jugendlichen machte. Doch entgegen seiner Beteuerungen ist Jules nicht nur hart, in seiner Faust schlägt ein Herz. Den jüngeren, zarten Waisenjungen Camille Loiseau nimmt er unter seine Fittiche und kann ihn doch auf der Flucht nicht vor Verrat schützen, ein bleibendes Mal des Schmerzes und der Scham.

Sorj Chalandon: Herz in der Faust. Fotos: © M.&B. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © dtv.

Jules dagegen findet auf wundersame Weise Aufnahme im Haus des sozialistischen Fischers Ronan Kadarn und seiner mutigen Frau Sophie, einer Krankenschwester der Anstalt. Aber kann, wer nur Hass und Gewalt kennt, sich im Kampf gegen die Welt und sich selbst befindet, wieder Vertrauen fassen?

Ein Schrei nach Gerechtigkeit
Sorj Chalandon bettet seinen Unterhaltungsroman um schreiendes Unrecht und eine abenteuerliche Flucht in den Kampf zwischen Linken und Rechtsextremisten im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und die Unabhängigkeitsbestrebungen von Bretonen und Basken ein – mit eindeutig verteilten Sympathien. Die äußerst detaillierten Gewaltbeschreibungen sind zwar eher der bei der gründlichen Recherchearbeit entstandenen Wut des Autors und eigenen kindlichen Gewalterfahrung als Voyeurismus zuzuschreiben, trotzdem haben sie bei mir leider unbeabsichtigte Distanz erzeugt. Die knappe, bittere, oft brutale Sprache passt dagegen gut zu dem von inneren Kämpfen zerrissenen Ich-Erzähler, viele Szenen sind filmreif.

Wie in seinen beiden ebenfalls empfehlenswerten Romanen Am Tag davor und Verräterkind, die ich bereits kannte, widmet sich der Autor auch in Herz in der Faust einem ungeheuerlichen Thema der französischen Geschichte und gibt den Opfern von Unmenschlichkeit und Unterdrückung ein Gesicht. Zusammen mit dem unvergesslichen Protagonisten und der spannenden Dramaturgie ist der Roman trotz der wenigen genannten Kritikpunkte daher sehr lesenswert.

Sorj Chalandon: Herz in der Faust. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv 2025
www.dtv.de

 

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