Zwischenzonen
Dem vierzehnjährigen Hallstein und seiner achtzehnjährigen Schwester Sissel winkt zu Beginn des Romans Frühlingsnacht von Tarjei Vesaas (1897 – 1979) für eine Nacht große Freiheit, denn die Eltern sind zu einer Beerdigung gefahren. Die Geschwister haben das alte gelbe Haus am Waldrand oberhalb der Straße etwas außerhalb des Dorfes für sich allein:
Sie waren früh heute weggefahren, und sie hatten ihr eigenes Gewicht mitgenommen. (S. 5)
Wie der heiße Spätfrühling an der Schwelle zum Sommer steht, befindet sich der sensible, naturverbundene und kindlich-verträumte Hallstein an der Schwelle zum Erwachsensein und erahnt dessen Vorboten, ohne sie bereits zu durchdringen. Seine geheimsten Gedanken teilt er mit einer Fantasiefreundin namens Gudrun. Gleich zu Beginn spürt er diese Kluft, als er Sissel mit dem gleichaltrigen Tore beobachtet, ihr Verhalten ihm jedoch rätselhaft bleibt. Tore wird im Geschehen dieser Nacht dreimal auftauchen als Maßstab für Hallsteins Entwicklung: Je erwachsener er wird, desto vertrauter wird ihm der Ältere und schwindet sein Widerwille gegen ihn.
Überraschungsbesuch
Nur kurz genießen die Geschwister ihre Freude über das elternfreie Haus, als es hart an die Haustür klopft. Draußen steht eine Familie, die nach einer Autopanne Hilfe einfordert: die von heftigen Wehen geplagte Grete, ihr kriegstraumatisierter Mann Karl, dessen dreizehnjährige Schwester Gudrun und ihr hyperaktiver, nervöser Vater Hjalmar. Im Auto zurückgelassen haben sie nach einer heftigen Auseinandersetzung Hjalmars zweite Frau Kristine, die als Folge ehelicher Dissonanzen vermeintlich lahm und stumm geworden ist.
Binnen kurzem tragen die exzentrischen Besucher ihre Konflikte ins Haus und legen nun ihrerseits ihr Gewicht auf die Geschwister. Besonders Hallstein wird von allen vereinnahmt, was ihn mit Staunen und Stolz, aber auch mit Hilflosigkeit erfüllt:
Was war das für eine unglaubliche Nacht? Aus allen Zimmern rief es nach ihm, und er musste hinein. (S. 138)

Großer Sprung
Hallstein begegnet in dieser eigentümlichen Spätfrühlingsnacht zwischen Realität und Traumwelt, in der die Dunkelheit „nicht mehr gewesen als eine etwas grauere Haut über der Landschaft“ (S. 127), Geburt, Tod, Schuld, Reue, Vergebung, Freude, Schmerz, Einsamkeit, Demütigung, Angst und zarten Gefühlen für die fleischgewordene Gudrun. Niemand geht unverändert aus dieser „zauberischen Nacht“ (S. 107) hervor, Hallstein springt gar „über den Abstand von Jahren“ (S. 131). Die imaginierte Gudrun ist Vergangenheit.

Zeitlos und großartig erzählt
Frühlingsnacht aus dem Jahr 1954 war nach Das Eis-Schloss (1963), Die Vögel (1957) und der Der Keim (1940) mein vierter Roman des Norwegers Tarjei Vesaas aus dem Guggolz Verlag in der herausragenden Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und zugleich der am meisten fordernde. Im Fokus stehen nicht die Geheimnisse der eigentümlichen Gäste, sondern ausschließlich Hallstein. Die Familie ist Katalysator für seine Veränderung, nicht Gegenstand von Untersuchung und Enthüllung.
Tarjei Vesaas‘ Werke gehören für mich zu den bedeutendsten modernen Klassikern, und vor allem Das Eis-Schloss und Die Vögel zu meinen liebsten Entdeckungen der letzten Jahre, denen Frühlingsnacht kaum nachsteht. Für seine überragende Fähigkeit, jugendliche Perspektiven einzunehmen, die Natur, Licht und Dunkelheit als Handlungsträger einzusetzen und große Gefühle eindringlich-leise mit schwebenden Andeutungen heraufzubeschwören hätte ihm der Literaturpreis, für den er mehrfach vorgeschlagen wurde, unbedingt gebührt.

Der Beitrag der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik in einer Festschrift zum 125. Geburtstag Tarjei Vesaas‘ 2022 ist dem Buch als ungewöhnliches, da weit vom Text ins Private abweichendes Nachwort angefügt und macht neugierig auf ihre Romane.
Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Hanne Ørstavik. Guggolz 2025
www.guggolz-verlag.de
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