Thomas Hardy: Die Liebe seines Lebens

  Porträt eines Getriebenen

Kaum zu glauben, dass der zuletzt erschienene Roman des großen britischen Romanciers und Lyrikers Thomas Hardy (1840 – 1928) erst jetzt unter dem Titel Die Liebe seines Lebens erstmals ins Deutsche übertragen wurde. In einer schmucken Ausgabe mit hilfreichen Anmerkungen, einer Landkarte und einem informativen Nachwort des vorzüglichen Übersetzers Lutz-W. Wolff macht der Reclam Verlag den Roman, der ursprünglich 1892 als Fortsetzungsgeschichte im Wochenmagazin The Illustrated London News erschien, dann 1897 in stark überarbeiteter Fassung als Buch, dem deutschsprachigen Publikum zugänglich.

Im Mittelpunkt aller drei Romanteile steht der Bildhauer Jocelyn Pierston, der zunächst 20, dann 40 und 60 Jahre alt, jedoch in eigener Wahrnehmung stets ein „junger Mann“ ist.

Avice die Erste
Im ersten Teil kehrt Jocelyn Pierston nach längerer Abwesenheit auf die kleine Isle of Slingers, eigentlich Isle of Portland, einer Kalksteinhalbinsel im Ärmelkanal, zurück. Hier haben seine Vorfahren als Bergwerksbesitzer Kalkstein abgebaut, mit dessen künstlerischer Bearbeitung er sich nun als aufstrebender Bildhauer in London einen Namen macht.

Kaum angekommen, begrüßt ihn seine ehemalige Kinderfreundin Avice Caro stürmisch und unbefangen, was Jocelyn spontan zu einem Heiratsantrag veranlasst. Wieder einmal glaubt er sich am Ziel, getrieben von einer ihm selbst rätselhaften, unerfüllten Sehnsucht nach dem weiblichen Ideal, um nur Tage später die Verkörperung desselben Ideals bereits wieder in einer anderen Frau zu erkennen:

Seinem Ideal war er immer treu gewesen, aber es hatte viele Verkörperungen gehabt. Die Individuen namens Lucy, Jane, Flora, Evangeline oder was auch immer waren stets nur aufeinanderfolgende Übergangsstadien seines Idols gewesen. […] Seinem Wesen nach hatte sein Idol gar keine greifbare Substanz, es war nur eine Stimmung, ein Traum, ein Rausch, ein Begriff, ein Duft, die Essenz des Geschlechts in einem Leuchten der Augen oder sich öffnenden Lippen. (S. 22)

Thomas Hardy: Die Liebe seines Lebens. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Reclam.

Avice die Zweite
Während jedoch die Lucys, Janes oder Floras kommen und gehen, kehrt Jocelyn immer wieder zur Inselfamilie Caro zurück. Im Mittelteil des Romans, ist es Avices‘ Tochter Ann Avice, die dem inzwischen 40-Jährigen mit der – wenn auch nur äußerlichen – Ähnlichkeit zu ihrer verstorbenen Mutter als deren Wiederauferstehung erscheint. Die Heiratsabsichten des mittlerweile wohlhabenden und angesehenen Künstlers scheitern erneut, wenn auch aus anderen Gründen.

Avice die Dritte
Noch einen dritten Anlauf unternimmt der nun 60-jährige Jocelyn, nachdem er den Höhepunkt seiner Künstlerkarriere hinter sich hat. Mit der Enkelin, ebenfalls Avice, sind „Fluch und Verhängnis zurückgekehrt“ (S. 160) und er will endlich in Ordnung bringen, „was ich in meinem Kopf seit 40 Jahren als falsch empfinde“ (S. 167), auch wenn er ihr zunächst nur im Dunkeln gegenüberzutreten wagt.

Ein Buch, das mir zunehmend besser gefiel
Die Liebe seines Lebens
hat mich im ersten Teil wegen Jocelyns zunächst neutral erzählter rücksichtsloser Ich-Bezogenheit abgestoßen und empört, im zweiten mit Schadenfreude und schließlich im dritten mit Mitleid für diesen obsessiv suchenden, gequälten Künstler erfüllt. Der zunehmend humorvolle Unterton war maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich die nicht ganz ernst zu nehmende, teils melancholisch anmutende Geschichte mehr und mehr genoss. Virtuos bezieht Thomas Hardy üppige Beschreibungen einer malerischen Insel voller landschaftlicher Schönheit und traditioneller Bräuche in die Handlung ein. Erfrischender als der über lange Zeit charakterlich eher starre Protagonist waren für mich die Frauen der Familie Caro, die von Generation zu Generation selbstbestimmter agieren.

Eine unterhaltsame Lektüre und höchste Zeit, die „großen“ Romane von Thomas Hardy kennenzulernen!

Thomas Hardy: Die Liebe seines Lebens. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Reclam 2025
www.reclam.de

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