Familienlegenden
In vielen Familien gibt es originelle Mitglieder, an die man sich bei Treffen gerne erinnert. Beim Autor Uwe Timm hat sein kauziger Großonkel Franz Schröter diese Rolle inne, ein Vorreiter als Tierpräparator und Hochradpionier von Coburg. Um ihn und seine tatkräftige Frau Anna ranken sich viele Legenden, diese den Märchen und Sagen verwandte literarische Gattung mit einem fantastisch ausgeschmückten wahren Kern. Uwe Timm hat den beiden 1984 in seinem Roman Der Mann auf dem Hochrad ein liebevolles Denkmal gesetzt, das der Verlag Kiepenheuer & Witsch 2025 zum 85. Geburtstag seines renommierten Autors in hübscher Ausstattung neu aufgelegt hat.
Als die Schröters 1943 den aus Hamburg evakuierten dreijährigen Uwe Timm und dessen Mutter bei sich aufnahmen, lag die große Zeit Franz Schröters, der etwa zwischen 1865 und 1955 gelebt haben muss, bereits weit zurück. Er war als junger Tierpräparator nach zweijähriger Gesellenzeit in London im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in das Residenzstädtchen Coburg gezogen und hatte dort ein Geschäft eröffnet. Zunächst stand die konservative Kundschaft seinen ungewohnt lebensechten Arbeiten ablehnend gegenüber. Erst, als er den Lieblingsmops der Herzogin auf diese Weise ausstopfte, konnte er sich seinen Traum vom ersten englischen Hochrad in Coburg erfüllen.
Stabilität durch Bewegung
Herrlich beschreibt Uwe Timm die Reaktion auf den Anblick des Autodidakten:
Es muss eine Stimmung wie siebzig Jahre später in einem Catcherzelt gewesen sein, als er sich wieder aufrappelte […] (S. 18)
Das Auf- und vor allem das verletzungsfreie Absteigen war äußerst kompliziert, und das Fahren, besonders wegen der gefürchteten Kopfstürze, hochriskant:
Es waren weder Mut noch Selbstvertrauen, die Onkel Franz einen neuen, stark vereinfachten Absprung finden ließen, es war die Angst vor der Uferböschung. (S. 21)
Als das anfängliche Gelächter einem respektvollen Schweigen wich, löste Anna in „syrischen Unterkleidern“, einer Art Hosenrock, auf dem Hochrad neue Empörung aus. Es dämmerte nicht nur Franz, dass die technische Revolution auch beim weiblichen Geschlecht neue Wünsche weckte und das Fahren durchaus eine erotische Komponente besaß.
Innovativ und doch tragisch
Schröters Tragik war, dass bald nach seiner Einführung des Hochrads in Coburg und einiger erfolgreicher Verkäufe und Lehrstunden dank der Erfindung des Kettenantriebs die Niederräder aufkamen. Wohl wurden auch sie bekämpft, weil sie angeblich Schuhmacher, Droschkenkutscher, Pianofabrikanten und Juweliere arbeitslos machten, letztere, weil als Konfirmationsgeschenke mutmaßlich nun eher zu Fahrrädern als zu Taschenuhren gegriffen wurde. Bequemlichkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und Preis sprachen jedoch eindeutig für Niederräder. Schröter hielt trotzdem kompromisslos am eleganteren Hochrad fest und meldete sogar ein Patent einer sich lösenden Lenkstange zur Eindämmung der gefürchteten Kopfstürze an. Allerdings lösten sie sich bisweilen zum Entsetzen ihrer Nutzer anlasslos, was zu umso schlimmeren Unfällen führte. Schröter hatte sich „auf eine so unbegreifliche und nicht umkehrbare Weise verrannt“ (S. 226).
Vom Umgang mit dem Fortschritt
Was blieb von diesem unpolitischen Pionier mit dem unspektakulären Lebensabend, außer dem sehr unterhaltsamen, bisweilen mit politischen Einschüben von Sozialistengesetzen bis Nationalsozialismus angereicherten Roman, der detailverliebt und augenzwinkernd Kleinstadtbewohnerinnen und -bewohner kurz vor der Jahrhundertwende porträtiert? Franz Schröters Meisterstück steht bis heute im Londoner Victoria and Albert Museum: ein lebensecht präparierter, riesengroßer Kongo-Gorilla, für den er sogar das Dach seiner Werkstatt anheben musste.

Der Mann auf dem Hochrad ist nicht nur für Fahrradbegeisterte eine empfehlenswerte Lektüre, sondern auch ein mit amüsanter, eleganter Leichtigkeit erzähltes Lehrstück über den Umgang mit dem Fortschritt.
Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad. Mit einem Nachwort von Kerstin Gleba. Kiepenheuer & Witsch 2025
www.kiwi-verlag.de
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