Vigdis Hjorth: Wiederholung

  Es hört nie auf

Die 1959 in Oslo geborene Autorin Vigdis Hjorth gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen Norwegens und ist Teil der Gastlanddelegation auf der Leipziger Buchmesse 2025. In Deutschland ist sie vor allem für ihr autofiktionales Schreiben bekannt. Ihr autobiografisch gefärbter Roman über familiären Kindesmissbrauch Arv og miljø von 2016 verursachte in ihrem Heimatland einen Skandal. Er erschien auf Deutsch, vorzüglich übersetzt von Gabriele Haefs, erstmals 2019 unter dem Titel Bergljots Familie im Osburg Verlag und 2024 in einer von der Übersetzerin überarbeiteten Ausgabe als Ein falsches Wort im S. Fischer Verlag.

Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück (S. 5)
… so beginnt Vigdis Hjorths schmaler Roman Wiederholung, der das zentrale Thema von Arv og miljø erneut aufgreift. Nun schaut eine erfolgreiche Autorin auf das ahnungslose 16-jährige Mädchen zurück, das sie 48 Jahren zuvor war:

Wenn jedoch alles wiedererlebt und durchlebt ist, wenn der lähmende Schmerz abnimmt, wirst du vermutlich erkennen, dass du eine neue Einsicht in die Bedeutung dieser spezifischen Erinnerung gewonnen hast; deshalb ist sie zu dir zurückgekehrt: um dir etwas zu erzählen.
Warum schreibe ich du, wenn ich ich meine? (S. 5)

Coming-of-Age unter ungewöhnlichen Bedingungen
Die zufällige Beobachtung eines Elternpaars mit seiner halbwüchsigen, offensichtlich unglücklichen Tochter beim Besuch eines Konzerts löst den Flashback in den November 1975 aus, als ihre Mutter sie mit neurotisch anmutender Besessenheit überwachte. Mit der Pubertät der Tochter verfiel die Mutter in einen hysterischen Kontrollwahn, fieberhaft fixiert auf deren aufkeimende Sexualität und die Gefahren durch Alkohol, Zigaretten und Drogen. Das mütterliche Verhalten wirkte sich fatal auf die Identitätsbildung der Tochter aus und löste einerseits tiefe Selbstzweifel und Ängste, andererseits den Wunsch nach Grenzüberschreitung aus:

Sie witterte offenbar einen Abgrund in mir, und sie brachte mich dazu, ihn ebenfalls zu spüren. (S. 17)

Warum kam die Mutter überhaupt nicht mit der Pubertät der Tochter zurecht?

Während der kühl-distanzierte Vater die Übergriffe einzudämmen versuchte, schienen sich deren schlimmste Befürchtungen schließlich im Tagebuch der Tochter zu bewahrheiten. Unerwartet reagierte der Vater jedoch ungleich heftiger als sie auf das schriftliche Geständnis eines Geschlechtsverkehrs, der ironischerweise so nie stattgefunden hatte. Indem die Mutter sich unmissverständlich auf die Seite ihres Mannes stellte, keimte bei der Tochter erstmals der Vorgeschmack eines Verdachts auf:

… ich war auf die Spur meines eigentlichen Traumas gebracht worden, denn intuitiv begriff ich, mit dem Körper begriff ich, dass das, was geschehen war, eine Nachwirkung von etwas Früherem war… (S. 128)

Vigdis Hjorth: Wiederholung. Foto: © B. Busch. Cover: © Osburg & S. Fischer

Das erste Puzzlestück
Obwohl Wiederholung Szenen aus dem wesentlich umfangreicheren Arv og miljø aufgreift, die mir gut im Gedächtnis waren, ist das Buch dennoch völlig eigenständig und hat mich mit seiner großen Verdichtung mitgerissen. Die klaustrophobische Familienatmosphäre und die Einsamkeit des jungen Mädchens, das den ersten Puzzlestein auf dem Weg zum Erkennen seines Traumas findet und die Macht des geschriebenen Wortes entdeckt, übertragen sich beim Lesen auf Gänsehaut auslösende Weise. Andererseits beweist die Autorin in der gescheiterten Beischlafszene der Ich-Erzählerin mit dem auf ganzer Linie versagenden Möchtegernliebhaber Finn Lykke (deutsch: „Glück finden“) ihr außergewöhnliches Talent für Situationskomik. Selten habe so intensiv mit einer jugendlichen Protagonistin gelitten wie in diesem wirklich meisterhaften Roman.

Gjentakelsen, deutsch: Wiederholung, wurde 2023 mit dem sehr renommierten norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet, genau wie Arv og miljø 2016.

Vigdis Hjorth: Wiederholung. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. S. Fischer 2025
www.fischerverlage.de

 

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