Ein Haus mit dunkler Geschichte
1961, zehn Jahre nach dem Tod ihrer strengen Mutter, lebt die knapp 30-jährige Isabel Den Brave verbittert, ängstlich und allein im Haus der Familie bei Zwolle:
Sie hatte noch nie jemanden durchs Haus geführt, keine neuen Freundschaften geschlossen oder Besuch eingeladen. Die einzigen neuen Menschen, die das Haus je zu Gesicht bekamen, waren die Dienstmädchen […] (S. 116)
Bereits als Kind verlor sie den Vater. Ihre beiden Brüder, der zwei Jahre ältere Louis und der ein Jahr jüngere Hendrik, verließen das Haus früh, Louis, weil er nie von Amsterdam aufs Land wollte, Hendrik, weil die Mutter und auch Isabel seine Homosexualität nicht akzeptierten. Nur eine junge Haushaltshilfe kommt tageweise ins Haus, von der stets misstrauischen Isabel überwacht und tyrannisiert. Isabel, die die Familienmitglieder nicht festhalten konnte, bewahrt umso krampfhafter das Inventar des Hauses, poliert das Besteck und das gute Porzellan mit dem Hasenmuster, legt Inventarlisten an und registriert penibel jeden Verlust. Von ihrem Onkel Karel, der das Haus im Winter 1944 für Isabels verwitwete Mutter und die drei Kinder samt Möbeln, Haushaltsgegenständen und Spielsachen, darunter ein Kuschelhase, erwarb, soll es auf Louis übergehen, sobald der eine Familie gründet.
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Aufgeladene Atmosphäre
Zu einem Geschwistertreffen bringt der unstete Louis zu Isabels Ärger seine neueste Eroberung mit: Eva. Isabel lehnt sie sofort offen ab und behandelt sie gemein, trotzdem quartiert Louis sie vorübergehend bei ihr ein. In der Folge registriert Isabel immer mehr verschwundene Gegenstände und Eva ist überall, was die ohnehin aufgeladene Atmosphäre anheizt.
Übergangslos schlägt diese grundlegende Ablehnung jedoch in stürmisches Begehren um, das in langen, mit viel Lautmalerei unterlegten Abschnitten beschrieben wird.
Da sich die Anziehung zwischen Isabel und Eva auf körperliche Aspekte beschränkt, greift die niederländische Autorin Yael van der Wouden zur Kompensation der fehlenden Gespräche zum bewährten Mittel eines Tagebuchfunds. Der Zufall spielt Isabel Evas Tagebuch in die Hände, ein berührendes Dokument, das meine sämtlichen, vorher gehegten Vermutungen bestätigte.
Ein durchwachsenes Leseerlebnis
In ihrem auf Englisch verfassten Debütroman In ihrem Haus, der 2024 auf der Shortlist für den Booker Prize stand, thematisiert Yael van der Wouden ein verdrängtes Kapitel niederländischer Nachkriegsgeschichte, ein zweifellos großes Verdienst. Während mich dieser gewiss gut recherchierte historische Hintergrund interessierte, gefiel mir die Umsetzung in Romanform mit Fortschreiten der Handlung immer weniger. Nicht nur der seitenlange Sex ohne Mehrwert für den Handlungsverlauf störte mich, weil ich diesen Detailreichtum unabhängig vom Geschlecht der Beteiligten nicht gern lese, sondern auch die Zeichnung der Figuren. Wie glaubhaft ist es, dass eine unverheiratete, mittellose Frau 1961 keinen Beruf hatte, und warum fragte sich selbst die erwachsene Isabel nie, wer das Haus samt Inventar aufgab? Schließlich habe ich auch der Verwandlung Isabels misstraut, wirft sie doch Hendrik bis zuletzt vor, sie und die Mutter im Stich gelassen zu haben.
Literarisch hat das Buch seine Stärken bei gelungenen Metaphern wie den Porzellanscherben oder in den Passagen, in denen das Haus als heimlicher Protagonist zur denkenden, fühlenden Figur wird:
Das Haus hieß sie nicht willkommen, sondern wandte beschämt den Blick ab. (S. 303)
Nach starkem Beginn war In ihrem Haus für mich ein insgesamt durchwachsenes, im Plot wenig überraschendes Leseerlebnis, dessen Zielgruppe ich eher beim jüngeren Publikum sehe.
Yael van der Wouden: In ihrem Haus. Aus dem Englischen von Stefanie Ochel. Gutkind 2025
gutkind-verlag.de