Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater

Eine Reise in die Belle Epoque – leider gekürzt!

Anne Gesthuysen erzählt in ihrem neuen Roman Sei mir ein Vater gleich zwei Geschichten. In der autobiografisch beeinflussten Rahmenhandlung geht es um die knapp vierzigjährige Pariserin Lilie, die sich während eines Jahres als Schülerin in Deutschland mit ihrem Gastvater Hermann einen Ersatz für ihren stets abwesenden biologischen Vater Yves gesucht hat. Mit Hermann, der sich im Endstadium einer Krebskrankheit befindet, und ihrer Wahlschwester Hanna unternimmt sie eine letzte Reise auf den Spuren ihrer Ururgroßtante, der Malerin Georgette Agutte (1867 – 1922), und eines geheimnisvollen verschollenen Bildes.

Was wir über diese Malerin und ihren zweiten Mann, den Juristen und Politiker Marcel Sembat, erfahren, macht für mich den Reiz dieses Buch aus. Obwohl Georgette Agutte als Malerin genauso wenig in der ersten Reihe stand wie ihr Mann als Politiker, war das Ehepaar mit vielen Künstlern und anderen bekannten Persönlichkeit ihrer Zeit befreundet, u.a. mit  Henri Matisse, Camille Pissaro, Pierre-Auguste Renoir und Emile Zola sowie dem Politiker und Pazifisten Jean Jaurès.

Dieser historische Teil macht für mich den Reiz des leicht erzählten Romans aus. Die Berühmtheiten ihrer Zeit, die im Hause Agutte-Sembat ein- und ausgingen, sowie die Zeitumstände, vor allem während des Ersten Weltkriegs, sind sehr gut und lebendig dargestellt und laden dazu ein, weitere eigene Nachforschungen anzustellen. Beim Hören habe ich deshalb immer wieder ein Lexikon und verschiedene Bildbände bemüht und den Roman damit „angereichert“.

Etwas schwächer ist dagegen die Rahmenhandlung, die zwar unterhält, aber bei weitem nicht so tiefgehend ist. Gut gefallen hat mir dagegen das Motiv, das die beiden so unterschiedlichen Frauen Lilie und Georgette Agutte verbindet: das Aufwachsen ohne Vater. Während Georgette ihren Maler-Vater wegen dessen frühem Tod nie kennengelernt hat, ist Lilies Vater zu egozentrisch, um sich um sie zu kümmern, und taucht nur sporadisch auf. Der glücklich verheirateten Georgette bleiben eigene Kinder verwehrt wohingegen die alleinlebende Lilie einen Sohn hat, der wiederum ohne Vater aufwächst – die Geschichte wiederholt sich.

Warum vergebe ich nur drei Sterne, obwohl ich mich durch das Hörbuch sehr gut unterhalten gefühlt habe und die Sprecherin Doris Wolters den Roman ausgezeichnet und mit der genau richtigen Menge an Schauspielerei liest? Ich habe dieses Hörbuch im Rahmen einer kombinierten Hör- und Leserunde gehört. Dabei ist mir aufgefallen, dass es leider an vielen Stellen gekürzt ist, und zwar vor allem bei der Geschichte um Georgette Agutte. So fehlt z. B. die sehr interessante Begegnung mit Renoir und auch das wichtige Nachwort ist dem Rotstift zum Opfer gefallen. Schade, denn ich würde für die vollständige Lesung gerne ein paar Euro mehr bezahlen. Dem Buch hätte ich vermutlich vier Sterne gegeben, für die Kürzungen des Hörbuchs ziehe ich einen Stern ab.

Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater. Argon Hörbuch 2015
www.argon-verlag.de

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