Felix Weber: Staub zu Staub

  Weniger wäre mehr

Ein geistig behinderter Junge namens Siebold Tammens rettet Siem Coburg gleich zwei Mal das Leben. Beim ersten Mal lenkt das Kind durch sein schrilles, unkontrolliertes Kreischen die „Moffen“, niederländisches Schimpfwort für die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und Synonym für Nazis, von ihrer Suche nach Coburg ab, der sich als Widerstandskämpfer auf dem Bauernhof von Siebolds Großvater versteckt. Beim zweiten Mal holt die Bitte von Siebolds Großvater, dem Tod des knapp Siebzehnjährigen auf den Grund zu gehen, den lebensmüden, vom Krieg gezeichneten Coburg wieder ins Leben zurück. Siebold, den der Großvater inzwischen schweren Herzens im Kloster Sint Norbertus bei Venlo untergebracht hatte, war dort unter ungeklärten Umständen verstorben. Nicht der einzige Todesfall bei den mehr als 400 Patienten, die von nur 20 Mönchen und wenigen Laien völlig unterversorgt sind. Besonders im Pavillon für die schweren Fälle, in dem einzig ein junger Mönch als ungelernte Pflegekraft 36 schwerstbehinderte Kinder auf engstem Raum betreut, kam es vermehrt zu Todesfällen. Wunschgemäß beginnt Siem Coburg im Kloster selbst und in dessen Umgebung zu recherchieren. Keine leichte Aufgabe, denn nicht nur innerhalb der Klostermauern herrscht striktes Schweigen:

„Letzten Endes wird hier alles unter den Teppich gekehrt. Du hast ja schon begriffen, dass dieses ganze Dorf vom Sint Norbertus abhängt, aber das ist nicht der einzige Grund. Die Menschen hier finden, dass die Mönche gute Arbeit leisten, und das bedeutet, dass man schweigt, wenn etwas schiefgeht. Schmutzige Wäsche wird nicht draußen gewaschen.“ (S. 163)

Soweit die Krimihandlung, die allerdings viel weniger Raum einnimmt, als dies bei einem Kriminalroman, einem preisgekrönten gar, zu erwarten wäre. Das alleine hätte mich nicht gestört, hatte ich mir von der Lektüre doch vor allem ein Bild der Niederlande während und nach dem Zweiten Weltkrieg versprochen. Leider hat sich jedoch auch diese Erwartung nur teilweise erfüllt, denn die bunt durcheinandergehende Themenfülle, die Felix Weber in Staub zu Staub aufgreift, ist einfach viel zu groß. Von Tagebucheinträgen eines Mönchs aus dem Ersten Weltkriegs über die niederländische Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg einschließlich ihrer Unterwanderung, vom Umgang mit Behinderten im und nach dem Zweiten Weltkrieg über mobile Gaskammern der SS in der Ukraine, von zum Tode verurteilten Akteuren des Naziregimes und solchen, die nach dem Krieg ihre Karriere unbehindert fortsetzen konnten, bis zu Kollaborateuren und solchen, die zu Unrecht verdächtigt und angeklagt wurden, reicht die Themenpalette, und das ist längst nicht alles. Dazu gibt es eine Vielzahl von Biografien, durchweg düster und hoffnungslos, wie die Stimmung im ganze Roman. Bedauerlicherweise wurden die ebenfalls zahlreichen Charaktere vor meinen Augen auch kaum lebendig, weder Coburg noch die Mönche noch die Dorfbewohner, ein wenig mehr Coburgs Geliebte Rosa. Gehadert habe ich außerdem bei Sätzen wie diesem mit der Übersetzung:

Das Mädchen hatte zunächst geschwiegen, weil sie schwanger war, aber als sich herausstellte, dass sie ein Kind erwartete, hat sie ihren Eltern gegenüber seinen Namen genannt. (S. 370)

Was nach der Lektüre bleibt, ist vor allem ein Bedürfnis, mehr über die neuere niederländische Geschichte zu erfahren.

Felix Weber: Staub zu Staub.  Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. Penguin 2020
www.randomhouse.de

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