Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

  Ein Menschenfreund

Die beiden Zellenbewohner im Montrealer Gefängnis könnten nicht unterschiedlicher sein und doch kommen sie überraschend gut miteinander klar. Der Hells Angel Patrick Horton, ein gefängniserprobter, knallharter junger Hüne mit Panik vor Nagetieren und Haareschneiden, wartet wegen Beteiligung an einer Exekution auf seinen Prozess. Ganz anders sein Zellengenosse, der bisher gänzlich unauffällige, unbescholtene Paul Hansen, der von seinen Toten besucht wird: seiner angebeteten Frau Winona, seinem Vater Johanes und seiner Hündin Nouk. Zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung wurde er verurteilt, ein „angemessenes Strafmaß im Verhältnis zur Schwere des Delikts“, das „weder dramatisch noch harmlos ist“. Für Spannung sorgt, dass wir erst am Ende der gut 250 Seiten den Grund für die Verurteilung des Ich-Erzählers Paul und seine fehlende Reue erfahren:

Das Gericht besitzt die vollständige Aktenkenntnis von mir. Es hat alle Zeugen gehört und mich lange vernommen. Es hat mich zu zwei Jahren Haft verurteilt. Alles ist gesagt. Wenn sie mich vorzeitig entlassen wollen, dann ist das ihre Sache. Ich werde aus ihren Händen keine Reuekörner picken, um ein paar Monate Freiheit zu erbetteln. (S. 56)

Gegenwart und Vergangenheit
Szenen aus dem Gefängnisalltag wechseln ab mit Pauls Rückblick auf sein Leben. Geboren 1955 in Toulouse als Kind einer ungleichen Verbindung zwischen einem dänischen Pastor aus Skagen und einer französischen Programmkino-Erbin, „die sich den Dingen der Kirche und des Glaubens hermetisch verschloss“ und keinerlei Rücksicht auf den Beruf ihres Mannes nahm, ging er nach der Scheidung der Eltern mit dem entwurzelten, in seinem Glauben erschütterten und nicht mehr zur Ruhe findenden Vater 1976 nach Kanada.

Als Hausmeister einer Wohnanlage in Montreal war Paul für weit mehr als die Haustechnik und den heimtückischen Pool zuständig. Auch seinen einzigen Freund fand er dort:

Kieran Read ist einer der achtundsechzig Eigentümer, die in Montreal im Ahuntsic-Viertel eine Wohnung im Dondo Excelsior besitzen, dessen Verwalter ich sechsundzwanzig Jahre lang war, dessen Concierge, Faktotum, Krankenpfleger, Beichtvater, Gärtner, Psychologe, Elektroniker, Klempner, Elektriker, Küchenverkäufer, Chemiker, Mechaniker, kurzum: ehrbarer Hausmeister dieses kleine Tempels, dessen Schlüssel ich fast alle besaß, dessen Geheimnisse ich alle kannte. (S. 104)

Berufliche Erfüllung und privates Glück mit seiner Frau und geliebten „Zauberindianerin“ Winona, väterlicherseits Algonkin-Indianerin, mütterlicherseits Irin, bescherten ihm Jahre tiefer Zufriedenheit, bis sich die Verhältnisse ab Ende 1999 dramatisch veränderten.

Ein Sprachkünstler
Den 1950 in Toulouse geborenen, in Frankreich populäre Jean-Paul Dubois, der für diesen Roman 2019 überraschend den Prix Goncourt erhielt, kannte ich bisher nicht. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise spiegelt das Leben eines unauffälligen, genügsamen Mannes an den äußeren Veränderungen einer Zeit, in der gelebte Menschlichkeit seltener wird. Schwer zu glauben, dass irgendjemand von diesem Scheitern nicht erschüttert würde oder die Tatmotive des ehrlich wirkenden Ich-Erzählers nicht verstünde. Vor allem Dubois‘ zwischen flapsig-humorvoll und ernst-melancholisch mäandernde Erzählweise und sein unerschöpflicher Vorrat origineller Sprachbilder und Metaphern begeisterten mich, allerdings schweifte die Beichte immer wieder in weniger interessante Gefilde ab.

Jedes Lebensschicksal in diesem lesenswerten Roman ist anders, jedem wird die nötige Aufmerksamkeit zuteil und jeder bewohnt die Welt auf seine Weise.

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauer. dtv 2020
www.dtv.de

 

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