Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden

Eine ganz normale Familie

Anne Tyler, geboren 1941, lebt in Baltimore, dem Handlungsort ihres 20. Romans, Der leuchtend blaue Faden, der 2015 auf der Bestenliste für den Man Booker Preis stand. Auch er handelt von ihrem bevorzugten Sujet: der Familie.

Drei Generationen der Familie Whitshank bevölkern den Roman, der von den 1920er-Jahren bis ins Jahr 2012 reicht. Junior Whitshank, ältestes Familienmitglied, gründete trotz Wirtschaftskrise mit großer Willenskraft und Fleiß ein Bauunternehmen. Der penible Handwerker konnte sich schließlich seinen Lebenstraum erfüllen und in das von ihm für eine andere Familie gebaute Haus in einer besseren Gegend von Baltimore selber einziehen, zusammen mit seiner linkischen, anhänglichen aber ungeliebten Frau Linnie Mae und den beiden Kindern Merrick und Red. Nach seinem und Linnie Maes Tod bezieht Red, der auch die Firma übernimmt, das Haus mit seiner Frau Abby und den Kindern Amanda, Jeannie, Denny und Stem, letzterer ein Adoptivsohn. Während die beiden Töchter beruflich reüssieren und Stem in die Firma einsteigt, bleibt Denny das schwarze Schaf. Er kommt und geht wann er will und beansprucht laut Meinung seiner Schwestern die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern.

Als Red herzkrank und fast taub ist und Abby erste Anzeichen einer Demenz zeigt, stehen die Zeichen auf Veränderung und die Kinder versammeln sich, um die Zukunft zu planen.

Anne Tylers Roman erzählt ohne Klischees und in nicht-chronologischer Art und Weise von einer ganz normalen amerikanischen Mittelstandsfamilie, die auf den ersten Blick glücklich scheint, deren Verwerfungen und kleine Katastrophen sich erst beim genaueren Hinschauen offenbaren. Sie zeigt aber auch, dass es immer weitergeht, und schafft es, aus einer an und für sich unspektakulären Familiengeschichte einen interessanten Roman zu machen, den man trotz einiger Längen nicht mehr aus der Hand legen kann und dessen Personal einem schnell vertraut wird. Sie seziert gekonnt und respektvoll das familiäre Beziehungsgeflecht, ohne dabei jemals eine ihrer mit viel Empathie geschilderten Figuren bloßzustellen.

Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden. Kein & Aber 2015

Kirsten Boie: Alhambra

Eine Zeitreise ins Jahr 1492

Kirsten Boie ist für mich eine der größten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen der Gegenwart, vielleicht sogar die größte. Besonders beeindruckt mich immer wieder, dass sie für alle Altersklassen schreiben kann, vom Bilderbuch bis zum älteren Jugendlichen, und welch großes Themenspektrum sie abdeckt.

In ihrem Jugendroman Alhambra für ca. 12- bis 14-Jährige beginnt alles ganz harmlos mit einer Klassenreise nach Granada. Boston ist ein stiller Außenseiter, der Mühe hat, sich mit seinen Klassenkameraden zu arrangieren.  Am Abend nach dem Besuch der Alhambra bummelt Boston alleine über den Basar, um nach einem Mitbringsel für seine Mutter zu suchen. Als er eine alte Kachel anfasst, wird er ins Spanien des Jahres 1492 katapultiert: Die katholischen Könige haben soeben Granada von den Mauren befreit und ein Judenedikt und die Inquisition eingeleitet, Christoph Columbus fordert die Ausrüstung einer Seeflotte und die Prinzessin Johanna wartet auf ihren zukünftigen Ehemann Philipp den Schönen. Mitten dort hinein stolpert Boston – eine mehr als gefährliche, aber auch hochspannende Zeitreise. Aber wie kann er zurückkehren?

Das Buch ist eine Mischung aus sehr gut gemachtem Geschichtsunterricht und Abenteuerroman, spannend, gut recherchiert und mit sehr aktuellen Bezügen. Das Nachwort und die das alphabetische Verzeichnis historischer Personen, Orte und Begriffe hilft beim Verstehen der nicht immer ganz leichten historischen Zusammenhänge.

Kirsten Boie: Alhambra. Oetinger 2007
www.oetinger.de

Leonie Ossowski: Die schöne Gegenwart

Neustart mit 69 Jahren

Nele Ungureit, 69 Jahre alt, steht über Nacht vor den Scherben ihrer Ehe. Nach über 40 gemeinsamen Jahren, in denen sie mit ihrem Mann Fred ein großes Möbelhaus aufgebaut hat, wendet der sich einer jüngeren Angestellten zu, die nahtlos Neles Platz in Beruf und Haus einnimmt.

Nele wird gut versorgt in eine neue Wohnung umgepflanzt und Fred „zahlt mehr, als er muss“. Die beiden Kinder haben keine innige Beziehung zur Mutter, für die immer Fred und die Firma an erster Stelle gestanden haben.

Kann es das gewesen sein? Nele kommt der Zufall zur Hilfe: Die zufällige Bekanntschaft mit einer Altersheimbewohnerin und ein überraschendes Erbe lassen Neles Kämpfergeist erwachen und sie startet noch einmal voll durch…

Ein unterhaltsamer Roman zum aktuellen Thema „Wohnen im Alter“, allerdings für mich mit zu vielen Klischees belastet.

Leonie Ossowski: Die schöne Gegenwart. Piper 2004
www.piper.de

Mirjam Pressler: Rosengift

Liebesroman mit Krimihandlung und Psychogramm

In dieser raffinierten Mischung aus Krimi, Liebesroman und Psychogramm gerät das perfekt organisierte Singledasein der erfolgreichen und selbstbewussten Krimiautorin Lisa Bratt völlig aus dem Gleichgewicht. Ein obdachloses, alkoholkrankes Mädchen, das sie gegen besseres Wissen bei sich aufnimmt, und ein neuer Geliebter, für den sie sogar ihre Unabhängigkeit aufgeben könnte, bringen sie so weit, dass sie am Ende nur noch die Notbremse ziehen kann…

Die Suche nach den Gründen für ihr Handeln und Scheitern hat mich beim Lesen von Lisas schonungslosem Bericht durchweg gut unterhalten und mit einem raffinierten Schluss überrascht.

Mirjam Pressler kannte ich bisher nur als Kinder- und Jugendbuchautorin sowie als Übersetzerin der Tagebücher von Anne Frank. Hier zeigt sie, dass sie durchaus auch für Erwachsene schreiben kann.

Mirjam Pressler: Rosengift. Bloomsbury Berlin 2004
www.piper.de/berlin-verlag

Katharina Peters: Leuchtturmmord

„Nichts geschieht ohne Auswirkung auf die Zukunft“

Ich kannte bereits die ersten beiden Bände der Rügen-Krimis von Katharina Peters, Hafenmord und Dünenmord, nun habe ich mit ebensoviel Freude den fünften Band Leuchtturmmord gelesen. Die Bände sind von einer gleichbleibenden Qualität, allesamt sehr spannend und sprachlich ansprechend. Sie zeichnen sich für mich durch eine sehr gelungene Mischung aus hauptsächlich Krimihandlung, angereichert durch etwas Privatleben und Regionalflair aus, von den beiden letzteren Zutaten nicht zuviel. Die Bücher lassen sich mühelos auch unabhängig voneinander lesen, alle wichtigen Informationen sind in jedem Band enthalten, aber natürlich bauen sie in Bezug auf die persönlichen Belange der Ermittlerin Romy Beccare und ihres Teams aufeinander auf, so dass sich der Lesespaß noch erhöht, wenn man sie in der richtigen Reihenfolge liest.

Romy Beccare, die nach dem frühen Tod ihres Partners inzwischen mit dem Stralsunder Polizisten Jan Riechter wieder einen Lebenspartner gefunden hat, steht auch dieses Mal im Mittelpunkt des Rügener Ermittlerteams. Allerdings wird aus dem einen Mordfall an der jungen Mutter Merle Zober schnell mehr. Einerseits stellt sich bei den Ermittlungen heraus, dass bereits vier Mitglieder aus Merles Jugendclique nicht mehr am Leben sind, andererseits arbeitet Jan mit seiner Ermittlergruppe in Stralsund an mehreren Fällen nach illegalen Boxkämpfen verstorbener Boxer, die irgendwie mit dem Mord an Merle Zober zusammenzuhängen scheinen. Besondere Brisanz erhält dieser zweite Handlungsstrang dadurch, dass ein Staatsanwalt aus Schwerin persönlich in die Szene verwickelt zu sein scheint und seine schützende Hand darüber hält, was bereits Jans neue Kollegin Olivia die Karriere in Schwerin gekostet hat. Die daraufhin hinzugezogene interne Ermittlerin Gerit Schlegel, die mit voller Power ans Werk geht, ist ein charakterliches Highlight in diesem personell bereits stark besetzten Krimi.

Ein im besten Wortsinn solider, intelligenter, sehr spannender und unterhaltsamer Krimi mit zwei ebenso sympathischen wie harmonischen Ermittlerteams, denen man bei den Ermittlungsarbeiten gerne über die Schultern schaut! Für mich war dieser fünfte Band Ansporn, die fehlenden Bände drei und vier unbedingt nachzuholen und auch bei eventuellen Folgebänden dabeizubleiben. Verwundert hat mich nur das Cover: Ein Leuchtturm wäre eindeutig passender gewesen als die abgebildete Brücke, aber das ist sicher nur eine Randnotiz wert.

Katharina Peters: Leuchtturmmord. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Eric Walters: We all fall down

Im Angesicht des Grauens

Will und sein Vater haben sich nicht viel zu sagen. Der Vater ist ein Workoholic, der kaum Zeit für seinen Sohn und dessen Probleme hat. Deshalb verspricht sich Will auch nicht viel von dem Praktikumstag, den er am 11. September 2001 bei seinem Vater im World Trade Center verbringen soll, um dessen Arbeit kennenzulernen.

Natürlich wissen wir alle, was an diesem Tag geschah. Eric Walters lässt den Tag aus der Sicht eines betroffenen Jungen zu schildern. Vater und Sohn müssen sich aus dem 85. Stockwerk nach unten kämpfen, was nicht nur dramatisch und aufwühlend für die Leser ist, auch das Verhältnis der Beiden, die dieses Chaos nur als Team überleben können, verändert sich während der Zeit ihres Überlebenskampfes…

Eine spannende, dramatische Geschichte, vielleicht etwas zu patriotisch geraten, für Jugendliche ab 13 Jahren.

Eric Walters: We all fall down. Gulliver 2009
www.beltz.de

Fred Vargas: Die dritte Jungfrau

Mehr als nur ein spannender Krimi

Die Krimizutaten zu Die dritte Jungfrau der französischen Krimiautorin Fred Vargas sind, wie nicht anders erwartet, skurril wie immer: Zwei junge Obdachlose wurden ermordet, die Gräber von zwei angeblich verunglückten Jungfrauen gewaltsam aufgebrochen, Reliquienknochen gestohlen, zwei Hirsche sowie ein Kater rituell umgebracht und eine Serienmörderin ist aus dem Gefängnis entkommen.

Wie Vargas daraus eine Handlung mit gekonnt gelegten falschen Fährten und temporeichem Plot komponiert, ist wirklich meisterhaft.
Doch wie immer in ihren Krimis stehen nicht nur die teilweise verstörenden Straftaten im Mittelpunkt, sondern auch die originellen, oft stark überzeichneten Charaktere der Ermittler um Kommissar Adamsberg und aller Beteiligter. Und genau hierin wächst Vargas meiner Ansicht nach mit jedem Buch. Allein die Stammtischgespräche einer Männerrunde in der Normandie, wo die Brigade dieses Mal ermittelt, sind die Lektüre dieses Buches wert.

Adamsberg, der große Schweiger und Träumer, der Mann mit dem ausgeprägten Bauchgefühl, der einst aus einem Dorf in den Pyrenäen nach Paris gekommen ist, schlägt sich neben seinen  komplizierten Ermittlungen noch mit einer spukenden
Nonne in seinem jüngst erworbenen Häuschen, einem neuen Kollegen, mit dem ihn ein dunkles Kindheitserlebnis verbindet, und mit den Annäherungsversuchen an seine Dauerliebe Camille herum. Genug Stoff also für 474 aufregende Seiten, die für alte Adamsberg-Fans genauso spannend sein dürften wie für alle, die mit diesem Band in die Serie einsteigen möchten.

Fred Vargas: Die dritte Jungfrau. Aufbau 2007
www.aufbau-verlag.de

Fred Vargas: Der vierzehnte Stein

Vom Jäger zum Gejagten

Kommissar Adamsberg, Chef einer Pariser Mordbrigade und Ermittler mit ungewöhnlichen Methoden, trägt seit 30 Jahren einen ungelösten Fall mit sich herum. Immer wieder geschehen in ganz Frankreich Morde an Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die aufgrund der Verletzungen offensichtlich mit einem Dreizack ausgeführt wurden. Jedes Mal wurde ein Täter festgenommen, der für die Tatzeit Gedächtnislücken aufwies, einer davon Adamsberg Bruder.

Doch der Kommissar glaubt nicht an die Einzeltäter, er verdächtigt den angesehenen Richter Fulgence der Serientäterschaft, konnte ihm jedoch nie etwas nachweisen. Mittlerweile ist der Richter seit 16 Jahren tot, trotzdem ereignet sich im Elsaß ein Mord nach dem selben Muster. Adamsberg nimmt die Fährte wieder auf, muss dann jedoch mit seinen Kollegen zu einem DNA-Lehrgang nach Quebec. Als dort eine junge Frau ebenfalls mit einem Dreizack ermordet wird, ist Adamsberg selber der Verdächtige, der sich an nichts erinnern kann…

Der vierzehnte Stein ist unglaublich spannend wie alle Krimis der Französin Fred Vargas, hat brilliante Dialoge voller hintergründigem Witz und ist auch ohne die Kenntnis der vorausgehenden Bände problemlos zu verstehen, doch bedarf es auch für diesen Band einen Sinn für Skurrilität.

Als Nebenaspekt fand ich die Schilderung der sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Frankreich und Franko-Kanada äußerst vergnüglich und interessant.

Fred Vargas: Der vierzehnte Stein. Aufbau 2006
www.aufbau-verlag.de

Fred Vargas: Fliehe weit und schnell

Der schwarze Tod?

Der ehemalige bretonische Fischer Joss Le Guern hat in Paris das uralte Handwerk seiner Vorfahren wieder aufgenommen: Er ist „Ausrufer“. Zweimal täglich verliest er in der Nähe des Gare Montparnasse auf einer Kiste stehend Nachrichten, die die Leute zusammen mit fünf Francs in seine Urne geworfen haben. Eines Tages tauchen Mitteilungen auf, die er nicht versteht, abgefasst in altem Französisch oder in Latein, versehen mit größeren Geldbeträgen. Erst nach einem Monat wird klar, dass ein Unbekannter mit diesen Texten das Nahen der Pest ankündigt.

Gleichzeitig werden überall in Paris in Mehrfamilienhäusern Wohnungstüren mit einer spiegelverkehrten Vier gekennzeichnet – alle bis auf jeweils eine. Und hinter den nicht markierten Türen findet die Polizei Tote, die von Flohbissen übersät und schwarz sind.

Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg, der neue Chef der Pariser Strafverfolgungsbrigade, Referat Delikte am Menschen, kämpft nicht nur gegen einen offensichtlich Verrückten, sondern auch gegen die immer hysterischer werdende Presse und die verunsicherte Bevölkerung…

Fred Vargas, französische Archäologin, die für ihre Krimis bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, beherrscht vor allem die Schilderung von Personen und Orten meisterhaft. Ihre Krimis sind von höchster Spannung, allerdings muss man einen Hang zum Skurrilen haben, um sie uneingeschränkt zu mögen.

Fred Vargas: Fliehe weit und schnell. Aufbau 2004
www.aufbau-verlag.de

Sarah Mlynowski: Murks-Magie – Das verflixte Klassen-Schlamassel

Was ist schon normal?

Um nach der Grundschule in die Genie-Akademie für Zauberer aufgenommen zu werden, muss Nory eine Aufnahmeprüfung machen. Ihr Vater ist dort Schulleiter, ihre Geschwister gehen dorthin, aber Norys Magie macht leider immer Murks. Wenn sie sich in ein Tier verwandeln soll, schafft sie nie ein normales Tier, sondern stattdessen Mischformen wie „Batze“ (Biber-Katze), „Stinkefant“ (Stinktier-Elefant) oder „Tintenhund“ (Tintenfisch-Hund), verliert dann die Kontrolle und richtet regelmäßig ein Riesenschlamassel an.

Wie nicht anders zu erwarten, besteht sie die Prüfung nicht, muss stattdessen zu ihrer Tante ziehen und dort die Spezialklasse für Murks-Magier der Dunwiddle-Zauberschule besuchen. Ihre Lehrerin, Frau Starr, verbittet sich das Wort „vermurkst“, sie spricht lieber von „Zick-Zack-Magie“, fordert die Kinder zur Akzeptanz ihrer Fähigkeiten auf und hasst das Wort „normal“ – wo doch Nory und ihr neuer Freund Elliott genau das so gerne wären…

Dieses Kinderbuch der drei Autorinnen Sarah Mlynowski, Emily Jenkins und Lauren Myracle ist nicht nur sehr vergnüglich und sprüht vor Ideen, es fordert geradezu dazu auf, Abweichungen von der Norm anzunehmen und zu tolerieren und Vorurteile aufzugeben. Daneben ist es eine schöne Freundschaftsgeschichte und zeigt, wie wichtig der Zusammenhalt in einer Gruppe ist. Weniger gelungen finde ich allerdings die Figur des Vater und die Geschwister, die Nory wegschicken bzw. dies hinnehmen – ein schweres Schicksal für eine Zehnjährige, auch wenn sie bei der Tante gut aufgenommen wird.

Ein vielversprechender Auftakt einer neuen Reihe ab ca. acht Jahren, die unabhängig von der Gestaltung des Covers inhaltlich durchaus auch für Jungs zu empfehlen ist.

Sarah Mlynowski: Murks-Magie – Das verflixte Klassen-Schlamassel. Fischer KJB 2016
www.fischerverlage.de