Simon Stranger: Barsakh

  Festung Europa

Die 15-jährige Emilie aus einem Osloer Nobelvorort macht mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Urlaub auf Gran Canaria. Die Magersucht hält sie fest im Griff, seit der unbedacht gewählte Kosename des Vaters und die kränkende Bemerkung eines Schulkameraden ihre Kindheit schlagartig beendet haben.

Beim Joggen entdeckt Emilie an einem einsamen Strand ein Flüchtlingsboot und rettet den 18-jährigen Samuel aus Ghana und seine halbtoten westafrikanischen Mitflüchtlinge. Auf der Flucht vor der Perspektivlosigkeit ihrer Heimat, angezogen von Verheißungen westlicher Fernsehserien, haben sie sich mit den Ersparnissen ihrer Familien auf den Weg nach Europa gemacht, sich Menschenschmugglern anvertraut und mit dem Aufbruch an der Küste Senegals ihr Leben riskiert:

An der Mauer stand ein Mann und malte: ein rotes Boot, darin Silhouetten von Menschen. Einige waren über Bord gefallen und versanken im Wasser. Auf der anderen Seite hing die spanische Flagge. BARSAKH stand mit großen Buchstaben über dem Boot. Samuel ging zu dem Maler, blieb stehen und sah ihm zu […]. Sie grüßten sich kurz. Samuel zeigte auf die Buchstaben. Barsakh. „Was bedeutet das?“, fragte er leise. Der Mann sah ihn an. Schien sich über das Interesse zu freuen. […] „Im Islam ist Barsakh eine Art Zwischenstadium, in das man nach dem Tod eingeht“, erläuterte der Maler. „Ein Ort, an dem man auf das Jüngste Gericht wartet.“

Wer rettet wen?
Für Emilie, die sich bisher nicht für das Thema interessiert hat, verändert die Begegnung alles. Auf den ersten Blick ist sie es, die Samuel rettet, doch das Zusammentreffen mit den Flüchtlingen wird auch für sie zum rettenden Wendepunkt:

In den letzten Tagen hatte sich alles, aber auch alles verändert. Emilie hatte viel geschlafen. An Samuel gedacht. Und geweint. Sie hatte versucht, mehr zu essen. Erst zwei Wochen war es her, dass sie in die Ferien geflogen waren, doch es fühlte sich an wie ein anderes Leben, wie eine andere Emilie.

© B. Busch

Zwei Jugendbücher, ein Thema
Simon Stranger thematisiert in seinem auf Norwegisch 2009, auf Deutsch 2011 erschienenen Jugendroman Barsakh, der den Beginn einer Trilogie bildet, die Migration aus Westafrika, Fluchtursachen, gefährliche Routen und geringe Erfolgsaussichten. Der Roman hat mich an das 2011 erschienene Jugendbuch Der Schrei des Löwen von Ortwin Ramadan erinnert, in dem der 16-jähriger Nigerianer Yoba sich ebenfalls nach Europa aufmacht und es in ein Flüchtlingsboot nach Lampedusa schafft, während der wohlstandsverwöhnte deutsche Schulabbrecher Julian gezwungenermaßen mit seinen Eltern den Urlaub auf Sizilien verbringt. In beiden Romanen sind die Handlungsstränge durch unterschiedliche Schrifttypen voneinander abgesetzt, beide richten sich an Jugendliche ab 13, sind äußerst berührend, zielgruppengenau geschrieben, moralisieren nicht und verzichten auf Schwarz-Weiß-Malerei. Yobas Fluchtweg nimmt mehr Raum ein als Samuels, dafür fand ich Emilie interessanter als Julian.

Simon Stranger bei „Literatur am Vormittag“ in der Cotta-Schule in Stuttgart am 23.10.2019. © M. Nickel

Bei einer Veranstaltung in der Cotta-Schule am 23.10.2019 in Stuttgart zu seinem Buch Vergesst unsere Namen nicht war deutlich zu spüren, welch große Ausstrahlung Simon Stranger auf Jugendliche und junge Erwachsene hat und wie er für seine Themen begeistert. Ich finde es daher ausgesprochen schade, dass mit Barsakh nur eines seiner topaktuellen Jugendbücher ins Deutsche übersetzt wurde und selbst dieses nur noch antiquarisch erhältlich ist.

 

Simon Stranger: Barsakh. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. bloomsbury 2011

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