Isabelle Autissier: Acqua Alta

  Wahrgewordener Albtraum

 

Mit den Romanen der ehemaligen Weltumseglerin und Vorsitzenden des WWF Frankreich, der 1956 geborenen Französin Isabelle Autissier, reist man weit: nach Südgeorgien mit Herz auf Eis, an die äußersten Grenzen Sibiriens mit Klara vergessen und nun mit Acqua Alta nach Venedig. Allerdings liegt die Lagunenstadt schon monatelang in Trümmern, als der Roman 2021 einsetzt:

Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren. (S. 5)

Das unglückliche Zusammentreffen von Hochwasser und Sturm hat zu dem geführt, was viele aufgrund von Bauboom, Massentourismus und Klimawandel längst prophezeiten: dem Untergang der jahrhundertealten Welterbestadt.

Hintergrund, Fotos der Venedig-Gemälde von William Turner und Collage: © B. Busch, Buchcover: © mare

Familie Malegatti
Durch die menschenleeren Kanäle steuert ein einsamer Mann sein Boot: Guido Malegatti, Visionär und Macher aus kleinbäuerlichen Verhältnissen an der Küste, dessen Stern in den letzten Jahrzehnten in Venedig kometenhaft aufging: erfolgreicher Bauunternehmer, Heirat mit einer stillen, ganz dem alten Venedig verbundenen Frau aus verarmtem Hochadel und als Krönung gewählter Abgeordneter und Wirtschaftsrat. Wie durch ein Wunder hat er schwerverletzt das Inferno auf seiner Terrasse im dritten Stock überlebt, während die Leiche seiner Frau Maria Alba nie gefunden wurde. Sein Glaube an Fortschritt, Wachstum und Technik war grenzenlos:

Ich glaube nicht an die Geschichten von der untergehenden Stadt oder der sterbenden Lagune, und selbst wenn es so kommen sollte, dann wird man Lösungen finden. Wir sind schließlich auch auf den Mond geflogen, da machen uns doch wohl ein paar Zentimeter Wasser keine Angst. (S. 185)

Als Stachel in Guidos Fleisch entpuppte sich im Jahr vor der Katastrophe zunehmend seine 17-jährige Tochter Léa. Von der Mutter mit ihrer tiefen Liebe zu Venedig infiziert, erkannte sie während ihres Architekturstudiums schlagartig die Fragilität der Stadt und die Verursacher ihrer Bedrohung. Während ihr Vater auf eine weitere Zunahme der Touristenströme setzte und unbegrenztes Vertrauen in das 2020 eröffnete milliardenschwere Flutschutzsystem MO.S.E. hatte, wurde bei ihr aus anfänglichem Entsetzen Wut, die Studentin aus gutem Hause mutierte zur militanten Aktivistin.

Ein belletristisches Sachbuch
Faszinierend an Acqua Alta ist für mich die Mischung aus Sachbuch und Roman, die der wie immer herausragenden Erzählerin Isabelle Autissier vorzüglich gelingt, auch wenn dies unweigerlich zu einem Kompromiss bei der Tiefe und Kompexität der Charaktere führt. Poetische Teile über die Schönheit Venedigs wechseln sich ab mit Daten und Fakten zur Lage der Stadt, im Hintergrund schwingt die Corona-Epidemie mit. Neben Venedig und der Lagune sind – wie immer in ihren Romanen – das Meer und Menschen in Ausnahmesituationen zentral, hier drei antagonistische Mitglieder einer Familie und ihre unvereinbaren Standpunkte.

Nicht nur Venedig
Auch wenn es in Acqua Alta vordergründig „nur“ um Venedig geht, steht die Stadt doch symbolisch für die Entwicklung des Klimas, die Umweltzerstörung, das Wegschauen und die Arroganz menschlichen Ehrgeizes weltweit. Dies faktenbasiert und ruhig ins Bewusstsein zu rücken, um im besten Fall ein Nachdenken über eigenes Verhalten zu erreichen, schafft diese fesselnde, gut geschriebene und trotz des vorweggenommenen Endes spannende Dystopie, die nah an der Realität und trotzdem hoffentlich Fiktion bleibt.

Isabelle Autissier: Acqua Alta. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare 2024
www.mare.de

 

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Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela

  Mehrere Anfänge, ein Ende

Was eine Tragödie ausmacht, sagte die Frau, ist, dass wir immer wissen, wie sie endet. […] Und trotzdem lesen wir, warum auch immer weiter. Wir leben weiter, als wüssten wir nicht, was am Ende passiert. (S. 185)

 

 

 

Vom tragischen Ende erfahren wir im Roman der 1983 geborenen chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán gleich zu Beginn:

Das Mädchen ist tot. (S. 8)

Aufklärung über die Hintergründe der sich durch viele warnende Vorzeichen anbahnenden Tragödie verspricht uns die Hausangestellte einer bürgerlich-wohlhabenden Familie in Santiago de Chile. Estela García, wahrscheinlich indigener Herkunft, sitzt in einem Gefängnis und weiß nicht, wer sich hinter der Spiegelwand befindet. Aber endlich hört ihr, wie sie vermutet, jemand zu, endlich hat sie einen Namen. Die Frau, die auf dem sehr gelungenen Cover ohne Kopf abgebildet ist, holt weit aus, erzählt die Geschichte mit mehreren Anfängen und fordert immer wieder die Aufmerksamkeit ihres vermeintlichen Publikums ein.

Von Chiloé nach Santiago
Gegen den Rat ihrer Mutter verließ die 33-jährige Estela ihre Heimatinsel Chiloé im Süden Chiles, um als Hausangestellte in Santiago zu arbeiten. Unmittelbar vor der Geburt ihrer Tochter Julia stellten ein Arzt und eine Rechtsanwältin sie ein, fortan lebte sie bis zum Tod des Mädchens sieben Jahre später in einem Hinterzimmer der Küche und kümmerte sich rund um die Uhr an sechs Tagen die Woche um alle Belange des Haushalts und das Kind. Ihre freien Sonntage verbrachte Estela meist im Bett und telefonierte nur mit ihrer Mutter.

© B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Estela war keine duldsame oder gar dankbare, ihren Arbeitgebern freundlich ergebene Angestellte, obwohl sie deren korrektes Verhalten mehrfach betont. Sie kämpfte mit psychischen Problemen, war hin- und hergerissen zwischen Wut, Verzweiflung, Auflehnung, Hass, Rachegedanken und doch auch Zuneigung, zumindest zu Julia, obwohl ihre Mutter sie davor immer gewarnt hatte. Als Einzige sah sie, wie unglücklich und gestört das überforderte Mädchen war, wie sie unter den rigiden Leistungsanforderungen ihrer neoliberalen Eltern litt, schon im Kindergarten den gnadenlosen Konkurrenzkampf ihrer Gesellschaftsklasse aufnahm und mit Gewaltausbrüchen sowie ihrem Hang zur Selbstverletzung nach Hilfe schrie. Gleichzeitig kopierte die tyrannische Julia früh das Verhalten ihrer Eltern gegenüber Estela: Distanziertheit bis zur Ignoranz, strenge Hierarchie und Reduktion der Hausangestellten auf ihre Funktion.

Schattenseiten der Leistungsgesellschaft
Wer Mein Name ist Estela als Krimi oder gar Thriller liest, wird mit dem Ende hadern. Gleichzeitig war das Buch für mich aber auch kein Manifest gegen die Unterdrückung der unteren chilenischen Klasse, denn dazu taugt die offensichtlich unzuverlässige, mit psychischen Problemen kämpfende und auf die Wirkung ihrer Worte bedachte Ich-Erzählerin Estela nicht, die trotz ihrer eloquenten Schilderungen kein Interesse für die politische Lage im Land erkennen lässt. Ich habe den Roman trotzdem gern gelesen, wegen seiner schwebenden, soghaften Erzählweise einerseits, andererseits wegen der Einblicke in eine neoliberale Gesellschaft von unten. Niemand ist hier glücklich, weder die prekär beschäftigte Hausangestellte, noch die von starken Ängsten beherrschte bürgerliche Familie. Für mich ist Mein Name ist Estela daher vor allem ein psychologischer Roman über eine labile, mit ihrem Leben hadernde Frau und die Schattenseiten einer gnadenlos auf Erfolg getrimmten Leistungsgesellschaft, deren Bedrohung via Fernsehen ins Haus kommt.

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

Meri Valkama: »Deine Margot«

  Die Kindheit als schwarzes Loch

Meri Valkama, 1980 geborene finnische Investigativ-Journalistin und Autorin, teilt ein biografisches Detail mit Vilja Siltanen, der Protagonistin ihres Debütromans Deine Margot: Beide verbrachten Kinderjahre in Ost-Berlin. Während die Autorin zum Studium an die Freie Universität Berlin im dann vereinten Deutschland zurückkehrte, führt Vilja der Fund von Briefen in einer Blechdose nach dem Tod des Vaters 2011 zurück. Wer ist „Margot“, die ihre Briefe an „Erich“, offensichtlich der Vater, richtete, und die die Mutter angeblich nicht kennt? Warum hat Vilja selbst keinerlei Erinnerungen an die Zeit zwischen ihrem dritten und sechsten Lebensjahr in Ost-Berlin und an die Frau, die sie in ihren Briefen „Kastanie“ nennt?

Sie schreibt, als wäre ich ihr Kind, und ich erinnere mich überhaupt nicht an sie. (S. 50)

Eine verhängnisvolle Affäre
1983
zieht die Familie Siltanen von Helsinki nach Ost-Berlin. Vater Markus arbeitet als   Auslandskorrespondent für eine finnische sozialistische Zeitung und glaubt fest an die DDR, Mutter Rosa erhofft sich im realen Sozialismus Zeit für ihre eigene Karriere, Vilja, 2, und Matias, 4, besuchen ein Kindertagheim. Der Start in einem Plattenbau unweit des Fernsehturms ist vielversprechend, die DDR erscheint den Eltern als Paradies, zumal sie jederzeit in West-Berlin einkaufen können. Doch dann verliebt Markus sich in eine andere Frau. Als Rosa mit Matias wegen der Luftverschmutzung für einige Wochen zur Erholung nach Finnland reist, bilden Markus, seine verheiratete Geliebte und Vilja eine Familie auf Zeit. Fast vier Jahre bleibt Markus‘ Affäre geheim, dann besteht Rosa nach ihrer Entdeckung 1987 auf einer überstürzten Heimkehr. Die Ehe zerbricht schließlich trotzdem, Vilja wächst beim Vater auf, Matias bei der Mutter.

Foto (Fernsehturm): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © FVA

Verschiedene Perspektiven und Zeitebenen
Meri Valkama erzählt ihren gut 530 Seiten umfassenden Roman aus verschiedenen Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen. Viljas Reise nach Berlin 2011/2012, mit der sie das schwarze Loch in ihrer Erinnerung schließen, die Rolle des Vaters in der DDR aufdecken und „Margot“ finden möchte, bildet den Rahmen. Ihr Wunsch nach Erinnerung ist stärker als die Zweifel an der Legitimation ihrer Nachforschungen, von denen sie weder Mutter noch Bruder abhalten können:

»Ein Versuch, zu verstehen«, sagte sie schließlich. »Mich selbst. Und Vater. Was zum Teufel eigentlich mit uns passiert ist.« (S. 469)

Die Jahre 1983 bis 1989 werden aus der Perspektive der Eltern erzählt. Die Briefe von „Margot“ datieren von August 1987 bis Oktober 1989.

Bestes finnisches Debüt 2021
Obwohl der Ausgangspunkt der Handlung mit dem Fund der Briefe einem altbekannten Muster folgt, es bei Viljas Recherchen einiger Zufälle bedarf und die erzählenden Passagen mir sprachlich deutlich besser gefielen als die zahlreichen Dialoge, habe ich Deine Margot insgesamt gern gelesen. Der Blick einer finnischen Autorin auf die neuere deutsche Geschichte und die Vorboten der Wende – Gorbatschows Perestoika, das Massaker auf dem Pekinger Tiananmenplatz und die Atomkatastrophe von Tschernobyl – ist bereichernd, wenngleich mir bezüglich der Wiedervereinigung zu einseitig pessimistisch. Den historischen Hintergrund hat die Autorin gut recherchiert und in die Handlung um starke Frauenfiguren und zögerliche Männer eingebunden. Sehr gekonnt beleuchtet Meri Valkama die zentralen Themen Erinnerung und Identität einerseits am Einzelschicksal, andererseits am Beispiel einer Nation. Belohnt wurde sie dafür 2021 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt.

Meri Valkama: »Deine Margot«.  Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Frankfurter Verlagsanstalt 2024
www.fva.de

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage

  Mehr Nebel als Polarlicht

Arctic Mirage der 1974 geborenen finnischen Musikerin und Autorin Terhi Kokkonen beginnt mit einem Schock. Wie konnte es zu dieser dramatischen Zuspitzung an einem Freitag kommen, just als endlich das ersehnte Nordlicht am Himmel zu sehen war? Beginnend mit dem Sonntag werden die Ereignisse vor dem Showdown entrollt.

Knapp dem Tod entronnen
Ein Urlaub sollte der Rettung ihrer verfahrenen Ehe dienen, dazu waren Karo und Risto eigens nach Lappland geflogen. Was sich zunächst gut anließ, endete am letzten Tag mit einem ihrer üblen Streits. Auf dem Weg zum Flughafen verunglückten sie mit ihrem Mietwagen und anstatt im Flieger nach Hause landeten sie am Sonntag, wie durch ein Wunder nur mit leichten Verletzungen, im einzigen Hotel weit und breit. Das Luxusresort namens Arctic Mirage mit Holzhäuschen zum Preis von 700 Euro pro Nacht bietet einen denkbar schlechten Service und von der Chefin persönlich angeordnete Unfreundlichkeit. Was dem gut betuchten Paar um die 50 ein paar zusätzliche Erholungstage hätte bescheren können, fördert stattdessen die Untragbarkeit ihrer Beziehung immer deutlicher zutage. Lange schon sind beide Partner psychisch auffällig und unkontrolliert im gegenseitigen wie im Verhalten zu anderen. Die Ehe ist zu einer Hölle geworden, im Raum steht sogar der Verdacht, dass Risto seine Frau um den Verstand bringen will.

Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Verschenktes Potential
Terhi Kokkonen, die für Arctic Mirage 2020 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, hat mit dem winterlichen Lappland das denkbar beste Setting für ein Beziehungsdrama gewählt. Leider nutzt sie dieses große Potential kaum, das die unberührte Natur, die in unschuldiges Weiß getauchte Landschaft, Schnee und Eis, Kälte und Stille, Wald und Einsamkeit zur Unterstützung der Handlung eigentlich böten. Da sowohl die Rückblenden bis in die Kindheit als auch das aktuelle Geschehen weit überwiegend aus Karos unzuverlässiger Sicht erzählt werden, blieben die Geschehnisse für mich zudem bis zuletzt nebulös. Lediglich ab und zu erhascht man einen Blick von außen auf das Paar, wenn Nebenfiguren, allesamt mit kurz angerissenen, problematischen Schicksalen behaftet, ihre von Karos Sicht abweichenden Eindrücke wiedergeben. Bei manchen Nebenhandlungen des nur knapp 190 Seiten umfassenden Romans konnte ich knapp noch einen Bezug zum Hauptgeschehen ausmachen, bei anderen blieb mir die Bedeutung verborgen. Ebenso erging es mir mit dem dunklen Geheimnis, das das Paar laut Klappentext angeblich hütet.

Das Spiel mit Wahrheit und Lüge
Schade, dass der stilsicher geschriebene Roman mit dem umwerfend gelungenen Cover nach stärkerem Beginn aufgrund der genannten Kritikpunkte für mich zunehmend an Faszination verlor und die zunächst gut aufgebaute geheimnisvoll-bedrückende Atmosphäre verpuffte. Bis zuletzt hoffte ich auf einen überraschenden, logisch begründeten Plot, die verständliche Einbindung der diversen Nebenstränge und Erklärungen für vielfältige Andeutungen – leider vergebens. Unzuverlässige Erzählerinnen und Erzähler sind ein großartiger Kunstgriff in der Literatur, allerdings funktionieren sie bei mir nur, wenn das Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge eine befriedigende Auflösung erfährt.

Trotz aller Kritik habe ich Arctic Mirage zumindest in den ersten beiden Dritteln nicht ungern gelesen. Mit etwas weniger „Mirage“, also Fata Morgana, und etwas mehr Lappland-Flair wäre für mich jedoch mehr drin gewesen.

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel

  Der schwere Weg zurück 

Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1996 gab es in Kanada sogenannte Residential Schools, in denen Kindern der First Nations unermessliches Leid und Unrecht widerfuhr. Diese staatlich lizensierten Internate für indigene Kinder standen unter kirchlicher, oftmals katholischer Leitung. Ziel war nicht primär Bildung, sondern die Zerstörung des indigenen Erbes sowie Ausrottung der Stammes-Sprachen und Religion, was einem kulturellen Völkermord gleichkam. Ihren Eltern meist gewaltsam entrissen, wurden die Kinder körperlich misshandelt, zur Arbeit gezwungen und häufig auch sexuell missbraucht. Viele starben an Krankheiten, Verletzungen oder durch Suizid. Wer die Schulzeit überlebte, litt oder leidet bis heute unter den menschenverachtenden Erfahrungen mit der häufigen Folge von Suchterkrankungen und gibt das Trauma nicht selten an die eigenen Kinder weiter, so geschehen beim kanadischen Roman- und Sachbuchautor Richard Wagamese (1955 – 2017) vom Stamm der Ojibwe. Anders als sein Ich-Erzähler Saul Indian Horse in seinem preisgekrönten Roman Indian Horse von 2012, in deutscher Übersetzung von Ingo Herzke als Der gefrorene Himmel 2021 erschienen, war er selbst nie auf einer solchen Schule, biografische Bezüge sind jedoch offensichtlich.

Der Weg in die Hölle
Der Roman beginnt in einer Suchtklinik, wo Saul, anstelle sich im Gesprächskreis zu öffnen, seine Geschichte aufschreibt:

Alles, was ich vom Indianersein wusste, starb im Winter 1961, als ich acht Jahre alt war. (S. 17)

Als ihn seine Großmutter nicht mehr schützen kann, landet Saul – wie zuvor seine älteren Geschwister – in einer Residential School:

St. Jerome’s war die Hölle auf Erden. (S. 90)

Saul überlebt, indem er sich zurückzieht. Erst als der neue Pater Leboutilier das Eishockeyspiel mitbringt, findet Saul einen anderen Ausweg aus seinen Qualen:

Wenn ich auf dem Eis war, ließ ich all das hinter mir. (S. 95)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Blessing

Aufstieg und Fall
Der Sport ebnet dem Ausnahmetalent den Weg aus der Hölle. In Manitouwadge, Ontario, findet er ein neues Zuhause bei der verständnisvollen Ojibwe-Familie Kelly und eine herzliche Aufnahme im indigenen Eishockeyteam The Moose, wo er in den Spielen gegen andere Indianerteams zum Star aufsteigt. Zum ersten Mal fühlt sich Saul wieder zuhause. Doch als sie gegen weiße Teams antreten, Saul gar später bei einer weißen Profi-Mannschaft anheuert und damit eine Grenze in diesem vermeintlich weißen kanadischen Nationalsport überschreitet, schlagen ihm blanker Hass und Rassismus entgegen. Obwohl er sich lange dagegen wehrt, erfüllt er in seiner Wut schließlich genau die stereotypen Erwartungen vom „Wilden“ und sein Eishockey-Traum platzt. Eine Abwärtsspirale setzt sich in Gang und mündet endlich in der Entzugsklinik. Nun muss Saul sich seiner verdrängten Vergangenheit und der ungeheuerlichen Wahrheit stellen:

Ich brauchte das Hockey, um mich selbst vor der Erkenntnis der Wahrheit zu schützen, davor, ihr täglich ins Auge schauen zu müssen. (S. 216)

Sein Weg zur Heilung führt zurück in die Vergangenheit.

Ein großartiger Erzähler
Der gefrorene Himmel ist ein ebenso bedrückend realistischer wie schockierender Roman, den ich mit angehaltenem Atem gelesen habe. Ob es um das traditionelle Leben der First Nations, die atemberaubende Natur Nord-Kanadas, die Qualen im Internat, die Faszination des Eishockeyspiels oder den Weg zur Heilung geht, immer ist Saul ein ebenso glaubwürdiger wie einnehmender, präziser wie emotional zurückhaltender Erzähler. Die kurzen Kapitel treiben die Handlung voran und drängen zum Weiterlesen.

Ein großartiges, erhellendes Leseerlebnis, ergänzt durch ein ausgezeichnetes Nachwort der Amerikanistik-Professorin Katja Sarkowsky.

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel. Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing 2021
www.penguin.de/Verlag/Blessing

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Richard Wagamese auf diesem Blog:

Eva Björg Ægisdóttir: Verborgen

  Die Kripo Akranes ermittelt wieder

Zwei Leichen in einer Woche, das ist ja unerhört. Was ist hier in Akranes eigentlich los? (S. 156)

Zwei Jahre arbeitet die 34-jährige Ermittlerin Elma inzwischen bei der Kripo Akranes, einem Küstenstädtchen mit rund 8000 Einwohnern nördlich von Reykjavík. Die Trauer und Wut, die sie nach dem Selbstmord ihres Partners Davið zurück in ihren Heimatort geführt haben, sind ebenso verblasst wie die Zweifel über die Richtigkeit dieser Entscheidung. Nicht zuletzt hat dazu ihr Kollege Sævar beigetragen, mit dem sie das letzte Weihnachtsfest auf Teneriffa verbracht hat.

Zwei Leichen – ein Fall?
Anders als zunächst vermutet, hat es Elma auch in Akranes keinesfalls nur mit Verkehrsdelikten und Einbrüchen zu tun. Nach einem Leichenfund am alten Leuchtturm von Akranes in Band eins und einem weiteren im Lavafeld bei Grábrók im zweiten Band beginnt der dritte gemeinsame Fall mit der Brandstiftung in einer Villa im September 2019. Am Unglücksort findet die Polizei die Leiche des unauffälligen jungen Informatikstudenten Marinó, der in seinem Bett verbrannte. Kurze Zeit später entdecken die Ermittler im Schuppen der Villa eine weitere Leiche, die bereits einige Tage vorher dort versteckt wurde. Hängen die beiden Fälle zusammen, und wenn ja, wie? Wurden die beiden Morde von derselben Person begangen oder gibt es mehrere Täter bzw. Täterinnen? Und welches Motiv oder welche Motive stecken dahinter?

Collage: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Von Februar bis November 2019
Der erste Teil von Verborgen ist in acht Kapitel unterteilt, in denen wir dem Geschehen – beginnend mit „In der Nacht davor“ – acht Tage lang folgen. In Teil zwei werden die acht weiteren Ermittlungstage unterbrochen durch Rückblenden in die Monate vor den Taten,  mit genauen Zeitangaben überschrieben und kursiv gedruckt. Drei abschließende Kapitel handeln von den beiden Monaten nach Abschluss der Ermittlungen, die weitere Überraschungen bereithalten.

Spannend, aber kaum Islandflair
Wie schon die beiden Vorgängerbände Verschwiegen und Verlogen hat mich Verborgen als ansprechend geschriebener, spannender Krimi gut unterhalten, sowohl bezüglich der komplexen Krimihandlung und der Ermittlungsarbeit, bei der Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht, als auch in Bezug auf das Privatleben des Ermittlerteams. Hier liegen Trauer und Freude dicht beieinander und stehen die Zeichen auf Veränderung, so dass ich auf die Fortsetzung sehr gespannt bin. Gefallen hat mir auch das Motiv Mutterschaft, das die 1988 geborene Isländerin Eva Björg Ægisdóttir, selbst dreifache Mutter, gekonnt variiert. Psychologisch interessant ist der Blick in unterschiedliche Familien und Paarbeziehungen mit teilweise erschreckender Kälte. Die dritte Säule dieser Krimireihe habe ich dieses Mal allerdings schmerzlich vermisst: Im Gegensatz zu den anderen Bänden gibt es wenig Lokalkolorit, man erfährt fast nichts über Island, weder geografisch noch kulturell, und braucht auch die sonst sehr nützlichen Landkarten in den Buchdeckeln nicht.

Insgesamt kommt Verborgen für mich nicht ganz an die Vorgängerbände heran, aus der Hand legen konnte ich das Buch trotzdem nicht. Ich freue ich mich schon jetzt auf die Fortsetzung.

Eva Björg Ægisdóttir: Verborgen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted.     Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Krimis von Eva Björg Ægisdóttir auf diesem Blog:

Bd. 1
Bd. 2

Claire Keegan: Das dritte Licht

  Was sein könnte

 

Nur knapp 100 großzügig bedruckte Seiten umfasst die Erzählung Das dritte Licht der 1968 geborenen Irin Claire Keegan. Die Geschichte erschien erstmals 2009 mit dem Originaltitel Foster (Pflege“) und 2013 im Steidl Verlag auf Deutsch. Das wunderschöne leinengebundene Hardcover der überarbeiteten Ausgabe von 2023 zeigt das Bild eines Mädchens, das exakt meiner Vorstellung von der etwa sieben- bis achtjährigen Protagonistin entspricht.

Zu viele hungrige Mäuler
Die namenlose Ich-Erzählerin wächst in einer armen, kinderreichen Familie im ländlichen Irland auf. Es sind die frühen 1980er-Jahre, in Nordirland sterben IRA-Häftlinge durch Hungerstreik. Der Vater spielt und trinkt, die Mutter ist erneut schwanger und man möchte sich über den Sommer eines Essers entledigen. Kurzerhand liefert der Vater die Tochter bei ihr unbekannten Verwandten an der Ostküste ab.

Ein Empfang mit offenen Armen
Die Trauerweiden vor dem Bauernhaus könnten ein schlechtes Omen sein, aber die hohen, glänzenden Fensterscheiben, die Wärme, Stille und Sauberkeit der Küche, der Blumenstrauß auf dem Tisch und der Kuchengeruch sprechen eine andere Sprache. Freudig wird sie von den Pflegeeltern begrüßt:

»Sie ist hier willkommen.« (S. 16) 

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Steidl

Zuneigung und Vertrauen
Einen Sommer darf die Ich-Erzählerin beim kinderlosen Ehepaar Kinsella verbringen, die ihr eine nie gekannte Zuneigung, Zärtlichkeit und Wertschätzung entgegenbringen. Zunächst wagt sie nicht, ihrem Glück zu vertrauen:

Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet: dass ich in einem nassen Bett aufwache, etwas falsch mache, mir einen richtig groben Schnitzer leiste, etwas zerbreche, aber jeder Tag ist fast so wie der vorhergehende. (S. 43)

Schmerzlich begreift sie durch die Liebe der Pflegeeltern, woran es in ihrem Zuhause fehlt, wie hier, als der Pflegevater ihre Hand ergreift:

Sobald er sie nimmt, merke ich, dass mein Vater kein einziges Mal meine Hand gehalten hat, und ein Teil von mir will, dass Kinsella mich loslässt, damit dieses Gefühl vergeht. (S. 67)

Hin- und hergerissen fühlt sie sich zwischen Loyalität zu ihrer Herkunftsfamilie und Sehnsucht danach, „dieser Ort ohne Scham und Geheimnisse könnte mein Zuhause sein“ (S. 31). Hier wird sie gebadet, umsorgt, neu eingekleidet, vervollkommnet ihr Lesen, findet neue Wörter und hilft der Pflegemutter im Haushalt. Durch den Dorftratsch erfährt sie vom Geheimnis der Kinsellas, das wie eine schattenhafte Trauer über dem Haus hängt. Einfühlsam erklärt ihr der Pflegevater, wann Schweigen besser als Reden ist.

Ein Schatz im Bücherschrank
Das dritte Licht
ist ein umwerfendes, behutsam erzähltes Buch voller vielsagender Auslassungen. Wenig erfahren wir von der Protagonistin über ihre Entbehrungen, vielmehr erahnen wir sie durch die Dinge, die der genauen Beobachterin bei den Kinsellas auffallen. Die einfache Sprache des Kindes mit den knappen Sätzen im Präsens ist völlig unsentimental, aber gerade deshalb entfaltet die Geschichte eine so elementare Wucht und rührte mich immer wieder zu Tränen.

Ein großes kleines Buch und eine dringende Lese-Empfehlung.

Im November 2023 kam die Verfilmung unter dem Titel The Quiet Girl in die deutschen Kinos. Der Film wurde als erste irisch-sprachige Produktion für einen Oscar nominiert.

Claire Keegan: Das dritte Licht. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl 2023
steidl.de

Iris Wolff: Lichtungen

  Gehen oder bleiben?

Lichtungen der 1977 in Siebenbürgen geborenen, im Banat aufgewachsenen und 1985 nach Süddeutschland übersiedelten Autorin Iris Wolff beginnt mit einer Überraschung: Nicht das erste Kapitel eröffnet das Buch, sondern das letzte, neunte. Ausgangspunkt ist das Jahr 1994, als der Protagonist Leonhard, genannt Lev, seine Freundin Kato nach fünf Jahren der Trennung in Zürich wiedertrifft. Beide sind Ende 30, befreundet seit Kindertagen und haben, wie die meisten Landsleute, die Öffnung der Grenze und das Ende der Ceaușescu-Diktatur in ihrer Heimat Rumänien herbeigesehnt. Während der bodenständige, zögerliche Lev jedoch nach der Revolution von 1989 in der Maramuresch, der waldreichen Region im Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine geblieben ist, hat die mutige, freiheitsliebende Kato die erste Gelegenheit ergriffen und ist mit dem deutschen Fahrradtouristen Tom Richtung Westen geradelt. Als Straßenkünstlerin und mit Gelegenheitsjobs hat sie Europa bereist, Lev regelmäßig Postkarten geschickt, zuletzt mit nur einem Satz:

Wann kommst du? (S. 19)

Noch einmal möchte Lev Kato keinesfalls verlieren.

Von neun nach eins
Im Rückwärtsgang und somit in umgekehrter Reihenfolge der Kapitel, die wie Lichtungen den Blick auf Stationen im Leben von Kato und vor allem Lev freigeben, erzählt Iris Wolff von den prägenden Erfahrungen ihrer Figuren. Oftmals wird nur angedeutet oder bleiben Leerstellen, denn Iris Wolff traut ihren Leserinnen und Lesern erfreulich viel zu. Je mehr die Vergangenheit Schicht um Schicht freigelegt wird, umso mehr versteht man, was Lev und Kato zu dem hat werden lassen, was sie sind:

Jeder Augenblick enthält alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn. (S. 34)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Klett-Cotta

Beide haben schwerwiegende Verluste erlitten, die erst allmählich sichtbar werden. Lev wurde durch ein traumatisches Ereignis im Alter von 11 Jahren ans Bett gefesselt, Fluch und Segen gleichermaßen, da die Zeit der Krankheit zum Ausgangspunkt der Freundschaft mit der Außenseiterin Kato wurde. Anders als seine Freundin, die den Blick in die Welt richtet, sucht er, der eine siebenbürgisch-sächsische Mutter, einen früh verstorbenen rumänischen Vater und einen als Österreicher geborenen Großvater hat, nach seiner Identität, verweigert jedoch eine eindeutige Zuordnung.

Ein erstes Highlight 2024
Völlig zurecht hat Iris Wolffs fünftes Buch Lichtungen nur kurz nach seinem Erscheinen Platz eins der SWR-Bestenliste Februar 2024 erklommen. Mit seinen Themen und Charakteren hat mich der Roman begeistert: Die spürbare Zuneigung der Autorin zu ihren zahlreichen, durchweg interessanten Figuren überträgt sich fließend, die Ortsbeschreibungen sind detailliert und ebenso atmosphärisch wie das Spiel mit Licht, Geräuschen und Gerüchen, die rumänische Zeitgeschichte prägt das Leben aller spürbar und der bunte Themenstrauß wie Heimat und Zugehörigkeit, Umgang mit Verlust und Trauer, Sehnsucht nach Freiheit und der Wunsch zu bleiben, Freundschaft und Liebe hat mich durchgehend gefesselt. Herausragend ist wie immer Iris Wolffs Sprache, jedes Wort mit Bedacht gesetzt, einerseits messerscharf und klar, andererseits poetisch, bildreich, melodisch und nie kitschig. Absolut genial aber ist die Form des Rückwärtserzählens, weil sie kein aufgesetztes Stilmittel ist, sondern organisch die Aussage des Textes unterstreicht. Sie funktioniert durchgängig perfekt und macht Lust darauf, den Roman ein zweites Mal zu lesen, vielleicht sogar rückwärts.

Lichtungen wäre zweifellos ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreises 2024. Ich jedenfalls drücke die Daumen!

Lesung und Interview am 30.01.2024 im Literaturhaus Stuttgart mit Iris Wolff und SWR-Redakteurin Katharina Borchardt. Fotos: © B. Busch & U. Gmähle. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Klett-Cotta

Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta 2024
www.klett-cotta.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Iris Wolff auf diesem Blog:

Per Petterson: Im Kielwasser

  Am Boden

Am 7. April 1990 geriet die Fähre Scandinavian Star zwischen Oslo und dem dänischen Fredrikshavn in Brand. 159 Menschen, ausschließlich Passagiere, verloren ihr Leben, darunter die Eltern und der jüngere Bruder des 1952 geborenen norwegischen Schriftstellers Per Petterson. Sein 2000 auf Norwegisch, 2007 in der hervorragenden Übersetzung von Ina Kronenberger auf Deutsch erschienener Roman, in dem eingefleischte Petterson-Fans den Helden Arvid Jansen wiedertreffen, spielt Im Kielwasser dieser Tragödie: Auch der Protagonist Arvid verlor bei dem Unglück seine Eltern, dazu gleich zwei jüngere Brüder.

Sechs Jahre später, im März 1996, ist Arvid ganz unten angekommen:

Seit langem schon befinde ich mich auf dem Weg dahin, doch jetzt bin ich angekommen. Am Boden. (S. 19)

Geschieden, nahezu ohne Kontakt zu seinen Töchtern, randaliert Arvid betrunken, schmutzig und mit gebrochenen Rippen vor der Buchhandlung im Zentrum von Oslo, in der er seit drei Jahren nicht mehr arbeitet. Das Manuskript, an dem der Schriftsteller arbeitet, liegt unter einer Staubschicht begraben, die kurz vor dem Unglück begonnene Karriere ist zum Erliegen gekommen. Die frühere Nähe zu seinem drei Jahre älteren Bruder ging verloren. Jetzt liegt der Bruder nach einem Suizidversuch im Krankenhaus, auch er kurz vor der Scheidung:

»Du hattest dir wohl vorgenommen, mich allein zurückzulassen?«
[…]
»Du bist nicht genug«, sagt er. (S. 135 u. 136)

Unerträgliche Trauer
Im Kielwasser
spielt während weniger Wochen im Frühjahr 1996 und zeigt einen trauernden, desillusionierten, mutlosen Menschen, der ähnlich dem Helden in Hunger von Knut Hamsun ziellos durch Oslo und die Umgebung irrt, genauso allein, jedoch mit einer Bleibe. Durchzogen ist der Roman von Erinnerungen an den Vater, zu dem Arvid nie Zugang fand und den er, wie er nun erkennt, vielleicht falsch beurteilte. So treibt er nicht nur Im Kielwasser des Unglücks, sondern auch des verstorbenen Vaters:

»Mein Vater ist tot.« […] Aber das Merkwürdige ist, daß ich sechs Jahre gebraucht habe, um zu begreifen, daß es unerträglich ist. (S. 173)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Fischer

Zwei skandinavische Autoren, ein ähnliches Thema
Für den mit autobiografischen Anklängen erzählten Roman Im Kielwasser erhielt der vielfach ausgezeichnete Per Petterson 2000 den renommiertesten norwegischen Literaturpreis, den Brageprisen. Erinnert hat mich das Buch immer wieder an den noch nicht ins Deutsche übersetzten autobiografischen Roman Skynda att älska des Schweden Alex Schulman, der sich fünf Jahre nach dem – allerdings natürlichen – Tod seines Vater emotional in einer ähnlichen Lage befand. Auch bei ihm ging die enge Bindung an die Brüder verloren. Beide Bücher lassen am Ende glücklicherweise Hoffnung auf Trost und Genesung.

Nicht leicht zugänglich
Im Gegensatz zu Per Pettersons für mich alles überragenden Roman Pferde stehlen habe ich bei Im Kielwasser einige Zeit gebraucht, um mich auf die ruhige Erzählweise, den rauen, bisweilen von schwarzem Humor durchzogenen Ton und den kaum vorhandenen Plot einzulassen. Einmal geschafft, entfalten die nur knapp 190 Seiten allerdings eine unerwartete Wucht und brennen sich als Zeugnis der Trauer, des Kontrollverlusts und der Erinnerung ins Gedächtnis ein.

Per Petterson: Im Kielwasser. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Fischer 2010
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Per Petterson auf diesem Blog:

Bernhard Schlink: Das späte Leben

  Gezählte Tage

Eilte es jetzt, oder kam es jetzt nicht mehr darauf an? (S. 9)

Was, wenn der Gedanke an den eigenen Tod plötzlich konkret wird und die Tage gezählt sind? Maximal sechs Monate gibt der Hausarzt dem 76-jährigen Martin Brehm mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Was tun mit den verbleibenden „guten“ Wochen, die der emeritierte Juraprofessor nüchtern auf zwölf schätzt?

Seine über 30 Jahre jüngere Frau Ulla, eine bildende Künstlerin, nimmt die Nachricht erstaunlich nüchtern auf, für die Arztbesuche ihres Mannes scheint sie sich nie interessiert zu haben. Nach einem Augenblick der Empathie kehrt sie zu praktischen Überlegungen zurück:

Wenn du willst, gehe ich in den nächsten Wochen nicht mehr ins Atelier und in die Galerie. Ich kann mich auch um den Kindergarten kümmern, David hinbringen und abholen, und um alles andere. (S. 26)

Keine Krankengeschichte
Die Einschulung des sechsjährigen Sohns David wird Martin höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Eine Chemo- oder gar experimentelle Therapie lehnt er ab, beschränkt sich auf Hausarztbesuche. Überhaupt wird der Krankheitsverlauf nahezu komplett ausgeblendet, was einerseits erfreulich, andererseits unrealistisch und bei der Tumorschmerztherapie mit Ibuprofen geradezu abenteuerlich ist.

Ein Brief als Vermächtnis
Auf Ullas Vorschlag beginnt Martin einen Brief als Vermächtnis an den Sohn, ähnlich wie in Das Orangenmädchen von Jostein Gaarder, einem meiner Lieblingsromane. Aber welch ein Unterschied! Während der leukämiekranke junge Vater dort seinem Sohn eine äußerst berührende Liebesgeschichte und einen bunten Strauß philosophischer Anregungen hinterlässt, die elf Jahre später den dann 15-Jährigen ins Herz treffen, schreibt Martin, wie er selbst erkennt, eher für sich. Seine Überlegungen zu Gerechtigkeit, Liebe, Religion, Arbeit und Tod sind oft Binsenweisheiten und sollen David auf die Linie des Vaters einschwören, anstatt ihn zu einem selbstständig denkenden Menschen zu machen. Gemeinsame Unternehmungen, als Erinnerungen für David gedacht, muten mit einer stundenlangen Wanderung des Todkranken, während der „Das Wandern ist des Müllers Lust“ gesungen wird, und dem Anlegen eines Komposthaufens seltsam altbacken und unrealistisch an. Ulla, die schwächste, für mich am wenigsten glaubhafte Figur, kritisiert denn auch Martins Einflussnahme auf die Zukunft des Sohnes, vergnügt sich jedoch mit ihrem Liebhaber, anstatt sich um ihre Familie zu kümmern. David ist deshalb für mich die wirklich tragische Figur: aufwachsend in einem Haushalt, in dem es nicht einmal einen Zeichenblock und Stifte gibt, alleingelassen mit Andeutungen von einem überforderten, viel zu alten und verkopften Vater und einer desinteressierten Mutter. Überhaupt ist in dieser Familie Kommunikation ein Fremdwort, nur der Sex klappt noch zu einer Zeit, als Martin längst starke Schmerzen hat.

Das Beste kommt zum Schluss
Teilweise versöhnt hat mich der berührendere dritte und letzte Teil dieses Romans über die letzten neun „guten“ Wochen, in dem die durchgängig kurzen Kapitel als Zeitraffer fungieren. Als Martin die Verantwortung für Ullas und Davids Zukunftsgestaltung loslassen kann, verbringt die Familie entspannte, fast glückliche Tage am Meer:

Nur die Welt kam ihm abhanden. […] Aber vielleicht kommt nicht die Welt mir abhanden, dachte er, sondern ich bin es, der sich von der Welt verabschiedet. (S. 198/199)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Diogenes

Insgesamt hat mich Das späte Leben, der elfte Roman des 1944 geborenen Bernhard Schlink, mit seiner einfachen Sprache, unzeitgemäßer Wortwahl – wie „Kindergärtnerin“ anstatt „Erzieherin“ –, sachlichen Ungereimtheiten, einer aufdringlichen Konstruktion und schematischer Figurenzeichnung leider nicht dem fesselnden Thema angemessen erreicht. Dabei ist die Problematik abwesender Väter in unterschiedlicher Spielart gut eingeflochten. Ins Grübeln über eigenes Verhalten im Falle einer todbringenden Diagnose hat er mich trotzdem gebracht.

Bernhard Schlink: Das späte Leben. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

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