Jon Fosse: Das ist Alise

   23 Jahre und kein Ende

In einem abgelegenen alten Haus oberhalb eines westnorwegischen Fjords liegt im März 2002 die alte Signe grübelnd auf einer Bank in ihrer Stube. Ihre Gedanken kreisen um eine Katastrophe, die sich vor 23 Jahren ereignete. An einem Dienstag Ende November 1979 fuhr ihr Mann Asle bei Sturm, Regen, Kälte und Dunkelheit wie an jedem Tag mit seinem geliebten kleinen Holzruderboot auf den Fjord hinaus und verschwand. Nur die leere Jolle kam zurück.

Von ihrer Bank aus sieht Signe sich selbst am Fenster stehen, wie sie auf den Fjord und das Bootshaus hinunterstarrte und gleich Tausenden Frauen vor ihr auf ihren Mann wartete. Sie beobachtet noch einmal Asle, der angesichts des schlechten Wetters zögerte und doch der Anziehungskraft des Wassers erlag, blickt auf ihr gemeinsames Leben zurück, hört ihr letztes Gespräch und sieht ihn zum letzten Mal das Haus verlassen.

Übergangslos wechselt die Perspektive und gleitet von Signes zu Asles Gedanken und wieder zurück. Das Rätsel um seine Beweggründe für seinen riskanten Ausflug und sein Verschwinden kann Signe nicht lösen, der Verlust dominiert ihr Leben:

[…] es tut immer noch so weh, denkt sie, nein, sie will nicht mehr daran denken, denkt sie, er ist fort, er kommt nie wieder […] (S. 66)

Jon Fosse: Das ist Alice. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Erinnerungen und Visionen
Nicht nur die Erinnerungen an ihren geliebten Asle suchen Signe heim, sondern auch Visionen von vier Generationen seiner Familie, die das alte Haus vorher bewohnten. Wendepunkte ihres Lebens entfalten sich vor Signes Augen, Menschen aus verschiedenen Zeiten bewegen sich gleichzeitig oder nacheinander durch ihr Haus und ihre Stube. Da ist die Ururgroßmutter von Asle, Alise, die ihren Sohn Kristoffer nur knapp vor dem Ertrinken im Fjord rettete, während Brita, Kristoffers Frau, am 17. November 1897 ihren Sohn, auch er mit Namen Asle, an seinem siebten Geburtstag nur noch tot aus dem Fjord bergen konnte. Die Szene, in der Brita ihr totes Kind zum Haus hochträgt, ist eine der bewegendsten und herzzerreißendsten der Novelle.

Obwohl es in der Gegenwart kaum Handlung gibt, erfahren wir doch auf nur 116 luftig bedruckten Seiten rückwirkend entscheidende Puzzlesteine einer Familiengeschichte über fünf Generationen. Wie der verschwundene Asle ist auch der Autor Jon Fosse kein Freund großer Worte, dafür umso mehr Meister innerer Monologe und der außergewöhnlichen Form. Ohne Punkte, Absätze oder Kapitel und in minimalistischer Sprache erzählt er eine dichte, melancholisch-düstere, bisweilen mystische Geschichte über unbewältigte Trauer, Verlust, Einsamkeit und Sehnsucht, die in wiederkehrenden Feuern aufleuchtet.

Hinrich Schmidt-Henkel auf der Leipziger Buchmesse 2025. © B. Busch

Keine Angst vor Jon Fosse!
Das ist Alise
aus dem Jahr 2003 ist das erste Buch, das ich vom 1959 in Haugesund an der norwegischen Westküste geborenen Dramatiker, Lyriker, Essayisten, Prosaautor und Literaturnobelpreisträger des Jahres 2023 Jon Fosse gelesen habe. Seit der Preisverleihung „für seine innovativen Theaterstücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme verleihen“ als vierter Norweger nach Bjørnstjerne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920) und Sigrid Undset (1928) bin ich um seine Bücher herumgeschlichen und habe die Herausforderung von Form und Inhalt gescheut. Dabei ist Das ist Alise, das der Literaturkritiker Denis Scheck als Einstieg in sein Werk empfiehlt, keineswegs schwer zu lesen, wenn man die innere Hürde überwindet, sich Zeit nimmt und von der Erzählweise tragen lässt wie von den Wellen über den Fjord. Sobald man sich dem Stil und der von Hinrich Schmidt-Henkel fantastisch ins Deutsche übersetzten sanften, gesangartigen Sprache hingibt, entfaltet die Novelle eine mitreißende, geradezu hypnotische Wirkung und beschert ein garantiert einmaliges Leseerlebnis.

Jon Fosse: Das ist Alise. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. mare 2023
www.mare.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Literaturnobelpreisträgerinnen und -preisträgern auf diesem Blog:

1909
1920
1926
1932
1954
1993
2017

 

 

2021

Yulia Marfutova: Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel

  Familiengeschichte aus Mäuseperspektive

 

Geschwiegen wird von jeher viel in der jüdisch-russischen Familie im Roman Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel. Es ist das zweite Buch der 1988 in Moskau geborenen Autorin Yulia Marfutova, die in Deutschland studierte und promovierte und inzwischen in Boston lebt. Wie das Schweigen der Vorfahren auf die nachgeborene Generation wirkt, beschreibt sie so:

„…was die eine Generation beschweigt, wird der nächsten als dröhnende Stille vererbt.“ (S. 86)

Zwischen Privileg und Bürde
In die Köpfe der drei 17, 16 und 10 Jahre alten Mädchen, die weder die russische Heimat ihrer Mutter und Großmutter noch deren Geschichte kennen, „ragt eine Zeit hinein, die nicht die unsere ist“ (S. 127). Ihre Stellung als Nachgeborene empfinden sie als „Privileg und Bürde zugleich“ (S. 101).

Weil sie ihre Großmutter Nina nie kennengelernt haben und ihre Mutter Marina ihnen vorenthält, was belastend für sie sein könnte, obwohl „deren Geschichte unsere ist, ob sie es will oder nicht. Ob wir es wollen oder nicht.“ (S. 117), sind sie auf andere Quellen angewiesen. Wer könnte mehr wissen als die vorwitzigen, redseligen, von sich selbst überzeugten, sich allwissend gebenden Mäuse, die der Mutter im Flugzeug nach Deutschland folgten?

Alle Familiengeschichten sind Mäusegeschichten. Wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen? (S. 97)

Yulia Marfutova: Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel. Foto: © B. Busch. Cover: © Rowohlt.

In den Berichten der Mäuse lernen die Töchter ihre sprachlose Mutter völlig neu kennen, die in einer Moskauer Plattenbausiedlung bei ihrer alleinerziehenden Mutter, einer Ingenieurin mit hellseherischen Fähigkeiten, aufwuchs. Als Jugendliche erlebte sie Ende der 1980er-Jahre den politischen Umbruch und die Massenauswanderung. Bald träumte sie selbst vom Westen und war schließlich wildentschlossen, jede noch so kleine sich bietende Chance auf ein anderes Leben fern ihrer Heimat zu ergreifen.

Puzzlesteine und Andeutungen
Yulia Marfutova erzählt die Geschichte der Frauen überaus originell und experimentell. Einerseits hat mir diese knappe Erzählweise aus Puzzlesteinen der mal mehr, mal weniger vertrauenswürdigen Mäuse gut gefallen, andererseits verstellte mir der kunstvolle Aufbau bisweilen den Blick auf den Inhalt, so abgelenkt war ich von der Verpackung. Hilfreich ist Vorwissen zur Geschichte der Sowjetunion, da die arroganten Mäuse es häufig bei Andeutungen belassen.

Besonders beeindruckend sind die Abschnitte, die das von Generation zu Generation vererbte Schweigen und seine Folgen zeigen. Bereits die Großmutter Nina wuchs mit der Sprachlosigkeit ihrer aus der Ukraine stammenden Eltern zur deutschen Besatzung und zum Holodomor auf. Ihr Jiddischsein legte die Familie beim Umzug nach Moskau ab. Wie nebenbei schildert Yulia Marfutova die Abschwächung des Hungertraumas über die nachfolgenden Generationen: Während Nina die Fettaugen auf der Suppe noch liebte, aß ihre Tochter Marina sie stoisch. Ninas Enkelinnen empfinden Scham darüber, dass sie sie zurückweisen würden.

Ein lesenswerter, äußerst innovativ geschriebener kurzer Roman über Heimat und Herkunft, generationenübergreifende staatliche Verfolgung, politische Umbrüche, innerfamiliäre Sprachlosigkeit und vererbte Traumata.

Yulia Marfutova: Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel. Rowohlt 2025
www.rowohlt.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Yulia Marfutova auf diesem Blog:

Elisabeth Gaskell: Norden und Süden

   Geschlechterrollen und Klassenkonflikte im viktorianischen Zeitalter

Als Fan der werkgetreuen BBC-Klassikerverfilmungen bin ich vor einigen Jahren auf den Namen der britischen Schriftstellerin Elisabeth Gaskell (1810 – 1865) gestoßen. Ich war sofort begeistert von Frauen und Töchter (1999), mehr noch von North & South (2004) mit Richard Armitage und Daniela Denby-Ashe und von Cranford (2007) bzw. Rückkehr nach Cranford (2009) mit Judy Dench. Sämtliche zugrundeliegenden Bücher erschienen zunächst als Fortsetzungsromane in Zeitschriften. Norden und Süden, ihr erster größerer Publikumserfolg, wurde 1854 und 1855 in der Wochenzeitschrift Household Words von Charles Dickens (1812 – 1870) abgedruckt und 1855 für die Buchfassung überarbeitet. Mit dem Herausgeber war Elisabeth Gaskell, die heute als eine der Hauptvertreterinnen des viktorianischen Romans gilt, ebenso befreundet wie mit Charlotte Brontë (1816 – 1855), deren Biografie sie verfasste.

Ein Kulturschock
Als Ehefrau eines unitarischen Pfarrers in Manchester erlebte Elisabeth Gaskell die Schattenseiten der Urbanisierung und Frühindustrialisierung, die sie in Norden und Süden einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führte, hautnah. Das Buch ist Industrie-, Gesellschafts-, Entwicklungs- und Liebesroman gleichermaßen.

Margaret Hale, die knapp 20-jährige Protagonistin, die von ihrer vermögenden Tante in London erzogen wurde, kehrt nach der Heirat ihrer Cousine zu ihren Eltern ins ärmliche Pfarrhaus von Helstone zurück, einem fiktiven Dörfchen im Süden Englands. Nur kurz kann sie die geliebte verschlafene Idylle aus rosen- und geißblattumrankten Cottages und Natur genießen, weil ihr Vater wegen einer Gewissenskrise mit der anglikanischen Kirche bricht und als Privatlehrer ins ebenfalls fiktive Milton geht, einer schmutzigen, hässlichen und lauten aufstrebenden Industriestadt im Norden. Der neue Ort, unbekannte gesellschaftliche Umgangsformen, ein neuer Menschenschlag und ein ungewohnter Dialekt, in der sonst sehr guten Neuübersetzung von Gerlinde Völker in schwer zu lesender Ruhrpott-Mundart wiedergegeben, sind ein Schock für Margaret und ihre Mutter. Die Baumwoll-Fabrikanten verachtet Margaret als „Händler“ und Vertreter eines seelenlosen Kapitalismus. Da sie für ihre schwachen Eltern Stärke und Haltung zeigen muss, gilt sie schnell als hochmütig. Auch der Lieblingsschüler ihres Vaters, der schüchterne junge Fabrikant und Aufsteiger John Thornton, hält die abweisende Margaret für kühl und stolz, doch seine Neugier ist geweckt.

Durch die Bekanntschaft mit dem Gewerkschaftler Nicholas Higgins und seiner durch die Arbeit mit roher Baumwolle tödlich erkrankten Tochter Bessy erhält Margaret Einblicke in die verzweifelte Lage der Fabrikarbeiter. Kurz darauf kommt es zum Streik und zum Aufstand gegen die Fabrikbesitzer – und plötzlich sind sowohl Margaret als auch John Thornton mittendrin.

Ob es in der komplexen, geschickt verwobenen Geschichte nach vielen Wendungen, schmerzhaften Schicksalsschlägen und Missverständnissen zum Happy End kommt, wird hier natürlich nicht verraten.

Elisabeth Gaskell: Norden und Süden. Foto der Autorin: gemeinfrei. Gesamtfoto: © B. Busch. DVD-Cover: © BBC. Buchcover: © Reclam.

Unvergessliche Figuren
Elisabeth Gaskell ist eine Meisterin der Dialoge und Dispute, die sie Margaret Hale, John Thornton, Nicholas Higgins und den zahlreichen Nebenfiguren in den Mund legt. Statt in den politischen, sozialen oder gesellschaftlichen Konflikten Partei zu ergreifen, setzt sie auf die Utopie eines gedeihlichen Miteinanders.

Die liebenswürdige, charakterstarke und fürsorgliche Margaret Hale ist mit ihrer entflammenden Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit, ihrem wachsenden Freiheitsdrang und ihrer Fähigkeit, Vorurteile zu revidieren, eine unvergessliche literarische Heldin, genauso wie John Thornton, der im Laufe der Geschichte ebenfalls eine Wandlung durchläuft. Feministische Aspekte, die sich in Margarets Spott bezüglich übertriebener Hochzeitsvorbereitungen ihrer Cousine oder ihrem wachsenden Unabhängigkeitsstreben zeigen, machen den Roman abseits von Häubchen, Erröten und Erblassen überraschend modern.

Obwohl ich das Ende kannte, haben mich die gut 600 dicht bedruckten Seiten ausgezeichnet unterhalten. Mit einem zufriedenen Lächeln habe ich diesen leider zu wenig bekannten Klassiker über Geschlechterrollen und Klassenkonflikte im viktorianischen Zeitalter zugeklappt.

Elisabeth Gaskell: Norden und Süden. Aus dem Englischen von Gerlinde Völker. Mit einem Nachwort von Angelika Zirker. Reclam 2025
www.reclam.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Elisabeth Gaskell auf diesem Blog:

Ian McEwan: Was wir wissen können

  Sein und Schein

Der 1948 geborene britische Autor Ian McEwan blickt in seinem Roman Was wir wissen können weit in die Zukunft: ins Jahr 2119. Es ist kein hoffnungsvolles Bild, das er im ersten Teil wie nebenbei einflicht. Aufgrund eines Tsunamis 2042 durch eine fehlgeleitete russische Interkontinentalrakete wurde Großbritannien zum Archipel, alle wissenschaftlichen Einrichtungen liegen auf Hügeln, Städte wie Glasgow oder New York verschwanden. Deutschland wurde dem russischen Großreich einverleibt, in Amerika herrschen Warlords und Nigeria ist die führende IT-Nation. Die Menschheit schrumpfte durch begrenzte, KI-ausgelöste Atomkriege, Hungersnöte und Pandemien von neun auf vier Milliarden mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 62 Jahren und drei Viertel der Arten sind ausgestorben. Unter diesen veränderten Bedingungen, mit denen die Welt von 100 Jahren zuvor paradiesisch anmutet, hat sich ein stabiles Gleichgewicht eingestellt:

In unserer Zeit sind wir daran gewöhnt, dass sich über Generationen hinweg nicht viel ändert. (S. 165)

Ian McEwan: Was wir wissen können. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Diogenes.

Ein verschollener Sonettenkranz
Einer von denen, die gelassen mit den veränderten Lebensbedingungen umgehen, ist der Literaturwissenschaftler Tom Metcalfe. Sein Spezialgebiet ist die englische Literatur von 1990 bis 2030, seine Obsession ein verschollener Sonettenkranz des Dichters Francis Blundy (1950 – 2017), den dieser 2014 während eines legendären Abendessens zum 54. Geburtstag seiner Frau Vivien im Freundeskreis vortrug. Obwohl das Reisen zum Archiv mit dem Nachlass von Francis Blundy und den Tagebüchern von Vivien beschwerlich ist, trägt Tom immer mehr Material über das geheimnisvolle Gedicht zusammen, bis ihn die Last seiner Quellen fast erdrückt. Aufgrund Abertausender digitaler Nachrichten von Francis und Vivien Blundy, Surfgewohnheiten, Tagebüchern, Briefen und anderer Dokumente glaubt sich Tom befähigt, Lücken mit fundiert begründeten Annahmen zu füllen. Doch der Inhalt des Sonettenkranzes selbst bleibt ein Nährboden für Spekulationen:

Es ging nicht mehr allein um ein verschollenes, nach dem Abendessen vorgetragenes Gedicht, sondern um das, was aus diesem Gedicht dank seiner Nichtexistenz geworden war: ein Reservoir an Träumen, überbeanspruchte Nostalgie, nutzlose retrospektive Wut und Brennpunkt haltloser Verehrung. (S. 24)

Perspektivwechsel
Im 2. Teil des Romans wechselt die Ich-Perspektive von Tom Metcalfe zu Vivien und ihrer 2020 verfassten schriftlichen Beichte, die in überraschendem Kontrast zu ihren Tagebüchern steht:

Fast unmerklich wurden meine Tagebucheinträge zum Bericht meines besseren Selbst. Ich hätte es abgestritten, aber mit der Zeit hörten die Einträge auf, privat zu sein. Ich hatte einen Leser im Sinn. (S. 371)

Einen Leser wie den gutgläubigen, ein wenig in sie verliebten Nostalgiker Tom…

Wahrheit und Lüge, Schuld und Moral
Der Romantitel ist doppeldeutig: Was hätte man 2014 über zukünftige Katastrophen wissen können und auf welche Quellen ist Verlass, eine Frage, die angesichts zunehmender Bedeutung von KI immer drängender wird. Das raffinierte Spiel um Wahrheit und Lüge, Schuld und Moral, stand für mich daher im Mittelpunkt, garniert mit bisweilen satirisch angehauchten Elementen aus den Genres Krimi, Dystopie, Climate Fiction, Campus- und Eheroman, gewohnt brillant geschrieben und von Bernhard Robben hervorragend übersetzt.

Was wir wissen können ist ein Roman, der für mich mit dem Abstand einiger Tage immer mehr gewinnt, nachdem ich mich im ersten Teil streckenweise langweilte, einerseits, weil ich kein Fan von Science-Fiction-Szenarien bin, andererseits wegen thematischer und personeller Überfrachtung. Viel zu viele interessante Themen werden in unbefriedigender Kürze angerissen und geniale Ideen stehen in scharfem Kontrast zu langatmigen Details. Teil zwei war dann zwar weniger originell, dafür aber flüssiger zu lesen und überraschender in seinen Wendungen. Die kluge Gesamtkonstruktion versteht man erst auf den letzten der 462 Seiten und begreift spätestens dann, dass sich das Durchhalten unbedingt gelohnt hat.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes 2025
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Ian McEwan auf diesem Blog:
      Ian McEwan

Christoph Poschenrieder: Fräulein Hedwig

   Wider das Vergessen

Vor der Berliner Philharmonie, unweit des Potsdamer Platzes, erinnert das Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde an die mindestens 300.000 Patientinnen und Patienten, die während der NS-Zeit in Heil- und Pflegeanstalten ermordet wurden. Für einige von ihnen wurden Stolpersteine vor ihren ehemaligen Wohnhäusern verlegt, nicht so für die Großtante des 1964 geborenen Journalisten und Autors Christoph Poschenrieder. Um den Namen von Hedwig Poschenrieder und ihre Geschichte dennoch weiterleben zu lassen, setzt er ihr mit dem biografischen Roman Fräulein Hedwig ein literarisches Denkmal. Und es gibt noch einen zweiten, persönlichen Grund:

Du schleppst die Geschichte und die Gegenwart deiner Vorfahren mit. Ob du willst oder nicht. (S. 15)

Warum Fräulein Hedwig ein biografischer Roman, keine Biografie geworden ist, erklärt Christoph Poschenrieder so:

In diesem Buch steht einiges Erfundenes; es ist der Kitt, der die sogenannten Fakten zusammenhält und manch gewagte Konstruktion stabilisiert. Denn trotz aller Recherche bleiben große Lücken im Lebenslauf der Hedwig Poschenrieder. Soll sie ruhig ihre Geheimnisse behalten. (S. 325/326)

Christoph Poschenrieder: Fräulein Hedwig. Foto: © M. Busch. Collage u. fiktiver Stolperstein: © B. Busch. Cover: © Diogenes.

Tod des Vaters als Bruch
Hedwig Poschenrieder wurde 1884 als ältestes von vier Kindern eines Studienrates und einer ehemaligen Lehrerin und Gouvernante geboren. Sie erbte das musikalische Talent ihrer Mutter und hätte das Klavier und den Gesang gerne zu ihrem Beruf erkoren, doch machten der frühe Tod des Vaters und die mütterliche Konzentration auf die Ausbildung der Söhne alle Ambitionen Hedwigs und ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester Marie zunichte. Die vernünftige, sensible, mit schulischen Höchstleistungen glänzende Hedwig musste sich dem mütterlichen Wunsch beugen und den ungeliebten Beruf der Lehrerin ergreifen, um schnell zum Familienbudget beizutragen. Dies sowie eine übersteigerte Selbstdisziplin mit einem zwanghaften Drang zur Beichte scheinen die Gründe dafür zu sein, dass sich spätestens ab 1910 erste Hinweise auf seelische Probleme manifestierten. In der Folge fiel Hedwig immer häufiger beruflich aus, obwohl sie es von der Hilfslehrerin in einer dörflichen Volksschule bis zur Studienrätin an der höheren Mädchenschule in Regensburg brachte.

Ein erster Aufenthalt 1928 in der Psychiatrischen und Nervenklinik München führte zur Diagnose einer manisch-depressiven Erkrankung und ihrer Frühpensionierung. Nach dem Tod der Mutter kümmerte sich Marie allein um die kranke Schwester, bis eine erneute Klinikeinweisung unter dramatischen Umständen im Juni 1944 das Todesurteil bedeutete. In der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar kam Hedwig am 25.07.1944 zu Tode und steht auf einer 2018 von einem Expertenteam erstellten Liste an einer unnatürlichen Ursache Verstorbener.

Chronik eines Frauenlebens
Der Roman Fräulein Hedwig ist in zweierlei Hinsicht sehr interessant. Einerseits schildert Christoph Poschenrieder ein Frauenschicksal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, andererseits geht es um die größtenteils nie zur Anklage gekommenen Verbrechen gegen „unwertes Leben“ im Nationalsozialismus. Bis 1909 kann er sich auf die unvollendeten Memoiren Maries stützen. Als sie mitten im Satz abbrechen, ist er auf die wenigen Dokumente angewiesen, die die amerikanische Bombardierung Münchens 1945 und Maries Umzug in ein Altersheim überdauerten:

Jetzt stehe ich am Rande des Packeises und kann nur noch von einer schwankenden Eisscholle zur nächsten springen. (S. 175)  

Der Chronist Christoph Poschenrieder schreibt beeindruckend ruhig, kontrolliert und nur gelegentlich scheint Empörung durch. Manche Episoden sind mehr für die eigene Familie als für die allgemeine Leserschaft von Interesse und lenken eher ab, trotzdem ist Fräulein Hedwig sehr lesenswert, als Zeitdokument, als Mahnung und vor allem wider das Vergessen.

Christoph Poschenrieder: Fräulein Hedwig. Diogenes 2025
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Christoph Poschenrieder auf diesem Blog:

Edvard Hoem: Die Hausmamsell

   Recherche und Dichtung

Ideen für einen Roman kann man sich nicht ausdenken – sie müssen zum Verfasser kommen, sie müssen in ihm emporsteigen, müssen denjenigen aufsuchen, der sie mit Fleisch und Blut versieht. Stehen die Ideen bei einem schreibenden Menschen schon vor der Tür und klopfen an, entkommt der Betreffende nicht. (Vorwort, S. 6/7)

Sechs in seiner Heimat überaus populäre Bände über verschiedene seiner Vorfahren im 19. Jahrhundert hatte der 1949 in Molde geborene norwegische Romanautor, Lyriker, Dramatiker, Theaterregisseur und Übersetzer Edvard Hoem bereits verfasst, als ihm eine Frau im Traum erschien und ihn fragte: „Und was ist mit mir?“ (S. 5). Es war Julie Elisabeth Hoem (1836 – 1911), verstorben ohne Nachkommen und ohne Zeugnisse von eigener Hand. Kirchenbücher, Zeitungsannoncen, Volkszählungen und Adressbücher geben lückenhaft Auskunft über ihr Leben. Das sind genau die Voraussetzungen, unter denen der großartige Geschichtenerzähler und Vergangenheitsbeschwörer Edvard Hoem in seinen historischen Familienromanen Meisterschaft beweist. „Hervordichten“ (S. 13) nennt er seine Arbeitsweise, bei der er mithilfe allgemeiner historischer Quellen verlorene Lebensabschnitte fiktional überbrückt und Orte, Zeiten und Personen zum Leben erweckt. Immer wieder kommt der Autor selbst zu Wort, benennt Leerstellen und kennzeichnet Fiktion.

Aufstieg
Julie Elisabeth Hoem war die jüngste Tochter des Geigenbauers Lars Hoem und seiner Frau Gunhild aus Christiansund. Ihre Mutter erkrankte bei der harten Arbeit als Klippfischfrau und starb, als Julie elf Jahre alt war. Von dieser Zeit an nahm das Mädchen sein Leben selbst in die Hand.

Durch ihr pfiffiges, wildes Naturell fiel Julie bereits mit dreizehn Jahren einem wohlhabenden Klippfischexporteur auf, der sie zunächst als Laufmädchen, dann als Küchenhilfe anstellte. Nach dem Tod ihres Vaters ging sie um 1853 nach Bergen und diente als Alleinmädchen, bevor sie die höchste Stelle in verschiedenen herausragenden Häusern der Stadt übernahm: als Hausmamsell. Das Privileg, Vorgesetzte der Dienstleute zu sein und mit der Herrschaft am Tisch zu sitzen, erfüllte sie mit großem Stolz, und sie erledigte die Haushaltsführung gewissenhaft und loyal. Allerdings bezahlte sie für ihre herausgehobene Position den Preis, nirgends dazuzugehören.

Alter
Nach einem Intermezzo im Haushalt eines norwegischen Pastorenpaares in Iowa, USA zwischen 1876 und 1881 fand Julie noch einmal eine Stelle als Hausmamsell mit acht Dienstleuten beim legendärsten unter den reichen Bürgern Bergens, dem Geschäftsmann und Reeder Peter Jebsen. Danach war ihre große Zeit ab 1887 abgelaufen und der Broterwerb wurde immer schwieriger. Hätte sie nicht wundersamerweise 1909 einen Platz im Altenheim Alders Hvile (Frieden des Alters) erhalten, sie wäre nach einem arbeitsreichen Leben ins Elend gestürzt.

Edvard Hoem: Die Hausmamsell. Foto des Autors u. Collage: © B. Busch. Cover: © Urachhaus.

Lebensbericht und Zeitbild
Die Hausmamsell
ist weit mehr als die Biografie einer beeindruckend fleißigen und willensstarken Frau, erzählt im unverwechselbar ruhigen Hoem-Stil mit großer Sachkenntnis, Begeisterung für die Vergangenheit, klarer, kraftvoller Sprache ohne Klischees oder Verklärung und angenehm wertschätzend. Es ist darüber hinaus ein farbenprächtiges Bild der Zeit, in dem gesellschaftliche, soziale, technische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso eine Rolle spielen wie Mode, Ernährung, Stadtplanung und Baustile. Zugleich ist es eine Hommage an die Stadt Bergen, Hauptstadt des Westlandes, und deren Wiederauferstehung nach dem großen Brand vom Mai 1855.

Für norwegische Leserinnen und Leser ist die familienbiografische Reihe mit diesem siebten Band abgeschlossen. Auf Deutsch gibt es in der hervorragenden Übersetzung von Antje Subey-Cramer, der wir unter anderem den genialen Begriff „Hausmamsell“ verdanken, erst vier, unabhängig zu lesende Teile: Der Heumacher, Die Hebamme, Der Geigenbauer und nun Die Hausmamsell. Als eingeschworene Edvard-Hoem-Bewunderin hoffe ich sehr auf weitere!

Edvard Hoem: Die Hausmamsell. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2025
www.urachhaus.de

 

Weitere Rezensionen zu familienbiografischen Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:
      Hoem 

T.C. Boyle: No way home

  Drei sind einer zu viel

Die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreicht den 31-jährigen überarbeiteten Assistenzarzt Terrence während eines Dienstes im County/USC Hospital in Los Angeles. Gleich nach seiner Schicht fährt er ins viereinhalb Stunden entfernte trostlose Wüstenstädtchen Boulder City, Nevada, wo seine Mutter sich nach dem Tod seines Vaters ein Häuschen gekauft hatte. So geübt Terrence im beruflichen Umgang mit dem Tod ist, so hilflos steht er ihm privat gegenüber:

Er wusste nicht, wie er sich fühlen sollte, was er überhaupt fühlen sollte, es drang alles so plötzlich auf ihn ein. (S. 19)

Kurz nach seiner Ankunft lernt er – Zufall oder nicht – die bildhübsche Bethany kennen, die nach einer unschönen Trennung auf Wohnungssuche ist. Terrence, sonst eher unbeholfen im Umgang mit Frauen und ohne längere Beziehung, ignoriert alle Warnlampen:

Irgendwas war mit ihr, irgendwas ließ tief in seinem klinischen Hirn, das ihn ohne größere Fehler durchs Studium und seine bisherige Zeit als Assistenzarzt gebracht hatte, die Alarmglocken läuten, aber da war sie und zeigte mit einem breiten Lächeln des Erkennens die makellos weißen Zähne, und eigentlich war es doch egal. (S. 28)

Sofort landet er mit Bethany im Bett und gegen seinen Willen übernimmt sie Haus, Auto und Hund der Mutter.

Schlag auf Schlag
Mit Bethany tritt Jesse in das bisher übersichtliche und geordnete Leben von Terrence, ihr Ex-Partner, ein Biker mit übersteigertem Ego, Hang zu Rauschmitteln und Gewalt, Highschool-Lehrer, Möchtegern-Schriftsteller, Super-Macho und keinesfalls bereit, seine Ex-Freundin kampflos einem „Spießer“ und „Versager“ (S. 205) von der Westküste zu überlassen. Weil Bethany sich zwar zu Terrence hingezogen fühlt und die Vorteile von dessen „Goldstandard“ (S. 194) schätzt, sich aber von ihrem Ex-Freund, was immer er ihr antut, nicht befreien kann oder will, eskaliert die Gewalt in diesem toxischen Beziehungsdreieck. Mit Terrence und Jesse treffen zwei inkompatible Charaktere und Welten aufeinander, deren einzige Schnittmenge die Projektionsfläche Bethany ist. Es geht, im wahrsten Wortsinn, Schlag auf Schlag:

Wenn du mir wehtust, tue ich dir weh. (S. 268)

Immer wieder sieht Bethany sich in die Rolle der Pflegerin eines der beiden Kampfhähne gedrängt.

Drei Perspektiven
No way home, dessen englischer Titel ausgezeichnet zum uramerikanischen Setting passt, erscheint bereits ein halbes Jahr vor der englischen Ausgabe als deutsche Originalausgabe. Abwechselnd schreibt der 1946 geborene amerikanische Vielschreiber und Bestsellerautor T.C. Boyle aus der Perspektive seiner drei Hauptfiguren, wahrt allerdings mit der dritten Person Singular Distanz. Diese Struktur sowie der süffige, routinierte Stil sind das große Plus des Romans, dem man ansonsten seine klischeehaften, unsympathischen Charaktere vorwerfen mag, nicht aber fehlende Spannung oder fehlende Einbettung in das Wüstensetting als Metapher für die Heimatlosigkeit und unerfüllten Sehnsüchte seiner Protagonisten.

T.C. Boyle: No way home. Foto der Wüste westlich von Las Vegas: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Hanser.

So fremd mir Terrence, Bethany, Jesse und ihre Welt sind und blieben, so gut haben mich ihr zerstörerisches Beziehungschaos, ihre taktischen Machtspiele und ihre innere Leere sowie das absolut passende Ende unterhalten, wohl auch deshalb, weil ich für keinen von ihnen Mitleid aufbringen konnte oder wollte. Ob man dem Roman eine übergeordnete politisch-gesellschaftliche Lesart unterstellt oder nicht, bleibt im Ermessen der Leserinnen und Leser, im Vordergrund stand das für mich nicht.

No way home war mein erster Roman von T.C. Boyle und wird definitiv nicht der einzige bleiben. Dass viele Kritikerinnen und Kritiker ihn für einen seiner schwächeren halten, macht mich umso neugieriger.

T. Coraghessan Boyle: No way home. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser 2025
www.hanser-literaturverlage.de

Matthias Jügler (Hrsg.): Wir dachten, wir könnten fliegen

  Literarische Stolpersteine für verschwundene Arten

Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zwei Mal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Mit seinem Projekt „Stolpersteine“ wirkt der Künstler Gunter Demnig dem Vergessen der Opfer des Nationalsozialismus entgegen.

Literarische Stolpersteine für ausgestorbene Tiere und Pflanzen legt der Schriftsteller und Lektor Matthias Jügler mit der von ihm herausgegebenen Anthologie Wir dachten, wir könnten fliegen, mit der er, wie er im Vorwort schreibt, „Tote wiederauferstehen“ lassen will. Habitatzerstörung, Trophäenjagd, Habgier, Umweltverschmutzung, Zuzug invasiver Arten, Veränderungen im Nahrungsangebot und Klimaerwärmung sind nur einige der Gründe dafür, dass laut WWF jeden Tag 150 bis 200 Arten aussterben und in den nächsten Jahrzehnten bis zu einer Million weitere verschwinden könnten.

Eine bunte Palette von Mitwirkenden und Beiträgen
Matthias Jügler hat 20 seiner Lieblingsautorinnen und -autoren um ein Porträt einer selbst gewählten Spezies gebeten. Große internationale Namen sind darunter, John Ironmonger, John Burnside, T.C. Boyle, Helen Macdonald und Iida Turpeinen, neben bekannten deutschen wie Julia Schoch, Katerina Poladjan und Henning Fritsch, Elena Fischer, Caroline Wahl, Jackie Thomae, Clemens J. Setz, Katrin Schumacher, Alex Capus, Kim de l’Horizon, Antje Rávik Strubel, Melanie Raabe, Iris Wolff, Charlotte Gneuß und Daniela Dröscher, letztere ausnahmsweise mit einer Art am Kipppunkt, dem Formosanischen Wolkenleopard, für den noch eine geringe Überlebenschance besteht.

Für die anderen gibt es dagegen keine ernstzunehmende Hoffnung mehr: Auerochse, Stellersche Seekuh, Wandertaube, Hawaiianischer Berghibiskus, Beutelwolf, Weißwangen-Kleidervogel, Riesenalk, Brotpalmfarn, Goldkröte, Riesenvampir, Laysan-Ralle, Chinesischer Flussdelfin, Schuppenkehlmoho, Pyrenäensteinbock, St.-Helena-Olivenbaum, Kaspischer Tiger, Mituhokko und Daintree’s River banana gelten als ausgestorben und stehen beispielhaft für alle anderen. John Ironmonger fasst es in seinem Beitrag so zusammen:

Wenn alles andere verschwunden ist, bleiben manchmal nur noch Geschichten. (S. 30)

Matthias Jügler (Hrsg.): Wir dachten, wir könnten fliegen. Foto von Matthias Jügler am 14.01.2025 in Esslingen: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Penguin.

Was verloren geht, wenn ein so unbekannter Vogel wie die Laysan-Ralle verschwindet, beschreibt Helen Macdonald in ihrem Text, der mir besonders zu Herzen ging:

Natürlich das, was die Laysan-Rallen füreinander waren. Das, was die Insel Laysan war, als es die Rallen noch gab. Und in gewisser Weise ging auch eine ganze Welt verloren – die durch ihre Augen gesehene Welt, denn jedes Tier bewohnt seine eigen phänomenale Welt, seine eigene Umwelt. (S. 152)

Abwechslungsreich und farbenfroh
Matthias Jügler hat den Autorinnen und Autoren viel Spielraum gelassen. Deshalb konnten ganz unterschiedliche Arten von Geschichten entstehen, die in ihrer Originalität und Vielfalt den besonderen Reiz dieser bewegenden Sammlung ausmachen. Auf 19 ganzseitigen, farbenfrohen, aber nicht schreienden, detailreichen, aber nicht an ein Biologiebuch erinnernden Illustrationen von Barbara Dziadosz zeigen die in diesem großformatigen Band porträtierten Tiere und Pflanzen ihre Einzigartigkeit und Schönheit.

Trotz des traurigen Themas klappt man das Buch überraschenderweise eher bereichert als entmutigt zu. Daniela Dröscher liefert dafür eine Erklärung:

Die Lage ist hoffnungslos – aber endgültig verloren ist nichts. Gerade diese Anerkennung der Unwahrscheinlichkeit setzt Kräfte frei. (S. 226)

Das vielstimmige Buch ermutigt dazu.

Matthias Jügler (Hrsg.): Wir dachten, wir könnten fliegen. 19 Geschichten über den Verlust der Arten und die Kraft der Literatur. Mit Illustrationen von Barbara Dziadosz. Penguin 2025
www.penguin.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Matthias Jügler auf diesem Blog:

   

Ruth Lillegraven: Düsteres Tal

   Die Vergangenheit kehrt zurück

Vor fünf Jahren hat sich Clara Lofthus, die smarte norwegische Ex-Justizministerin und unerkannte Serienmörderin, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Mit ihrem neuen Partner Axel und ihren 15-jährigen Zwillingssöhnen lebt sie in Nairobi und leitet dort im Auftrag von UNICEF eine Schule.

Als der norwegische Entwicklungshilfeminister die Einrichtung besucht, kommt es zu einem brutalen Terroranschlag mit mehreren Toten. Geistesgegenwärtig und kaltblütig rettet Clara eine Gruppe von Kindern und feuert mit dem Maschinengewehr eines toten Terroristen auf die Angreifer. Schlagartig steht sie als Heldin wieder im Mittelpunkt des norwegischen Medieninteresses.

Das Comeback
Zurück in Oslo überschlagen sich die Ereignisse. Die Ministerpräsidentin beruft Clara erneut auf den Posten der Justizministerin, deren verhasste Mutter Agnes plant den Verkauf von Grundstücken auf dem familieneigenen Hof in Westnorwegen und eine fünf Jahre alte Frauenleiche wird in einem Salzfass in einer aufgegebenen Wurstfabrik gefunden.

Hier tritt der bekannte Talkshow-Moderator Erik Heier auf den Plan, dessen populäre Sendung aus Kostengründen weichen muss. Nachdem er in der letzten Sendung die charismatische, wortgewandte und schöne Vorzeige-Karrierefrau Clara zu Gast hatte, für die auch er eine große Faszination verspürt, plant er einen investigativen Podcast über cold cases, ungelöste Altfälle. Thema des ersten Projekts soll der Fall der Salzfass-Leiche sein, Sabiya Rana, einer jungen Kinderärztin pakistanischer Herkunft und Mutter dreier Kinder, die plötzlich des Dreifachmordes verdächtigt wurde und nach ihrer Entlassung spurlos verschwand. Erik Heier ahnt nicht, wie nahe er mit seinen Recherchen dem Mysterium Clara Lofthus kommt…

Ruth Lillegraven auf der Frankfurter Buchmesse 2019. © B. Busch

Psychothriller mit Sog und literarischen Qualitäten
Düsteres
Tal ist der dritte Band einer ungewöhnlichen Psychothriller-Trilogie der 1978 geborenen, 2013 mit dem Brageprisen ausgezeichneten norwegischen Lyrikerin, Belletristik- und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven. Ungewöhnlich ist das „normale“ Umfeld, in dem sich die skrupellose Protagonistin bewegt, ungewöhnlich die wunderbaren Naturbeschreibungen aus Westnorwegen und die detaillierten Beschreibungen politischer Prozesse, die Ruth Lillegraven aus ihrer langjährigen Arbeit im Verkehrsministerium kennt, aber auch die literarische Qualität. Aus all diesen Gründe habe ich, obwohl ich sonst kaum Thriller lese, jeden neuen Band dieser Trilogie dringend erwartet. Hervorragend gelingt es der Autorin, das Innenleben ihrer furchteinflößenden, ohne Hemmschwelle agierenden Heldin glaubhaft darzustellen, nach deren Logik jede und jeder aus dem Weg geräumt werden muss, die oder der ihr in die Quere kommt:

Es gibt keine Gerechtigkeit, aber manchmal kann man etwas tun, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. (S. 78)

Menschlich wird die gnadenlose Protagonistin in ihrem idealistischen Einsatz für einen verbesserten Schutz für Kinder und mit ihrer Sehnsucht nach dem Hof ihrer Familie in ihrer westnorwegischen Heimat:

Ich will nach Hause. Wenn ich mit der Politik fertig bin, kann es nur diesen Weg geben […]. (S. 179)

Ruth Lillegraven: Düsteres Tal. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © List.

Kein Whodunit und trotzdem unglaublich spannend
Wie bei den Vorgängerbänden Tiefer Fjord und Dunkler Abgrund beruht die Spannung auch bei Düsteres Tal nicht auf der Frage nach dem Täter oder der Täterin, sondern auf dem Wie und Warum sowie der sehr besonderen Erzählweise von Ruth Lillegraven. Die 78 kurzen Kapitel mit einem Prolog bzw. Epilog aus dem Podcast werden abwechselnd von Clara, Axel und Erik Heier erzählt, was Tempo wie Dramatik gleichermaßen steigert.

Eine rundum gelungene, wendungsreiche und perfekt konstruierte Psychothriller-Trilogie mit einem für mich ebenso überraschenden wie genialen Finale.

Ruth Lillegraven: Düsteres Tal. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. List 2025
www.ullstein.de/verlage/list

 

Weitere Rezensionen zu Bänden der Clara-Lofthus-Trilogie von Ruth Lillegraven:

Bd. 1
Bd. 2

 

Sorj Chalandon: Herz in der Faust

   Die Wut, die bleibt

 

2013 hat mich der Roman Die Brandungswelle der französischen Autorin Claudie Gallay begeistert, zu dem sie ein Gedicht ihres populären Landsmanns, Lyrikers, Filmemachers, Drehbuch- und Theaterautors Jacques Prévert (1900 – 1977) inspiriert hatte: „Le gardien de phare aime trop les oiseaux“.

 

Haus und Grab von Jacques Prévert in Omonville-la-Petite . © B.&M. Busch.

Einen Auftritt hat Jacques Prévert mit seinem 1934 veröffentlichten Gedicht „La chasse à l’enfant“, die Kinderjagd, auch im Roman Herz in der Faust des 1952 in Tunis geborenen französischen Journalisten und mehrfach preisgekrönten Bestsellerautors Sorj Chalandon. Im Gedicht wie im Roman geht es um die Korrektionsanstalt Haute-Boulogne auf der vom Atlantik umtosten bretonischen Belle-Île-en-Mer, einer Strafkolonie, erbaut auf einer Zitadelle Vaubans. Zwischen 1880 und 1977 wurden dort Kinder und Jugendliche von 12 bis 21 Jahren wegen kleinerer Diebstähle, Landstreicherei, als Waisen oder unerwünschte Familienmitglieder untergebracht. Zur Zeit des Romans in den 1930er-Jahren übten kriegstraumatisierte Wärter unter den Augen einer heuchlerischen Politik, Justiz und Verwaltung ungezügelt sadistische Gewalt aus. Die Insassen wurden Opfer körperlicher, sexueller und psychischer Misshandlungen durch Aufseher und Mitgefangene, drakonischer Strafen, Hunger, Vernachlässigung, demütigender Schikanen und Ausbeutung.

Aufstand und Flucht
Am 27. August 1934 kam es zu einem Aufstand und zur Massenflucht von 56 Kindern und Jugendlichen über die sechs Meter hohe Mauer. Die anschließende unbarmherzige Treibjagd durch Aufseher, Gendarmen, die „brave“ Inselbevölkerung, Touristinnen und Touristen, befeuert durch ein Kopfgeld von 20 Francs, thematisiert Jacques Prévert in seinem Gedicht.

In Sorj Chalandons Roman Herz in der Faust kann sich einer der Ausbrecher der Gefangennahme entziehen: der fiktive Jules Bonneau. Er ist, mit Ausnahme des Epilogs, Ich-Erzähler, ein Heimatloser, der im Alter von 13 Jahren 1927 in die Anstalt eingewiesen wurde und den Kampfnamen „Kröte“ trägt. Er berichtet über seinen siebenjährigen Aufenthalt unter unmenschlichsten Bedingungen, der aus ihm einen wutgetriebenen, unbeherrschten, gewaltbereiten, misstrauischen, in Rachefantasien schwelgenden und um Gerechtigkeit ringenden Jugendlichen machte. Doch entgegen seiner Beteuerungen ist Jules nicht nur hart, in seiner Faust schlägt ein Herz. Den jüngeren, zarten Waisenjungen Camille Loiseau nimmt er unter seine Fittiche und kann ihn doch auf der Flucht nicht vor Verrat schützen, ein bleibendes Mal des Schmerzes und der Scham.

Sorj Chalandon: Herz in der Faust. Fotos: © M.&B. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © dtv.

Jules dagegen findet auf wundersame Weise Aufnahme im Haus des sozialistischen Fischers Ronan Kadarn und seiner mutigen Frau Sophie, einer Krankenschwester der Anstalt. Aber kann, wer nur Hass und Gewalt kennt, sich im Kampf gegen die Welt und sich selbst befindet, wieder Vertrauen fassen?

Ein Schrei nach Gerechtigkeit
Sorj Chalandon bettet seinen Unterhaltungsroman um schreiendes Unrecht und eine abenteuerliche Flucht in den Kampf zwischen Linken und Rechtsextremisten im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und die Unabhängigkeitsbestrebungen von Bretonen und Basken ein – mit eindeutig verteilten Sympathien. Die äußerst detaillierten Gewaltbeschreibungen sind zwar eher der bei der gründlichen Recherchearbeit entstandenen Wut des Autors und eigenen kindlichen Gewalterfahrung als Voyeurismus zuzuschreiben, trotzdem haben sie bei mir leider unbeabsichtigte Distanz erzeugt. Die knappe, bittere, oft brutale Sprache passt dagegen gut zu dem von inneren Kämpfen zerrissenen Ich-Erzähler, viele Szenen sind filmreif.

Wie in seinen beiden ebenfalls empfehlenswerten Romanen Am Tag davor und Verräterkind, die ich bereits kannte, widmet sich der Autor auch in Herz in der Faust einem ungeheuerlichen Thema der französischen Geschichte und gibt den Opfern von Unmenschlichkeit und Unterdrückung ein Gesicht. Zusammen mit dem unvergesslichen Protagonisten und der spannenden Dramaturgie ist der Roman trotz der wenigen genannten Kritikpunkte daher sehr lesenswert.

Sorj Chalandon: Herz in der Faust. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv 2025
www.dtv.de

 

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Chalandon