Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

  Ersatzfamilie

Wohngemeinschaften gab es unfreiwillig nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch Zwangseinquartierungen. Ab den 1960er-Jahren entdeckten Studierende diese Wohnform für sich. Angesichts explodierender Mieten, Wohnraumknappheit, steigender Zahl von Singlehaushalten und fehlender Heimplätze gibt es sie inzwischen für jedes Alter, jede Lebenssituation und jeden Geldbeutel.

3+1=4
In der Hamburger WG im neuen Roman Wohnverwandtschaften der Übersetzerin und Autorin Isabel Bogdan leben vier mitten im Leben stehende Erwachsene aus ganz unterschiedlichen Motiven. Jörg, Rentner Ende 60, kann das Geld aus der Vermietung für seine geplante Reise mit dem Bulli nach Georgien gut gebrauchen und hat sich nach dem Tod seiner Frau wieder Leben in die Wohnung geholt. Anke lebt seit mittlerweile mehreren Jahren bei ihm und wird von Zukunftsängsten geplagt. Sie war einst eine erfolgreiche Schauspielerin, leidet nun aber sehr unter den fehlenden Rollenangeboten für Frau über 50. Murat, ebenfalls um die 50, Fachmann für IT und Deutschtürke aus Köln, ist der Sonnyboy der WG, kocht gern für alle, liebt seinen Schrebergarten, den FC St. Pauli, seinen großen Freundeskreis und seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Er ist es auch, der die jüngere, nicht ganz so lockere Zahnärztin Constanze als Vierte im Bunde anheuert. Frisch getrennt, sieht sie die WG als Notlösung und Zwischenstation. Mit ihrem Einzug im Januar 2022 setzt der Roman ein:

Neues Zuhause. Übergangsweise. Irgendwann werde ich ja eine eigene Wohnung finden, ein richtiges Zuhause. Meins. Ach, Mist. Ich hatte doch schon mal eins. (S. 7)

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch.

Eine Zerreißprobe
Abwechselnd erzählen in den kurzen Kapitel die vier WG-Mitglieder von ihrem Alltag, chronologisch und mit genauer Angabe von Wochentag und Datum. Dazwischen gibt es Abschnitte mit mehreren Personen und Dialogen ähnlich einem Theaterstück. Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr Kapitel kommen aus der Sicht aller, denn nach Jörgs Blinddarmoperation ist er nicht mehr derselbe und der WG-Alltag wird zunehmend auf den Kopf gestellt. Abhängig von ihrem Charakter gehen Anke, Murat und Constanze zunächst verschieden damit um und brauchen unterschiedlich lang, um die Tragweite der Veränderung zu begreifen. Aber eins ist klar: Sie lassen ihren vierten Mann nicht im Stich.

Leicht und warmherzig
Wohnverwandtschaften
ist mit seinem Anklang an Goethes Wahlverwandtschaften eine einfallsreiche Wortneuschöpfung mit Potential für eine Aufnahme in den Duden. Zwei Jahre lang, bis Silvester 2023, verfolgen wir lesend die Ereignisse in der WG, Fortsetzung nicht ausgeschlossen. Isabel Bogdan schreibt leicht, amüsant und mit viel Empathie für ihre Figuren über ein Zusammenleben, das mir allerdings bei so unterschiedlichen Charakteren ein wenig zu konfliktfrei und harmonisch ablief. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Anke, Constanze und Murat sich in ihrer Sprache mehr unterschieden hätten, wie es bei Jörg sehr gut gelungen ist. Als warmherziger Wohlfühlroman über wachsende Freundschaft und geteilte Verantwortung liest sich das Buch jedoch gut. Noch besser allerdings kann ich mir den Text aufgrund seiner innovativen Struktur in der Hörfassung, auf der Bühne oder im Film vorstellen.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

Maria Parr: Himbeereis am Fluss

  Ein Vorlesebuch zum Verlieben

Oskar og eg. Alle plassane vi er (dt.: Oskar und ich. All die Orte, an denen wir sind) lautet der Originaltitel des fünften Kinderromans der Norwegerin Maria Parr. Die Erzählerin Ida ist zu Beginn des Buches acht Jahre alt, ihr Bruder Oskar fünf, und jedes der elf Kapitel rund um ein Jahr heißt nach seinem Handlungsort: beispielsweise dem Kleiderschrank, dem Fluss, der Schule, einer Holzhütte, dem Friedhof oder der Rodelbahn. Der deutsche Titel, Himbeereis am Fluss, ist die fantasievolle Antwort der Geschwister auf einen verregneten Sommertag.

Geschwisterhierarchie
Ida, Oskar und ihre Eltern leben in einem roten, ein wenig unmodernen Haus in einem norwegischen Dorf. Die Fenster leuchten abends gemütlich, warm und gelb und am liebsten würde man selbst gleich auf der ersten Seite dort einziehen:

In dem Haus wohnen zwei Kinder, Oskar und ich. Wir teilen uns ein Zimmer im Keller. Ich schlafe oben im Hochbett und bin der Chef. Oskar schläft im unteren Bett und glaubt, er wäre der zweite Chef, aber eigentlich bin ich diejenige, die alles bestimmt. (S. 12)

… es sei denn, Ida und die Eltern haben gleichzeitig einen Magen-Darm-Infekt:

Es war offensichtlich, dass er alles tat, was er sonst nicht durfte, jetzt, wo ihn niemand daran hindern konnte. (S. 35)

Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Dressler.

Kinderalltag rund ums Jahr
Maria Parr lässt Ida vom Familienleben und von ganz vertrauten Alltagssituationen erzählen, denen die Kinder mit Unternehmungslust, Neugier, Kreativität, Selbstbewusstsein und Resilienz begegnen: vom Spielen in der Natur, vom ersten Schultag des Bruders, von Halloween und Weihnachten und vom Warten auf den ersehnten Schnee. Nicht alles ist heile Welt, es gibt Streit, aber auch die Krankheit ihres heißgeliebten Onkels Øyvind, seinen Tod und die Trauer, die vor allem Ida, ihre Mutter und seinen Ehemann Onkel Bulle immer wieder unvermittelt überfällt. Nichts hilft dagegen so gut wie das Zusammensein im sicheren Hafen Familie und eine Umarmung. Zentral sind die Themen Geschwistersein und Größerwerden, mal von Ida ersehnt, mal bedauert:

Wo war denn der Witz am Großwerden, wenn dadurch nur alles, was groß und schön war, klein und blöd wurde? (S. 92)

Warmherzig, empathisch und humorvoll
Maria Parr, geboren 1981, gehört zu den erfolgreichsten und meistübersetzten Kinderbuchautorinnen Norwegens. Für Himbeereis am Fluss erhielt sie 2023 unter anderem zum dritten Mal den renommierten Bragepreis in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur.

Ich habe mich in dieses warmherzige, überhaupt nicht nostalgische Vorlesebuch regelrecht verliebt: wegen seiner glaubwürdigen kleinen Beobachterin Ida, wegen des unbekümmerten Oskars, der im Hintergrund sanft und empathisch lenkenden Eltern und der kinderlieben Onkel. Maria Parrs Sprache ist klar, voller Empathie und warmem Humor. Spaß machen auch die vielen kolorierten Tuschezeichnungen der Illustratorin Åshild Irgens, deren Gesichter Gefühle wie Freude, Trauer, Wut, Angst, Erstaunen, Scham oder Neid wunderbar widerspiegeln.

Himbeereis am Fluss ist ein hinreißendes Vorlesebuch, das Erwachsenen jeden Alters garantiert genau so viel Freude macht wie kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern von etwa fünf oder sechs bis neun Jahren.

Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Illustriert von Åshild Irgens. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. Dressler 2024
www.oetinger.de/verlagsgruppe/dressler

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus

  Im Schatten einer monumentalen Familienlüge

Kaputte Familien bieten Stoff für interessante Romane, aber so düster wie in der norwegischen Saga um die Familie Neshov ist die Fantasie der Autorinnen und Autoren trotzdem selten. Drei Brüder, die sich nichts zu sagen haben und unterschiedlicher kaum sein könnten, bilden die mittlere Generation: Tor, 55 Jahre alt, ein schweigsamer Schweinebauer auf dem im Verfall begriffenen Familienhof nahe Trondheim, Margido, 52 Jahre, erfolgreicher, aber spartanisch lebender Bestatter, der stets professionell-distanziert auftritt, und Erlend, 39 Jahre, extravaganter Schaufensterdekorateur, homosexuell, der seit seiner Flucht vor den Vorurteilen gegen ihn als „Männermann“  in Kopenhagen lebt. Margido war nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter Anna vor sieben Jahren nicht mehr auf dem Hof, bei Erlend sind es schon 20 Jahre. Tor erlebte nur eine einzige Liebesnacht, dann vertrieb seine besitzergreifende Mutter seine schwangere Freundin. Mit seiner Tochter Torunn führt er seltene Telefonate und hat sie nur ein einziges Mal getroffen. Seine ganze Zuneigung gehört seinen Schweinen, obwohl sie kaum sein Auskommen sichern. Margido war stets Single und muss sich der Annäherungsversuche frisch verwitweter Kundinnen erwehren. Erlend hat zwar seit 12 Jahren einen festen Partner, leidet jedoch unter Verlustängsten, die er mit Luxus und Alkohol zu überdecken versucht. Torunn, Hundetrainerin in Oslo, hat ihren untreuen Partner vor einem halben Jahr verlassen.

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. © B. Busch. Cover: © Hörbuch Hamburg.

Keine Generation ist glücklich
Bei den Eltern der Brüder sieht es noch schlimmer aus. Sie leben zwar unter einem Dach, aber nur nebeneinander. Die 80-jährige Anna regiert, obwohl dem Haushalt nicht mehr ganz gewachsen, noch immer mit harter Hand über Hof, Sohn und Ehemann. Letzterer, der im Roman namenlos bleibt, vegetiert ungepflegt, nahezu unsichtbar, von Frau und Sohn verachtet vor sich hin.

Einziger Lichtblick scheint der Großvater gewesen zu sein, das Herz des Hofes, ein geselliger Optimist, für die Enkel da und immer in Bewegung. Seit seinem Tod vor 22 Jahren sind die Außenkontakte abgebrochen und das Leben auf dem Hof erstarrt.

Ein Todesfall als Initialzündung
Als Anna in der Woche vor Weihnachten einen Schlaganfall erleidet und kurz darauf im Krankenhaus stirbt, finden sich schlagartig alle auf dem Hof ein. Torunn und Erlend starten zu Tors Entsetzen eine Hausputzaktion und schließlich wird sogar der Weihnachtsabend mit einem gemeinsamen Festmahl begangen. Doch als der Vater, für alle überraschend, nach ungewohntem Alkoholgenuss das Wort ergreift, platzt eine weihnachtliche Bombe. Das Lügenhaus, das seine Schatten auf sämtliche Familienmitglieder warf, stürzt krachend ein.

Hörbuchfassung in perfekter Besetzung
Das Lügenhaus ist der erste von sechs Bänden über die Bauernfamilie Neshov, die zwischen 2007 und 2022 erschienen und die 1957 bei Trondheim geborene Anne B. Ragde zu einer der bekanntesten Autorinnen Norwegens machten. Ich habe mir die Geschichte auf vier CDs in 318 Minuten vorlesen lassen, leider gekürzt, aber mit den Sprecherinnen und Sprechern Ulrike Grote (Anna), Walter Kreye (Tor), Matthias Brandt (Margido), Gustav Peter Wöhler (Erlend) und Wiebke Puls (Torgunn) ebenso hochkarätig wie optimal passend besetzt. Zwar hat mich die Geschichte, die auch eine Hommage an die aussterbende Bauernschaft, Erinnerung an den Größenwahn der deutschen Besatzung und eine Auseinandersetzung mit Homosexualität und Homophobie ist, nicht sofort gepackt, aber je mehr die Figuren interagierten, desto dramatischer wurde es – bis zum umwerfenden Showdown. Unmöglich deshalb, nicht bald mit dem zweiten Band, Einsiedlerkrebse, fortzufahren.

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. Aus dem Norwegischen von Gabriele Hoefs. Gekürzte Lesung von Matthias Brandt, Ulrike Grote, Walter Kreye, Wiebke Puls und Gustav Peter Wöhler. Hörbuch Hamburg 2009
www.hoerbuch-hamburg.de

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe

  Vorboten einer neuen Zeit

Tore Renberg: Lungeflyteprøven. Foto: © B. Busch. Cover: © Forlaget Oktober.

Während meiner Norwegen-Reise im Sommer 2024 stand ein Buch im Schaufenster nahezu jeder Buchhandlung: Lungeflyteprøven von Tore Renberg, erschienen 2023, geschmückt mit durchgängig sechs Punkten auf dem Wertungswürfel bedeutender Feuilletons und monatelang auf der nationalen Bestsellerliste. Nun ist der historische Roman des in Norwegen sehr bekannten Autors, der in Sachsen im ausgehenden 17. Jahrhundert spielt, von Karoline Hippe und Ina Kronenberger fein ausbalanciert zwischen Lesbarkeit und Barockflair auf Deutsch erschienen.

Die Carolina
1681: Das finstere Mittelalter ist vorbei, die Epoche des Hochbarocks jedoch kaum weniger grausam. Noch schmerzen die Wunden des 30-jährigen Kriegs und der Pest, die Macht liegt bei Adel und Klerus. Seit 1532 gilt die Constitutio Criminalis Carolina, das Straf- und Prozessrecht Kaiser Karls V.  Diese sieht für Kindsmörderinnen Tod durch lebendiges Begraben, Pfählen oder Ertränken vor, bei Fehlen des unabdingbaren Geständnisses die Folter.

„Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“
Der Untertitel erklärt, worum es in Tore Renbergs 700 Seiten umfassendem Roman geht, zu dem ein 46-seitiger Anhang online verfügbar ist. Im Oktober 1681 brachte die 15-jährige Gutsbesitzertochter Anna Voigt auf Gut Greitschütz am Westufer der Weißen Elster nahe Leipzig ein uneheliches Kind tot zur Welt, ohne dass sie oder ihre Eltern von der Schwangerschaft wussten. Angezeigt von Hausangestellten, die die von Annas Mutter vergrabene Säuglingsleiche fanden, kam der Fall zum Pegauer Amtmann, dem der nicht-adelige Gutsbesitzer und Parvenü Hans Heinrich Voigt schon lange nicht behagte.

Unter den nicht seltenen Fällen angeklagter Kindsmörderinnen sticht der Fall Anna Voigt vor allem aus drei Gründen hervor: Bei der Obduktion der Säuglingsleiche war der angesehene Stadtphysikus von Zeitz, Johannes Schreyer (1631 – 1694), zugegen, der mit dem später nach ihm benannten forensischen Verfahren der Lungenschwimmprobe nachwies, dass es sich um eine Totgeburt handelte:

Dass derselbe Tag auch den Beginn der modernen Gerichtsmedizin begründen würde, sollte Schreyer nie erfahren. (S. 60)

Außergewöhnlich war auch, dass Annas Vater die finanziellen Mittel und den Willen besaß, einen begabten, kämpferischen jungen Verteidiger zu beauftragen: Christian Thomasius (1655 – 1728). Dieser unbeugsame Rechtsgelehrte, Sohn des Leiters der Leipziger Thomasschule, der seine Heimatstadt später verlassen musste und Mitbegründer der juristischen Fakultät der Universität Halle wurde, scheute nie den gefährlichen Konflikt mit verbohrten Klerikern oder universitären Blockierern und war sofort von der Bedeutung der Lungenschwimmprobe elektrisiert:

Sobald ein Wissenschaftler mit frischen Gedanken Licht ins Dunkel brachte, kamen die Traditionalisten und verdunkelten wieder alles, sie riefen Ketzer und Atheist, insbesondere in Leipzig, das gerade erst mit Mühe und Not begonnen hatte, ein paar Lichtstrahlen hereinzulassen. (S. 125)

Die dritte Besonderheit war die jahrelange Dauer des für alle Beteiligten grauenvollen Verfahrens.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Alte Stadtansicht von Leipzig: Wikimedia commons, gemeinfrei. Fotos der Thomaskirche und des Alten Rathauses: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Luchterhand.

Ein außergewöhnlicher Historienroman
Tore Renberg hat für seinen ersten historischen Roman fünfeinhalb Jahre lang umfassend recherchiert, oft vor Ort, unterstützt von Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen und weit über den eigentlichen Fall hinaus. Hauptquellen waren die umfangreichen Originalschriften von Johannes Schreyer und Christian Thomasius, ergänzt durch schriftstellerische Fantasie, die sich aus spürbar tiefem  Eintauchen in die Zeit und Empathie für die Hauptfiguren bis hin zur Leipziger Scharfrichterfamilie speist. Das Ergebnis hat mich begeistert. Die Lungenschwimmprobe nutzt die Geschichte nicht – wie gängige Historienschmöker – als Hintergrundkulisse für Liebesdramen, Ränkespiele und Heldenabenteuer. Vielmehr liest man ein detailreiches, lebendiges, multiperspektivisch erzähltes Gesellschaftspanorama, in dem sogar der Autor selbst über sein Schreiben berichtet.

Am Ende hat man auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise viel über die Gerichtsbarkeit des 17. Jahrhunderts und die Vorboten der Aufklärung am konkreten Beispiel eines tragischen Frauenschicksals erfahren – mit durchaus aktuellen Bezügen zu Wissenschaftsskepsis und Faktenleugnung heute.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger. Luchterhand 2024
www.penguin.de

Francesca Melandri: Alle, außer mir

  Lebenslügen

Manchmal bedarf es eines äußeren Anstoßes, um einen lang gehegten Lektürewunsch endlich in die Tat umzusetzen. Bei Alle, außer mir der 1964 in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri, 2017 in Italien erschienen und 2018 in Deutschland als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet, war es eine vom Pen Berlin e.V. organisierte Diskussionsrunde mit der Autorin und ihren Kollegen Paolo Giordano und Antonio Scurati anlässlich des Gastlandauftritts Italiens auf der Frankfurter Buchmesse 2024.

Gastlandauftritt Italiens auf der FBM 2024 mit einer Veranstaltung des Pen Berlin e.V.: Birgit Schönau (Moderation), Francesca Melandri, Antonio Scurati und Paolo Giordano (von links). Fotos: © B. Busch.

Ein Paukenschlag zu Beginn
In der drückenden Augusthitze 2010 bereitet sich Rom auf den Besuch von Berlusconis Busenfreund Gaddafi vor. Als die Anfang 40-jährige Lehrerin Ilaria Profeti gestresst bei ihrer Wohnung im quirligen Multikultiviertel Esquilin ankommt, steht ein junger Afrikaner mit einem äthiopischen Pass auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti im Treppenhaus, über den Sudan, libysche Gefängnisse und das Mittelmeer nach Lampedusa gelangt und angeblich ihr Neffe. Ihren dementen Vater Attilio Profeti kann sie nicht mehr fragen, ob er während seiner kaum thematisierten Zeit in Ostafrika einen Sohn gezeugt hat. So macht sich Ilaria, die trotz ihrer linksliberalen Gesinnung heimlich mit einem  Abgeordneten der Berlusconi-Partei liiert ist, nur unterstützt von ihrem 12 Jahre jüngeren Halbbruder Attilio junior, selbst auf die Suche nach dem Familiengeheimnis. Schon einmal hat ihr Vater sie überrascht, als er der damals 16-Jährigen seine Zweitfamilie präsentierte. Ihre Recherchen führen weit in die allgemein verdrängte martialische italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts und den Rassismus der Mussolinizeit zurück, deren Folgen sich bis heute in der Flüchtlingskrise niederschlagen.

Der Patriarch
Attilio Profeti, geboren 1915 im Provinzstädtchen Lugo in der Romagna, war der verwöhnte Lieblingssohn einer vom Leben enttäuschten Mutter und eines Bahnbeamten. 1935 brach er sein Philosophiestudium ab und meldete sich freiwillig zu den Schwarzhemden nach Abessinien, um im völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg Mussolinis gegen das Kaiserreich Äthiopien zu kämpfen und anschließend dort ein Apartheitsregime zu etablieren. Obwohl er als Assistent des faschistischen Anthropologen Lidio Cipriani an dessen rassentheoretischer Ideologie mitwirkte, lebte er mit der Äthiopierin Abeba zusammen und zeugte einen Sohn, der nach Attilios fünfjährigem Ostafrika-Aufenthalt 1941 zur Welt kam.

Gewitzter Opportunist, skrupelloser Stratege, auf den eigenen Vorteil bedacht, charismatisch, arrogant, aber auch stets mit einer gehörigen Portion Glück gemäß seines Lebensmottos „Alle, außer mir“ beschenkt, überstand Attilio die Zeit in Afrika unbeschadet, machte anschließend Karriere in einem windigen Immobilienunternehmen und gründete zwei Familien. Doch auch bei ihm gibt es, neben der Liebe zu seinen Kindern, Grautöne: 1985 rettete er trickreich und beherzt seinen äthiopischen Sohn aus einem Gefängnis der Derg-Diktatur und verhalf seinem ehemaligen Kriegskameraden und dessen äthiopischer Familie zur Ausreise.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Argon.

Lange Schatten
Ich habe Alle, außer mir in ca. 19 Stunden als ungekürzte Lesung auf 3 MP3-CDs gehört, überzeugend vorgetragen von Gabriele Blum, die mit ihrer angenehmen Stimme gleichermaßen den tragischen wie auch den durchaus vorhandenen humorvollen Sequenzen gerecht wird. Es bedarf einiger Konzentration, um den Perspektiv- und Zeitwechseln sowie den Schicksalen der Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren zu folgen, aber wer sie aufbringt, wird mit einer anschaulich-lehrreichen Erzählung belohnt. Francesca Melandri hat die koloniale und postkoloniale Geschichte gründlich recherchiert und schlägt dramaturgisch geschickt den Bogen zur heutigen Migrationswelle.

Ein ebenso wichtiger, wie angesichts des Rechtsrucks – nicht nur in Italien – bedrückender Roman, den man unbedingt lesen oder hören sollte.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Gabriele Blum. Argon 2018
www.argon-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern mit dem Prädikat „Lieblingsbuch der Unabhängigen“:

2015
2016
2017
2020
2022

 

 

 

 

Weitere Rezension zu einem Roman über die italienische Kolonialgeschichte:

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Hinter den Kulissen einer vermeintlichen Idylle

Kaum eine deutsche Landschaft ist so mit dem Begriff „Idylle“ verknüpft wie die Lüneburger Heide. Jedes Jahr bringt neue touristische Rekordzahlen, 2023 wurden knapp 6,1 Millionen Übernachtungen verzeichnet.

Der 19-jährige Nachwuchsschäfer Jannes Kohlmeyer, Protagonist im zweiten Roman von Markus Thielemann mit dem Titel Von Norden rollt ein Donner, scheint das Idyll geradezu idealtypisch zu verkörpern, wenn er mit dem Stecken in der Rechten zu Beginn inmitten seiner Herde von Heidschnucken in der Südheide steht. Das romantische Bild wird durch einen Donner jäh gestört, auf den jedoch kein Blitz folgt und weder Herde noch Hirte zusammenzucken, handelt es sich doch nicht um ein Naturphänomen, sondern um den üblichen Test von Panzermunition des Waffenherstellers Rheinmetall, neben der Bundeswehr mit ihren Truppenübungsplätzen der größte Arbeitgeber der Region.

Ein traditioneller Familienbetrieb
Drei Generationen leben auf dem Heidehof, wo die Hauptarbeit inzwischen von Jannes und seiner Mutter Sibylle geschultert wird. Großvater Wilhelm Volker, formal noch Eigentümer, ist seltener bei der Herde, seit seine verwirrte Frau Erika im Pflegeheim ist. Jannes ältere Schwester Janine lebt weit weg ein anderes Leben, bei Jannes Stiefvater Friedrich zeigen sich ebenfalls Vorboten einer Demenz.

Längst lebt die Familie mehr vom Tourismus und Fördergeldern als von ihren für den Erhalt der offenen Heidelandschaft so unentbehrlichen Tiere. Wortkarg sind die Menschen in der Heide, leidenschaftlich wird es im Gemeindesaal und in der Familie nur bei den Diskussionen um die Rückkehr der Wölfe und die Gleichgültigkeit von Politik wie Stadtbevölkerung. Gerne schalten sich hier die zugezogenen Neurechten ein, die das Wolfsthema für propagandistische Zwecke ausschlachten und die Stimmung anheizen. Ansonsten wird viel geschwiegen und verdrängt, besonders die jüngere Vergangenheit der geschichtsträchtigen Region. Doch deren lange Schatten fallen seit neuestem auf Jannes, der immer häufiger bei seinen einsamen Wanderungen mit der Herde von verstörenden Trugbildern, Visionen und Träumen heimgesucht wird:

Der Gedanke, dass es so etwas wie einen Sinn hinter alldem geben könnte, […], der Sache mit diesen Anfällen, seinen Träumen, seinem ganzen jämmerlichen Zustand, lindert seine Hoffnungslosigkeit. Es muss einen Grund geben, denkt er, eine Erklärung, ein Geheimnis. (S. 151)

Was hat es mit den scheinbar wirren Andeutungen seiner dementen Großmutter auf sich, was mit dem großväterlichen Heldenepos vom „Würger“?

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © C.H. Beck.

Ein vielversprechender neuer Autor
Markus Thielemann stand mit seinem Roman Von Norden rollt ein Donner auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024, ein großer Erfolg für den 1992 geborenen Niedersachsen, der Literarisches Schreiben in Hildesheim studiert hat, und sicher eine der gelungenen Überraschungen dieses Preisjahres. Mit der Figur des Jannes hat er einen sehr eindrücklichen Protagonisten geschaffen, der, von seinen Freunden entfremdet, ohne Trennlinie zwischen Privatleben und Beruf inmitten seiner Familie einsam und mit viel zu früher Verantwortung für den Fortbestand des Hofes erwachsen werden muss. Bestechend ist auch die Wolfsmetapher für das Fremde und Bedrohliche. Markus Thielemann verknüpft einen bunten Strauß aktueller Themen, oft nur in Andeutungen und für mich zunehmend mit etwas zu viel düsterer Mystik beladen, aber dennoch rund, mit großem Sprachvermögen und äußerst atmosphärischen Naturbeschreibungen. Ein neuer Autor, den ich mir gerne merken werde.

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. C.H. Beck 2024
www.chbeck.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024:

Neige Sinno: Trauriger Tiger

  Lebenslang

Eine besonders gravierende Form von Traumatisierung erleidet, wer als Kind sexuelle Gewalt durch eine Bezugsperson erfährt. Obwohl jede Vergewaltigungsgeschichte einzigartig ist, ähneln sich die Folgen: Lebenslang drängen sich Erinnerungen auf, Heilung im Vergessen gibt es nicht.

Die heute in Mexiko lebende, 1977 in den französischen Alpen geborene und dort aufgewachsene Literaturwissenschaftlerin und Autorin Neige Sinno beschreibt es so:

Doch wohin auch immer ich ging, in welchem Augenblick auch immer – ich wandte mich um sah seinen Schatten. (S. 177)

Gestohlene Kindheit
Neige Sinno hat erlebt, worüber sie in ihrem 2023 in Frankreich erschienenen und vielfach ausgezeichneten autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger schreibt, einem erzählenden Sachbuch in Ich-Form. Im Alter zwischen etwa sechs oder sieben und vierzehn Jahren wurde sie fortgesetzt von ihrem Stiefvater missbraucht, seiner Aussage nach nicht aus sexuellem Interesse, sondern aus Liebe und von ihr dazu getrieben, da er anders nicht mit dem widerspenstigen Kind nicht in Kontakt treten konnte. Erst als Studentin in den USA und aus Sorge um ihre jüngeren Halbgeschwister öffnete sie sich ihrer wohl tatsächlich ahnungslosen Mutter und gemeinsam erstatteten sie Anzeige. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen wurde ihr sofort geglaubt, zumal der Täter geständig war. Während er jedoch nach einigen Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen und mit einer jüngeren Frau eine zweite Familie gründen konnte, währt ihre Beschädigung fort:

Damaged for life. (S. 190)

Nicht schweigen
Trauriger Tiger ist nur zum kleineren Teil Tatsachenbericht und einen Missbrauch durch Voyeure halte ich damit glücklicherweise für nahezu ausgeschlossen. Vielmehr setzt sich Neige Sinno mit den Fragen nach dem Warum, Schuld, Strafe, Täterpsychologie, Folgen für die Überlebenden, dem juristischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang damit früher und heute und – besonders ausführlich – mit der Verarbeitung in der Weltliteratur auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Motivation für das Buch, denn sie, die stets jegliche Therapie ablehnte, glaubt nicht an die Mär vom Schreiben als Therapie:

In Wahrheit geschieht das Gegenteil, das heißt, derjenige, der schreibt, zeichnet usw. ist de facto der Hölle bereits entkommen, nur deshalb kann er schreiben. (S. 94)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. © B. Busch. Cover: © dtv.

Für Neige Sinno stehen Wahrheitssuche und der Bruch des Schweigens im Vordergrund, jedoch weder mit Hilfe eines rührseligen Opferbuchs noch in Form von Literatur, sondern als Lebensbericht, wozu die unspektakuläre, emotionsarme und bisweilen brutale Sprache passt.

Kein Happy End, aber ein kleiner Triumph
Es war mir nicht immer möglich, den Gedankengängen einer Betroffenen zu folgen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Thema Missbrauch aus allen erdenklichen Blickrichtungen beschäftigt. Über manche Absätze und sich wiederholende Gedankenkreisel habe ich deshalb hinweggelesen und trotzdem aus dem sehr eindrücklichen Rest enorm viele Informationen und Denkanstöße mitgenommen. Nicht immer glücklich war ich mit der gewiss schwierigen Übersetzung: Eine Wendung wie „Er ließ sich einfach sterben.“ (S. 70) existiert im Deutschen nicht und ist missverständlich. Bei der Übertragung der abgedruckten Zeitungsartikel störten mich inhaltliche Ungenauigkeiten wie beispielsweise „son object sexuel“, das zu „ein Sexualobjekt“ (S. 85) wird – ein kleiner, aber nicht unbedeutender Unterschied.

Ein Happy End für die Überlebenden kann es nicht geben, aber dass Neige Sinno mit bewundernswerter Resilienz den Kopf knapp über Wasser hält, wie die Schwimmerin auf dem Cover, ist dennoch ein kleiner Triumph:

Stolpern, das schon, aber, noch einmal, nicht fallen. Nicht fallen. Nicht fallen. (Schlusssätze S. 296)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. dtv 2024
www.dtv.de

Kirsten Boie: Skogland brennt

  Topaktueller Politthriller für ältere Jugendliche

Das Kinderbuch Skogland, erschienen 2005, ist für mich einer der besten modernen Kinderromane und sticht auch im herausragenden Werk von Kirsten Boie noch hervor. Wie die Autorin für Kinder ab 11 Jahren vom großen Abenteuer der schüchternen 14-jährigen Jarven aus einer norddeutschen Kleinstadt erzählt, die sich plötzlich als Prinzessin des fiktiven nordeuropäischen Skogland wiederfindet und dort zum Spielball in den politischen Auseinandersetzungen zwischen dem dominierenden Süden und dem unterdrückten Norden wird, ist ebenso spannend wie lehrreich.

In der Fortsetzung aus dem Jahr 2008, Verrat in Skogland, gerät die junge Demokratie im inzwischen vereinigten Königreich Skogland durch einen Putschversuch in große Gefahr und Jarven, die noch mit ihrer neuen Rolle als Prinzessin kämpft, steht erneut mittendrin. Beide Bände handeln gleichermaßen von der Entwicklung der Protagonistin wie von politischen Themen: Rassismus, Einwanderung, Unterdrückung, Machtmissbrauch, Aufstand, Diktatur und Demokratie.

© B. Busch. Cover: © Kein & Aber, Oetinger.

Ein Jugendroman mit realem Vorbild
2024 hat Kirsten Boie die Reihe nochmals fortgesetzt, wobei sich Skogland brennt, wie man an der furchterregenden Triggerwarnung am Ende des Buchs erkennt, an Jugendliche frühestens ab 15 Jahren richtet. Obwohl man die Vorgängerbände dank eingebauter Erklärungen und Personenregister nicht kennen muss, ist es doch hilfreich. Reales Vorbild der Handlung ist das Attentat des norwegischen Rechtsextremisten Anders Behring Breivik vom 22.07.2011 in Oslo und auf der Insel Utøya. Sowohl der zeitliche Ablauf als auch das Ausmaß an Opfern stimmen überein.

Wie in dem vorzüglichen, wenn auch schwer erträglichen Sachbuch Einer von uns der norwegischen Journalistin Åsne Seierstad über die Breivik-Attentate geht es mit dem Massaker auf der Insel los. Beide Bücher beginnen mit einem rennenden Kind und blenden nach einem kurzen Einführungskapitel zurück.

Kirsten Boie: Skogland-Reihe. Collage: © B. Busch. Cover: © Oetinger.

Alte Seilschaften und jugendliche Ungeduld
Jarven, halb Süd-, halb Nordskogin, hat sich nach knapp zwei Jahren inzwischen in Skogland eingelebt. Die zunächst feindlich gesinnte Südskogin Ylva von Thunberg ist ihre beste Freundin, Joas, der Sohn des neuen Innenministers aus Nordskogland, ihr Freund. Trotz eines Gesetzes zur Gleichstellung beider Landesteile kehrt in Skogland keine Ruhe ein. Junge nordskogische Rebellen verüben Anschläge, weil ihnen die Angleichung zu langsam geht. Radikale Südskogen nutzen diese für ihre Zwecke, kämpfen gegen den Verlust ihrer Privilegien, sabotieren die neue Regierung und gründen die Arisch Patriotische Partei (APP). Durch Intrigen und Fake-News in den sozialen Medien wollen sie das Rad der Geschichte zurückdrehen.

Während Jarven und Ylva ein gemeinsames Sommercamp für nord- und südskogische Jugendliche auf der Insel Sommarsö planen, radikalisiert sich ihr Mitschüler Hjalmar von Söderberg, ein größenwahnsinniger Außenseiter und Schulverweigerer aus altem südskogischem Adel, immer mehr. Er fühlt sich zum Retter der arischen Rasse berufen und ordert im Darknet Materialien zum Bombenbau und Waffen. In 137 kurzen Kapiteln aus wechselnder Perspektive entwickelt sich temporeich das unheilvolle Geschehen.

Terror versus Vision
Wie immer in ihren Kinder- und Jugendbüchern traut und mutet Kirsten Boie ihren Leserinnen und Lesern sehr viel zu, selbst mir als Erwachsener stockte immer wieder der Atem. „Show, don’t tell“ ist oberstes Gebot, nirgends sieht man den mahnenden Zeigerfinger. Stattdessen stellt die Autorin dem größenwahnsinnigen Faschisten und kaltblütigen Mörder, der sich als erbärmlicher, isolierter Feigling entpuppt, die Vision von einem besseren Skogland gegenüber, für das es jedoch Geduld, Großzügigkeit, Mut, Vertrauen und verlässliche Freundschaften braucht. Schade nur, dass der Verlag die Umschlaggestaltung KI anvertraut hat, anstatt einen Illustrator oder eine Illustratorin zu beauftragen.

Ein topaktueller, höchst spannender, großartig geschriebener Jugend-Politthriller mit einem starken Plädoyer für Gerechtigkeit, Toleranz und Zusammenhalt.

Kirsten Boie: Skogland brennt. Oetinger 2024
www.oetinger.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Kirsten Boie auf diesem Blog:

                   

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio

  Zwischen Krähwinkel und Idylle

Vier Jahre lang hatte der Schriftsteller Anšlavs Eglītis (1906 – 1993) während seines Exils in Tailfingen auf der Schwäbischen Alb Zeit, die Eigenheiten der Älblerinnen und Älbler und ihr Miteinander zu studieren. 1944 aus seiner Heimat Lettland vor der vorrückenden Roten Armee geflohen und in Berlin ausgebombt, strandete er Anfang 1945 auf dem Weg in die Schweiz zufällig in der schwäbischen Kleinstadt, die er erst 1949 Richtung USA wieder verließ. Diese Eckdaten stimmen, obwohl das 1951 im US-Exil erschienene Buch Schwäbisches Capriccio gewiss keine Autobiografie ist, mit denen seines Protagonisten Pēteris Drusts überein. Auch der will zunächst nur eine Nacht in „Pfifferlingen“ bleiben:

Was für eine lächerliche Vorstellung, ohne Not in diesem unbedeutenden Nest zu bleiben. (S. 15)

In 20 Episoden, in denen Pēteris Drusts nicht immer selbst auftaucht, werden die Pfifferlingerinnen und Pfifferlinger auf höchst unterhaltsame Art lebendig. Manche tauchen mehrmals auf, bei anderen weiß man es wegen häufiger Namensgleichheit nicht genau, denn bei den Vor- und Nachnamen herrscht wenig Kreativität. Überhaupt ist der Gleichklang in Pfifferlingen groß: die Hausfrauen führen ihre Arbeiten synchron durch, alle Einwohnerinnen und Einwohner haben die gleichen roten Wangen, mutmaßlich wegen der arktischen Temperaturen in den ungeheizten Schlafzimmern, und die „Liliputhäuschen“ sind einheitlich weiß und adrett.

Am Ende der Welt
Warum aber bleibt der studierte Weltbürger Drusts trotz des merkwürdig unverständlichen Dialekts, der sprichwörtlichen Sparsamkeit bis hin zum peinlichen Geiz, dem ungenießbaren Most, der allgemeinen Schläfrigkeit und bisweilen Einfältigkeit, sonderbaren Traditionen, dem Beharren auf dem Althergebrachten, der übersteigerten Standorttreue und der Ignoranz der Welt draußen trotzdem ganze vier Jahre in diesem „schlimmen Krähwinkel“? Schon als seine Zimmerwirtin ihm die erste Mahlzeit serviert, schwant ihm, solche „Provinznester“ könnten ihre Vorzüge haben. Und wirklich:

In ganz Europa tobte der Krieg, aber in Pfifferlingen bekam man davon so gut wie nichts mit. (S. 59)

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz.

Nach der Trümmerstadt Berlin ist Pfifferlingen zwar ein überaus spießiges Provinzstädtchen, dafür aber intakt und gepflegt und mit optimal an ihren Mikrokosmos angepassten Einheimischen. Man grüßt freundlich, nie herrscht Eile, ein natürlicher Widerspruchsgeist sorgt für den kreativen Umgang mit Anordnungen von oben oder außerhalb und Ausländern geht es „eindeutig besser als in Preußen“ (S. 43), ein Landstrich, der bei Drusts nach den verhassten Russen ebenfalls schlechter wegkommt als Schwaben. Beim Abschied schwingt daher Wehmut mit:

Er verspürte eine eigenartige Wärme gegenüber dieser fremden Stadt, die ihm einen friedlichen und behaglichen Unterschlupf gewährt hatte. (S. 294)

Nicht nur heiter
„Ein ungewöhnliches Buch, das in keine Kategorie passen will“, nennt der Übersetzer Berthold Forssman Schwäbisches Capriccio in seinem vorzüglichen Nachwort, und das Titelblatt nennt keine Genrezuordnung. Für mich ist es trotz der Einzelepisoden ein Roman: mit der Kleinstadt Pfifferlingen als durchgängigem Protagonisten und einem Schlusskapitel, das virtuos den Bogen zum Anfang schlägt, was das Buch großartig abrundet.

Auch oder gerade als Schwäbin habe ich Schwäbisches Capriccio mit großer Freude gelesen und darüber gegrübelt, was davon schwäbisch, deutsch oder einfach ländlich ist. Ich habe über die grotesk überzeichnete Pfifferlinger Einfalt, die messerscharfe Beobachtungsgabe des Autors und seine humorvoll-bissige Erzählweise gelacht, wurde ernst bei Themen wie der sowjetischen Okkupation Lettlands oder der zweifelhaften deutschen Entnazifizierung oder war gerührt von Pfifferlinger Befindlichkeiten, Drusts Heimweh oder seinem Liebeskummer.

Ein weiterer neuentdeckter Klassiker aus dem Verlag Guggolz, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman. Guggolz 2024
guggolz-verlag.de

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder

  Ein Fels in der Brandung

Was könnte sich besser als Vorlesestoff auf einer langen Reise durch Norwegen eignen, als die weltweit in über 12 Millionen Exemplaren verkaufte und in über 30 Sprachen übersetzte Björndal-Trilogie von Trygve Gulbranssen (1894 – 1962)? Die historische Familiensaga aus dem ländlichen Ost-Norwegen umfasst die Bände Und ewig singen die Wälder, im Original 1933 erschienen, und die auf Deutsch unter dem Titel Das Erbe von Björndal zusammengefassten Teile zwei und drei von 1934/35.

Zwei verfeindete Höfe
Und ewig singen die Wälder
beginnt in den 1760er-Jahren. Zwischen dem Dorf im offenen Land mit dem mächtigen Hof Borgland der Adelsfamilie von Gall und dem aufstrebenden Björndaler Waldhof herrschen seit jeher Misstrauen und Vorurteile:

Aber sie kamen einander nicht nahe, die Menschen aus den Wäldern und die aus dem offenen Land. Nie hatten sie miteinander gesprochen. Stolz gingen die aus dem offenen Land an den Waldleuten vorbei, wenn sie sich trafen – hielten sie für Pack und Schlimmeres und begegneten ihnen nicht gern in der Dunkelheit. […] Man hielt sie kaum für Christen, und Zauberei, Zügellosigkeit und wüste Schlägereien wurden ihnen nachgesagt. (S. 9)

Während in der Siedlung im offenen Land der einstmals wertlose Wald zugunsten von Wiesen, Äckern und Viehzucht gerodet und damit jegliche Verbindung zur Wildnis unterbunden wurde, leben die Björndaler noch nahe an der unkultivierten Natur und pflegen ihre Traditionen:

Und nördlich vom offenen Land hatte der Wald seit jeher bestehen dürfen. Dunkel und mächtig sang er sein altes Lied über Höhen und Hänge unendlich nach Norden fort. Trolle, Huldren und Spuk aller Art waren dort zu Hause. (S. 8)

Drei Generationen der starken, immer reicheren Björndaler begleitet der erste Band der Trilogie: Torgeir Björndal, seine Söhne Tore und Dag, die mit Hilfe des Handelshauses Holder in der Stadt erfolgreich Geschäfte machen, und Dags Söhne, wiederum Tore und Dag genannt. Beide Dags überleben ihre Brüder, beide heiraten Frauen aus der Stadt: der alte Dag die reiche Erbin Terese Holder, der junge Dag die verarmte Majorstochter Adelheid Barre.

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Ullstein.

Die lange Kette
Und ewig singen die Wälder ist ein Roman im romantischen Stil, inspiriert von norwegischen Volkserzählungen und Berichten über die bäuerlichen Vorfahren des Autors aus dem Mund seiner Mutter. Stets steht die Bedeutung des Geschlechts über der des Einzelnen, begreifen sich die Björndaler als Glieder einer Kette aus Vor- und Nachfahren. Zentral sind die inneren Kämpfe des alten Dag, seine kaum beherrschbaren Rachegelüste, sein Hadern mit Gott, sein Stolz, aber auch sein Verhältnis zur Barmherzigkeit.

Ein unverwüstlicher Roman
Zu Unrecht wurde Trygve Gulbranssen nach 1945 Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen. Im Gegensatz zu seinem deutschen Verlag Langen-Müller hielt er sich bewusst von den Nazis fern und teilte die Ideologie der deutschen Besatzer nicht.

Auch wenn der Roman mit seiner epischen Erzählweise, seiner Pathetik und seinem Rollenbild heute etwas aus der Zeit gefallen scheint, lohnt sich die Lektüre auch fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen noch: wegen seiner Schilderungen der Natur im Kreislauf der Jahreszeiten, der unbeugsamen Menschen und des ländlichen Milieus seiner Zeit. Deshalb möchte ich unbedingt bald die Fortsetzung lesen über die Björndaler und ihren Hof, der wie ein Fels in der Brandung steht:

Jahre vergingen, die Zeiten änderten sich draußen in der Welt; doch auf Björndal blieb alles beim alten. (S. 85)

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder. Übersetzt von Ellen de Boor. Ullstein 1978