Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten

   Eingeweideschau

Ein Roman über vier Generationen einer Familie und ein ganzes Jahrhundert ist üblicherweise ein dicker Wälzer mit penibel recherchierten Details und gegebenenfalls fiktionaler Überbrückung von Leerstellen. Es geht aber auch ganz anders. Anna Maschik, 1995 geborene Autorin aus Österreich, die bisher Kurzprosa und Lyrik veröffentlicht hat, schafft ein solches Panorama auf nur 232 großzügig gesetzten Seiten in Fragmenten und lässt Leerstellen bewusst offen oder füllt sie mit magischem Realismus. Das mag ungewöhnlich klingen und ist es natürlich auch, aber es gelingt dermaßen gut, dass ihr Erstling Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten zurecht als einer von sechs Titeln auf der Longlist zum Debütpreis im Rahmen des Österreichischen Buchpreises 2025 steht.

Vier Frauen prägen die Familie
Anna Maschik konzentriert sich in ihrem von der eigenen Familiengeschichte inspirierten Roman ganz auf die Frauen. Henrike, Bäuerin auf einem Hof an der deutschen Nordsee, geboren am 1. Januar 1901, die den jüngeren Brüdern früh die Mutter und im Krieg auf dem Hof Mann und Sohn ersetzen muss, schlachtet aus Not illegal Schafe, weil die im Gegensatz zu Schweinen still sterben. Ihre Tochter Hilde will keinesfalls Bäuerin werden, heiratet einen österreichischen Soldaten und leidet unter Heimweh. Miriam, die dritte in der Reihe, entkommt nur knapp Hildes Abtreibungsversuch und erzieht ihre Tochter Alma, Ich-Erzählerin des Romans, allein.

Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Luchterhand.

Alma wiederum spürt dem Schicksal ihrer Vorfahrinnen, aber auch der Vorfahren nach, die bei jedem Todesfall auftauchen und die Sterbenden in Empfang nehmen. Ständige Begleiterinnen sind außerdem Anna, die Hebamme, und Nora, die Totenfrau, die, wie Alma bei Miriams Tod erstmals bemerkt, „einander sehr ähnlich sehen“ (S. 230). Indem sie die Bruchstücke zusammenträgt, in den Innereien wühlt, wie Henrike einst in den Innereien der geschlachteten Schafe, ergründet sie die Auswirkungen vergangener Leben auf ihr eigenes und was ihr in die Wiege gelegt wurde:

Ich möchte mich vorstellen, ich bin Alma, und meine Erzählung ist eine Eingeweideschau. Leber, Lunge, Herz und Magen werden auf ihre Beschaffenheit untersucht. (S. 8)

Familienerbe
Vieles wiederholt sich. Henrike und Hilde singen nur für eines ihrer Kinder Schlaflieder, die benachteiligten beneiden ihre Geschwister, während diese wiederum unter ihrer Verantwortung leiden. Erst Miriam durchbricht die Kette, indem sie dem Drängen von Alma nach einem Geschwisterkind nicht nachgibt. Alle Frauen haben ein schwieriges Verhältnis zu ihren Töchtern, jedoch eine besondere Beziehung zur Natur und zu Gärten. Henrike, Hilde und Miriam sind gefangen in Sprachlosigkeit, bei Hilde und Miriam von ihren Müttern verordnet, im Buch spürbar durch unbedruckten Raum. Alma bricht dieses Schweigen, indem sie fragmentarisch die Familiengeschichte aufschreibt, in Anekdoten und in Listen, einer weiteren Besonderheit dieses Romans:

SYNONYME FÜR »FRÜHER «:
Im Norden
Im Krieg
Im Dorf
Daheim (S. 102)

Obwohl ich magischen Anteilen in Geschichten sonst eher kritisch gegenüberstehe, haben sie mich hier überhaupt nicht gestört, sondern im Gegenteil die Realität in eigentümlicher Weise verstärkt: ein Sohn, der die ersten 15 Jahre seines Lebens verschläft, ein anderer, der zum Wolf wird und ein dritter, der verholzt, oder Miriam, die am Ende ihres Lebens – ein wunderschönes Bild – als Zitronenbaum erblüht.

Anna Maschik ist mit ihrem innovativen, manchmal springenden Erzählstil, ihrer Sprachsensibilität und vielfältigen Metaphern ein ganz außerordentliches Debüt gelungen. Eine neue Stimme, auf deren weitere Werke ich sehr gespannt bin.

Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten. Luchterhand 2025
www.penguin.de/verlage/luchterhand-literaturverlag

Peter Huth: Aufsteiger

 Kurskorrekturen

Die Karriere des ehrgeizigen Journalisten Felix Licht kannte bisher nur eine Richtung: nach oben. Dafür hat er Familie, Privatleben und Gesundheit hintangestellt und lebt in Erwartung weiteren Aufsteigens auf zu großem Fuß. Um den Gipfel in Gestalt des Chefredakteurspostens bei der bedeutenden Wochenzeitschrift „Das Magazin“ zu erreichen, schreckt er auch vor Königsmord an seinem Mentor, Förderer und Freund Richard Leck nicht zurück, doch kommt ihm der mit der Kündigung zuvor. Seit das Blatt vom neureichen Ehepaar Christian und Charlotte Berg übernommen wurde, die ihr Riesenvermögen mit Kleidung für Neurechte gemacht haben und dieses Image nun unbedingt loswerden möchten, rückt Felix‘ Ziel in immer greifbarere Nähe, nun ist er sich seiner Sache sicher:

Er fühlte sich wie ein Alpinist, der im Schatten eines gewaltigen Berges aufgewachsen war und nun nach vielen Jahren und Aufstiegsversuchen nur noch wenige Meter bis zum Gipfel vor sich hatte, das Ziel fest im Blick. Er war viel zu nah dran, als dass er noch scheitern könnte. (S. 35)

Peter Huth: Aufsteiger. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Droemer.

Verkalkuliert
Der Schlag trifft ihn ebenso unvorbereitet wie hart, plötzlich ist nicht nur Richard Leck, sondern auch Felix Licht ein alter weißer Mann. Ihm, der sich mit seinen 48 Jahren noch zum journalistischen Nachwuchs im besten Alter zählte, wird dank der Fürsprache von Charlotte Berg ausgerechnet die 31-jährige woke, schwarze Zoe Rauch vorgezogen, eine Frau mit einem „ausgezeichneten Ruf in genau dem Milieu, das das Magazin bislang strikt ablehnte“ (S. 76). Vor zwölf Jahren war sie seine begabteste Volontärin. Um ein Haar wäre er damals ihrer Schönheit und ihrem Charme erlegen und hätte für sie sein „Spießerleben“ (S. 71) riskiert. Nun ist sie plötzlich wieder da – unter umgekehrten Vorzeichen, aber ebenso anziehend. Innerhalb weniger Stunden bricht für Felix Licht alles zusammen: Karriere, Ansehen, Familie. Warum also nicht auf das Angebot des rechten Hetzbloggers und Anwalts Cornelius Sentheim eingehen und auf Diskriminierung wegen Alters, Geschlechts und Hautfarbe klagen, um wenigstens die finanziellen Probleme abzufedern?

Auf und Ab
Aufsteiger
ist ein Roman aus der Berliner Medienwelt, der mich zunächst in Bann gezogen hat. Der Prolog in den Räumen der Gerichtsmedizin macht neugierig, die Niederlage des selbstmitleidigen Ehrgeizlings Felix Licht erzeugt Schadenfreude und die Schilderung der prekären Lage der Printmedien ist interessant. Dass der 1969 geborene Autor Peter Huth heute Unternehmenssprecher bei Axel Springer ist und früher als Journalist unter anderem Chefredakteur der B.Z. und der Welt am Sonntag war, steht für tiefe Kenntnis der bundesdeutschen Medienszene.

Allerdings flaute meine Begeisterung im Mittelteil deutlich ab, denn die Diskussionen in der Redaktion und den rechtspopulistischen sozialen Medien über Klimakleber, Windkraft, Indianer, Gendersternchen und Transpersonen wirken – wenn auch nicht abschließend gelöst – entsetzlich abgedroschen. Ausgetauscht werden altbekannte Argumente, die mich  angesichts der schweren aktuellen Krisen wie Ukraine- oder Gazakrieg noch weniger ineressieren als damals und mit denen ich mich einfach nur gelangweilt habe. Gestört hat mich außerdem, dass es durchgängig nur radikale Charaktere gibt, die zudem jedes erdenkliche Klischee erfüllen: radikal ehrgeizig, geltungssüchtig, (pseudo-)feministisch, rechtspopulistisch, wertefrei, selbstmitleidig, reich…, keinerlei Grautöne, und für mich damit ohne Möglichkeit zur Anknüpfung.

Im letzten Teil hat mich die Handlung allerdings wieder eingefangen, trotz der extremen Wendungen, so dass Aufsteiger, nicht zuletzt wegen des dynamischen, temporeichen Schreibstils und des Clous im Epilog, trotz der angeführten Schwächen letztlich insgesamt doch eine lohnende Lektüre für mich war.

Peter Huth: Aufsteiger. Droemer 2025
www.droemer-knaur.de

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Staub

  Von wegen igitt!

Nach neun wirklich tollen Romanen für Kinder gibt es mit Staub nun das erste erzählende Bildersachbuch von Silke Schlichtmann, dieses Mal erschienen im Tulipan Verlag. Wer wie sie mühelos gut verständliche Erklärungen für Begriffe wie „Palindrom“ oder „Dimethylsulfid“ in Kinderromane einbauen kann, ist geradezu prädestiniert für ein spannendes Sachbuch. Dass es kein weiterer Band über Ritter, Piraten, Bauernhof oder Dinosaurier geworden ist, hat mich nicht überrascht, denn originelle Einfälle sind typisch für Silke Schlichtmann. Aber ausgerechnet Staub? Igitt!, mag man zunächst rufen und an den Hausputz denken, aber weit gefehlt. Einst selbst „eine klassische Staub-weg-Wünscherin“, bringt sie dieser Materie inzwischen gefühlt ebenso viel Empathie entgegen wie den kleinen Heldinnen und Helden ihrer Romane und hat sich vor allem ein Ziel gesetzt: dem meist ungeliebten Staub zu einem besseren Ruf zu verhelfen. Um zu zeigen, „was Staub so aufregend und klasse macht“, hat sich die promovierte Literaturwissenschaftlerin als Quereinsteigerin tief in die Staubforschung eingelesen und lässt erwachsene Vorleserinnen und Vorleser, aufmerksame Zuhörerinnen und Zuhörer ab sechs Jahren und selbstlesende Grundschulkinder auf ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Weise an ihrem neuerworbenen Wissen und ihrer ansteckenden Faszination teilhaben.

Foto: © B. Busch. Cover: © Tulipan.

„Ohne Staub wäre vieles nichts.“
Auf 38, von Maja Bohn reich, äußerst fantasievoll, witzig und trotz der grauen Materie knallbunt bebilderten Seiten erklärt Silke Schlichtmann, warum der selbst in Reinräumen noch vorhandene Staub absolut unverzichtbar ist: „fürs Wetter, fürs Klima, fürs Essen, für die Kunst, die Wissenschaft, die Schönheit und, und, und“. Zu jedem dieser staubrelevanten Bereiche gibt es anschauliche Erklärungen, kindgerechte Beispiele und manchmal sogar Anleitungen zu einfachen Experimenten. Wie immer nimmt Silke Schlichtmann ihre Zielgruppe ernst, schreckt auch vor komplizierteren Begriffen wie „Mikrokosmos“, „Tyndall-Phänomen“, „Kehrblechparadox“, „Partikelatlanten“ oder „Kieselgur“ nicht zurück, vereinfacht nicht mehr als nötig und fordert zum Mitdenken heraus. Dass es dabei nie – pardon, dämliches Wortspiel – staubtrocken wird, ist ihrem quicklebendigen und fantasievollen Erzählstil, ihrer Begeisterung für die Materie, der direkten Ansprache aus der Ich-Perspektive und den genialen Illustrationen zu verdanken.

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Staub. © Tulipan.
Silke Schlichtmann am 18.02.2020 in Stuttgart. © B. Busch

Wer nach der Lektüre Staub noch immer doof findet, dem ist nicht mehr zu helfen. Ich habe jedenfalls viel dazugelernt und bin dadurch zum Staubfan geworden – mindestens bis zum nächsten Hausputz… Und eines weiß ich genau: Dieses geniale erzählende Sachbuch wird im Kinderzimmerregal – nochmals pardon –  garantiert nicht verstauben.

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Staub. Tulipan 2025
www.penguin.de/verlage/tulipan

 

Weitere Rezensionen zu Kinderbüchern von Silke Schlichtmann auf diesem Blog:

                 

Francesca Melandri: Kalte Füße

  Geschichte als „ominöses Spiegelkabinett“

Mit dem Beginn des Angriffskriegs von Wladimir Putin auf die souveräne Ukraine im Frühjahr 2022 tauchten in den Medien geografische Namen auf, die der 1964 geborenen italienischen Autorin Francesca Melandri aus anderem Zusammenhang bekannt waren: aus Anekdoten und Mythen ihres Vaters vom „Rückzug aus Russland“ im Winter 1942/43, der sich, wie sie nun begriff, vorwiegend in der Ukraine abspielte. Der Plünderungsfeldzug in die Kornkammer des Ostens, der „Krieg für Brot“, den die Italiener ab Sommer 1941 an der Seite Nazi-Deutschlands führten, ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation weitgehend verschwunden. Dagegen hält sich hartnäckig und in bequemer Selbsttäuschung die nationale Opfererzählung vom Rückzug in eisiger Kälte mit unzureichendem Schuhwerk, die dem großen Betrug Mussolinis, der verbrecherischen deutschen Wehrmacht und den russischen Bolschewisten zuzurechnen sind.

Geschichten und Geschichte
Francesca Melandri geht in Kalte Füße zurück zum Holodomor in der Ukraine 1932/33, als aufgrund einer von Stalin provozierten Hungersnot über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer starben. Sie streift die kolonialen Verbrechen Italiens während des Äthiopienkriegs, die im Zentrum ihres sehr empfehlenswerten Romans Alle, außer mir stehen. Zu Beginn von Mussolinis Russlandfeldzug im Sommer 1941 an der Seite der Wehrmacht war Francesca Melandris Vater Franco Melandri (1919 – 2012), Journalist, bekennender Faschist und Leutnant der Alpini, in Griechenland stationiert. Als er im Sommer 1942 in der Ukraine ankam, waren ein Großteil der Juden und Widerständler bereits liquidiert. Die russische Gegenoffensive ab Dezember 1942 zwang die Italiener zum legendären Rückzug. Nur einer von zehn italienischen Soldaten kehrte zurück, darunter Franco Melandri. Nach monatelangem Lazarettaufenthalt wurde er nach Jugoslawien versetzt. Noch Ende März 1945 verfasste er einen glühenden Artikel für den Faschismus, der seine Tochter bis heute fassungslos macht. Mit Unterstützung seines ehemaligen Journalistenkollegen und Partisanen Massimo Rendina (1920 – 2015), den er gerettet hatte und der ihn als „anständigen Faschisten“ bezeichnete, wurde er schließlich rehabilitiert.

© B. Busch

Brief an den toten Vater
Francesca Melandri hat dieses Buch in Form eines Briefes an den Vater, den sie liebte, nicht als seine Richterin oder Anwältin verfasst, sondern in dem Wunsch, zu verstehen: den Vater, der außer in Anekdoten nicht über Krieg und Faschismus sprach, aber auch die Parallelen und Unterschiede zwischen „seinem“ Krieg und dem heutigen. Kalte Füße ist weder „nur“ Roman noch Biografie oder Sachbuch, sondern ein interessanter Genremix, klug aufgebaut, manchmal etwas im Kreis drehend und sehr emotional, ein glühendes Statement für die Ukraine und gegen die zögerliche Ignoranz derer, die Krieg nicht aus eigener Erfahrung kennen und die Tragödie mit warmen Füßen aus der Distanz verfolgen.

Ich habe mir Kalte Füße in der ARD-Audiothek von der hervorragenden Nina Kunzendorf vorlesen lassen, deren Intonierung der Anrede „Papa“ mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken gejagt hat. Obwohl ich ihr sehr gerne zugehört habe, weil sie den Text langsam und gut akzentuiert liest, habe ich gelegentlich das gedruckte Buch vermisst, um Gedankengänge zu wiederholen und mein eigenes Tempo zu wählen.

Gastlandauftritt Italiens auf der FBM 2024 mit einer Veranstaltung des Pen Berlin e.V.: Birgit Schönau (Moderation), Francesca Melandri, Antonio Scurati und Paolo Giordano (von links). Fotos: © B. Busch.

Kalte Füße ist eine hochaktuelle, sehr empfehlenswerte Mischung aus Familien- und Zeitgeschichte, eine Reflexion über Schuld und Verantwortung sowie ein glühendes Plädoyer gegen den aggressiven imperialistischen Kolonialismus Russlands und für Demokratie.

Das Buch ist 2024 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen.

Francesca Melandri: Kalte Füße. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Nina Kunzendorf. Eine Produktion von NDR-Kultur und Bayern 2 in der ARD-Audiothek. 2024
www.ardaudiothek.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Francesca Melandri auf diesem Blog:

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte

 Bei den Nenzen

Nicht nur in Kanada (Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel) oder in Schweden (Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht) wurden indigene Kinder zwangsweise von ihren Eltern getrennt, auch die Sowjetunion verfuhr in gleicher Weise. Die aus Nordwestsibirien stammende, 1951 geborene Autorin Anna Nerkagi, die zur Minderheit des als Rentier-Nomaden umherziehenden Volkes der Nenzen gehört, wurde mit sechs Jahren von den Behörden zur Umerziehung in einem Internat untergebracht. Im Gegensatz zu vielen anderen kehrte sie nach einem Studium 1980 zurück und gründete 1990 eine Schule für nenzische Kinder in der Tundra, in der sie auch unterrichtet.

Weiße Rentierflechte ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman einer nenzischen Autorin und handelt von den schmerzlichen Lücken, die die Wegziehenden hinterlassen, der Konfrontation traditioneller indigener Lebensweise mit der Moderne und der Entfremdung zwischen den Generationen.

Eine Hochzeit wie eine Beerdigung
Das kleine Nomadenlager im Roman besteht nur noch aus zwei kegelförmigen Wohnzelten, sogenannten Tschums, seit ein Jahr zuvor Lamdo, die Frau von Petko, gestorben ist. Wo keine Frau mehr über das Feuer wacht, muss der Mann Unterschlupf bei Nachbarn suchen, denn obwohl die Frauen in völliger Unterordnung leben, sind sie die unbestrittenen Herrinnen des Tschums und seines Feuers. Petkos Tochter Ilne ist seit sieben Jahren nicht mehr zu Besuch gekommen und nicht nur der Vater, der sich in Einsamkeit und Resignation auf seinen Tod vorbereitet, auch der Nachbar Aljoschka, dem sie sich einst versprochen hatte, leidet an gebrochenem Herzen.

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Fotos & Collage: © B. Busch. Cover: © Unionsverlag.

Doch nun kann sich der 26-jährige Aljoschka, der seiner großen Liebe aus Verantwortung für die Familie und die Tradition nicht in die Stadt folgte, dem Drängen der Mutter und der Gemeinschaft zur Hochzeit mit einem für ihn in einem anderen Nomadenlager ausgesuchten Mädchen nicht mehr entziehen:

Das hier ist eine Beerdigung und keine Hochzeit. Heute beerdigt er das, was in ihm lebte, verborgen vor anderen, süß, quälend und freudvoll – das Liebste und Strahlendste, das er in seinem Leben erfahren hat.
Er beerdigt seine Liebe. (S. 11)

Äußerlich beugt sich Aljoschka, aber er rebelliert still, indem er das Mädchen nicht anrührt und sich die Möglichkeit ihrer Rückgabe an die Familie offenhält. Ihr, seiner Mutter und der nenzischen Gemeinschaft fügt er damit eine große Kränkung zu, die die Frauen mit Klugheit und Ausdauer zu überwinden versuchen.

Eine literarische Perle
Anna Nerkagi erzählt diese äußerst bewegende, nur 165 Seiten umfassende Geschichte über das mit der Verantwortung für die Gemeinschaft kollidierende Glück des Einzelnen und den Generationenkonflikt vor dem Hintergrund der archaischen Lebensweise und der Mythen traditioneller Rentier-Nomaden, deren Überleben in menschenfeindlicher Umgebung nur durch Zusammenhalt möglich ist. Ebenso lehrreich wie gut verständlich sind die 14 Seiten umfassenden Erläuterungen, Kleines ABC des nenzischen Lebens im Anhang. In dichter, ruhiger, poesievoller Erzählweise vermittelt der im russischen Original bereits 1996 erschienene Roman tiefe Einsichten in eine unbekannte Welt. Die erste deutsche Ausgabe in der ausgezeichnet zu lesenden Übersetzung von Rolf Junghanns erfolgte 2021 im Verlag Faber & Faber mit Fotos des brasilianischen Fotografen und Friedenspreisträgers Sebastião Salgado, die Taschenbuchausgabe von 2024 stammt aus dem Unionsverlag.

„Vieles, was über kleine Völker geschrieben wird, ist eine Fantasie von Leuten, die durch ein Fernglas auf das Ufer schauen“, schrieb der tschuktschische Autor Juri Rytchëu (1930 – 2008). Für Richard Wagamese, Ann-Helén Laestadius und Anna Nerkagi gilt das glücklicherweise nicht, was ihre Bücher umso wertvoller und höchst lesenswert macht.

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Unionsverlag 2024

 

Rezension zu einem weiteren Roman mit Bezug zum Volk der Nenzen auf diesem Blog:

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich

  Der Preis der Weisheit

Während der Bau der Berliner Mauer im Sommer 1961 die deutsche Teilung zementierte, herrschte in den USA Aufbruchsstimmung. Mit John F. Kennedy stand seit Jahresbeginn ein junger Präsident an der Spitze, erste Radiosender strahlten Sendungen auf UKW in Stereo aus und das Profi-Baseballteam der Minnesota Twins spielte seine erste Saison.

Niemand in der fiktiven Kleinstadt New Bremen, Minnesota, war auf die dramatischen Ereignisse vorbereitet, die das Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und insbesondere der methodistischen Pastorenfamilie Drum so grundlegend erschüttern sollten:

Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. (Prolog, S. 9)

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Piper.

Das Ende der Unschuld
Aus der Distanz von 40 Jahren erzählt Frank Drum weitgehend chronologisch vom schicksalhaften Sommer 1961, als er 13-jährig an der Schwelle zum Erwachsensein stand und zugleich doch ein impulsives, abenteuerlustiges, von den Geschehnissen überfordertes Kind war, das schwer unterscheiden konnte zwischen dem, was es wusste, und dem, was es zu wissen glaubte. Immer an seiner Seite war sein zwei Jahre jüngerer Bruder Jack, ein für sein Alter weiser, ruhig beobachtender Junge, ein stotternder Außerseiter. Beide liebten und bewunderten die 18-jährige Schwester Ariel, auf deren außergewöhnlicher musikalischer Begabung alle mütterlichen Hoffnungen ruhten.

Ruth, die unruhige Mutter, die Hausarbeit, ihr Dasein als Pastorengattin und den unerschütterlichen Glauben ihres Mannes verabscheute, trauerte einer eigenen Musikerinnenkarriere nach. Nathan, ihrem Mann, stand zu Beginn ihrer Verbindung eine glänzende Anwaltskarriere bevor, bis er nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg alles für das Kirchenamt aufgab, um seine nicht näher beschriebenen schweren Traumata in Schach zu halten. Er ist nur einer von mehreren psychisch oder körperlich versehrten Kriegsrückkehrern im Roman. Sein Kamerad Gus, der zum Leidwesen von Ruth Teil der Familie geworden war, betäubte seine Erinnerungen mit Alkohol und war Nathan und seinen Söhnen Freund und Vertrauter.

Nach dem Tod des Kindes beim verbotenen Spiel auf den Gleisen drangen verwirrende Gerüchte an Franks Ohr. War es denkbar, dass der Tod kein Unfall, sondern Selbstmord oder gar Mord war? Zum Grübeln blieb keine Zeit, denn schnell gab es einen weiteren Toten. Die Einschläge rückten immer näher an die Familie heran, deren labiles Gleichgewicht schwer ins Wanken geriet. Doch nicht nur bei den Drums, auch in der zunehmend aufgewühlten Kleinstadt taten sich Abgründe auf und unterdrückte Spannungen traten offen zutage.

Ein Pageturner
Trotz der Todesfälle und der Tatsache, dass der 1950 in Wyoming geborene William Kent Krueger in seiner Heimat ein Bestseller-Krimiautor ist, ist Für eine kurze Zeit waren wir glücklich ein literarischer Entwicklungs- und Familienroman sowie ein sehr gelungenes Gesellschaftsporträt einer US-amerikanischen Kleinstadt zu Beginn der 1960er-Jahre und keine reine Spannungslektüre. Der Auflösung habe ich trotzdem entgegengefiebert und lag, obwohl man sie früher hätte erahnen können, lange falsch.

Die nostalgisch-leise und schmerzhafte Geschichte über Verlust und Trauer, Glaube und Zweifel, Schuld, Vergebung, menschliche Schwächen, Klassenunterschiede, Rassismus und Neuorientierung wird glaubhaft aus der Perspektive eines 13-Jährigen erzählt, gepaart mit der abgeklärten Ruhe des Abstands von vier Jahrzehnten. Den von Tanja Handels in ein angenehmes Deutsch übertragene Roman konnte ich, einmal begonnen, kaum noch aus der Hand legen.

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich. Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Handels. Piper 2013
www.piper.de

Carin Hjulström: Finns inte på kartan

 Kein Bullerbü

Bei einem Berlin-Besuch im Herbst 2022 habe ich die halbe Stadt durchquert, um im Zentrum von Pankow die Buchhandlung Pankebuch mit ihrem Schwerpunkt auf Literatur der nordischen und baltischen Länder zu besuchen. Neben Im Kielwasser von Per Petterson habe ich mir einen leicht zu lesenden Roman auf Schwedisch als Vorbereitung auf den nächsten Schwedenurlaub empfehlen lassen: Finns inte på kartan. Auf Deutsch hätte ich das Buch nicht gelesen, weil leichte Frauenromane nicht mein Genre sind und mich sowohl der Titel Wo der Elch begraben liegt als auch das grotesk unpassende Cover der deutschen Ausgabe abgeschreckt hätten. Auf Schwedisch dagegen und zum Sprachtraining war das Buch genau richtig.

Verbannung aufs Land
Im Mittelpunkt steht die 23-jährige Frida Fors, die in Göteborg Journalismus studiert und mit ihrem charismatischen, begabten, aber rücksichtslos egoistischen Kommilitonen Peter Engström liiert ist. Während alle anderen für das halbjährige Praktikum eine ihrer Wunschadressen zugeteilt bekommen, erhält Frida zu ihrem Entsetzen statt des ersehnten Platzes bei Aftonbladet, Expressen oder Dagens Nyheter in Stockholm die Zuteilung zur Lokalredaktion des Smålandsbladets in Eksjö, Außenposten Bruseryd:

Varför just hon? Varför skulle Frida Fors komma i den dödeste av alla hålor i hela södra Sverige? Och hur i helvete skulle hon kunna göra „ett bra jobb“ […] på en ort där det aldrig hände någonting? (S. 29)

[Warum gerade sie? Warum sollte Frida Fors im totesten Winkel Südschwedens landen? Und wie zum Teufel sollte sie an einem Ort, an dem nie etwas passierte, „gute Arbeit“ leisten?]

Bruseryd ist alles andere als eine Bullerbü-Idylle: Zunehmende Entvölkerung, leerstehende, verfallende Immobilien und verschwindende Infrastruktur setzen dem Ort schwer zu. Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Wut auf die Regierung in Stockholm prägen das Klima und bilden den Nährboden für die heutigen Wahlerfolge der rechtsgerichteten Sverigedemokraterna im ländlichen Südschweden. Womit Frida allerdings nicht gerechnet hat, ist der Sturm der Entrüstung über ihren Artikel, der die Missstände ehrlich benennt. Als sie dann auch noch herausfindet, dass die Telefonbuch-Firma Orte unter 100 Einwohnerinnen und Einwohner nicht mehr in ihren Karten verzeichnen will, schlägt die Empörung in Aktivität um, denn Bruseryd mit seinen knapp 90 darf auf keinen Fall auch noch dort unsichtbar werden! Die Nachricht wirkt als Weckruf in dem verschlafenen Ort, in dem es nicht nur äußere Missstände, sondern auch haufenweise persönliche Probleme gibt…

Carin Hjulström: Finns inte på kartan. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Månpocket.

Für jedes Problem eine Lösung
Finns inte på kartan ist der Debütroman der 1963 geborenen Göteborger Journalistin, Kolumnistin, Fernseh- und Radiomoderatorin Carin Hjulström aus dem Jahr 2009. Bis heute folgten 16 Romane und Cozy Krimis, darunter vier weitere Bücher mit Frida Fors. Die Idee kam der Autorin, die seit ihrer Kindheit die Sommer in Gammelgarn auf Gotland verbringt, bei ihren Autofahrten zwischen Göteborg und dem Fährhafen Oskarshamn, bei denen ihr die allmählichen Veränderungen in den Dörfern Smålands auffielen. Ebenfalls in den Roman eingeflossen sind eigene Erfahrungen als junge Journalistin.

Gammelgarn auf der Insel Gotland, wo Carin Hjulström ihre Sommer verbringt und Finns inte på kartan hauptsächlich geschrieben hat. Bilder & Collage: © B. Busch. Cover: © Månpocket.

Der Roman wäre kein Wohlfühlbuch, würden sich am Ende nicht die meisten der vielen Probleme lösen. Warum die aufgeweckte Frida allerdings 280 Seiten braucht, um Peters Charakter zu durchschauen, blieb mir rätselhaft.

Carin Hjulström: Finns inte på kartan. Månpocket 2010
www.alskapocket.se

Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer

  Ermittlungsakte 40/913/990-07

Statistisch gesehen stirbt weltweit alle zehn Minuten eine Frau oder ein Mädchen durch den Partner oder Ex-Partner, wobei die drei Monate nach der Trennung das höchste Gefahrenpotential darstellen. In Deutschland gab es 2023 laut BKA-Bundeslagebericht 360 Femizide, also Tötungsdelikte aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, Tendenz steigend. In 155 Fällen waren die Täter Partner oder Ex-Partner, in 92 weiteren Familienangehörige.

Deutlich höhere Zahlen weisen Afrika, aber auch Amerika und Ozeanien auf. In Mexiko, wo der Straftatbestand des Femizids 2012 ins Bundesstrafgesetzbuch aufgenommen wurde, sind es zehn pro Tag.

Selten geschehen die Taten ohne Vorlauf. Die US-amerikanische Krankenschwester Jacquelin Campbell hat 1985 eine „Kartografie der Gewalt“ (S. 59) mit 22 Risikofaktoren für häusliche Übergriffe erstellt. Die Vorzeichen nicht erkannt zu haben, ist eine der Ursachen für Schuldgefühle Hinterbliebener.

Eine Akte ersetzen
Schuldgefühle, Scham, Trauer und die fehlende Sprache für den Femizid an ihrer Schwester Liliana Rivera Garza am 16.07.1990 ließen auch die mexikanische Schriftstellerin Cristina Rivera Garza jahrzehntelang stumm bleiben. Nach einer Odyssee durch mexikanische Behörden 2019 jedoch, bei der die Ermittlungsakten unauffindbar blieben, obwohl der mutmaßliche Täter Ángel González Ramoz nie gefasst und angeklagt wurde, fasste sie einen Entschluss:

In Zukunft, sage ich mir, während ich versuche, dem Augenblick zu entfliehen, werde ich mich daran erinnern, dass dies der Moment war, in dem ich erkannt habe, dass ich schreiben muss, um diese Akte zu ersetzen, die vielleicht für immer unauffindbar bleibt. (S. 36)

Entstanden ist ein äußerst persönliches Memoir über das kurze Leben Lilianas, das sie und nicht den mutmaßlichen Täter oder die Tat in den Mittelpunkt stellt, verbunden mit einem Blick auf die strukturellen und gesamtgesellschaftlichen Probleme hinter dem Phänomen Femizid. Getrennt durch einen Altersabstand von fünf Jahren und unterschiedliche Interessen fühlt sich die Autorin Liliana bis heute besonders bei ihrem gemeinsamen Hobby nah: dem Schwimmen.Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Klett-Cotta.

Eine detailreiche Rekonstruktion
Mit Hilfe einer Unzahl von „Heften, Notizen, Aufzeichnungen, Collagen, Plänen, Briefen, Kassetten und Kalendern“ (Nachwort, S. 327), außerdem zahlreichen transkribierten, literarisch aufbereiteten Interviews im Freundes- und Familienkreis der 20-jährigen begabten, freiheitsliebenden, lebenshungrigen und umschwärmten Architekturstudentin, rekonstruiert Cristina Rivera Garza deren Persönlichkeit. Sechs Jahre währte die immer wieder unterbrochene Beziehung zu ihrem späteren Mörder, einem von Wut, rasender Eifersucht, Penetranz und Kontrollzwang getriebenen jungen Mann, der so gar nicht zu Lilianas studentischem Freundeskreis in Mexiko-Stadt passte, und von dem sie sich etwa im Mai 1990 endgültig befreite. Viele Fragen bleiben offen, da die kommunikative Liliana sich ausgerechnet in Beziehungsfragen äußerst bedeckt hielt. Ahnte sie die Gefahr? Warum kehrte Liliana immer wieder in die belastende Beziehung zurück? Eine Antwort darauf gibt die US-amerikanische Journalistin und Expertin für häusliche Gewalt Rachel Louise Snyder:

Opfer partnerschaftlicher Gewalt bleiben in der Beziehung, weil sie wissen, dass jede plötzliche Bewegung den Bären provoziert. (S. 235)  

Die inzwischen überwiegend in den USA lebende und lehrende, 1964 in Mexiko geborene Soziologin und Historikerin Cristina Rivera Garza gehört zu den wichtigsten Autorinnen ihres Herkunftslands. Für Lilianas unvergänglicher Sommer – der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Albert Camus – erhielt sie den Pulitzer-Preis 2024 in der Kategorie Memoiren oder Autobiographie, der seit 2023 vergeben wird.

Ich hätte mir bei den Interviews und Notizen Kürzungen, für die Bilder erklärende Unterschriften gewünscht und streckenweise war mir der Text zu gefühlvoll, wenngleich das aus Sicht der Autorin verständlich ist. Gefallen haben mir die kämpferischen Passagen, die allgemeinen, nüchternen Betrachtungen zum Thema Femizid und besonders die ergreifende Schilderung der lebenslangen Auswirkungen einer solchen Tat auf die Hinterbliebenen.

Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer. Übersetzt von Johanna Schwering. Klett-Cotta 2025
www.klett-cotta.de

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres

  Stürme

In einer Winternacht des Jahres 1900 reißt der Sturm im schottischen Küstendorf Skerry nicht nur Dachschindeln und Schafe weg, fällt Bäume und zerschmettert zwei Boote, er wirft auch einen kleinen, leblos wirkenden Jungen an den Strand. Als der Fischer Joseph ihn am nächsten Morgen findet und durch das Dorf zum Pfarrhaus trägt, werden schlimmste Erinnerungen wach: Vor vielen Jahren verschwand in einer ähnlichen Nacht am Strand Moses, der kleine Sohn der Lehrerin Dorothy, die nach ihrer Ankunft aus Edinburgh immer eine Fremde und Außenseiterin blieb. Er war nachts die Treppe zum Strand hinuntergegangen und spurlos verschwunden. Die einzige Spur war ein zwischen Felsen eingeklemmter Stiefel, den damals ausgerechnet Joseph fand. Die Gerüchte über die Umstände von Moses‘ Verschwinden verstummten nie, denn kurz zuvor hatte man Joseph im heftigen Streit mit Dorothy gesehen, obwohl sich die beiden nach Dorothys Ankunft im Dorf eine Weile für alle sichtbar sehr nahestanden.

Wunschdenken und Vernunft
Da das winterliche Skerry von der Außenwelt abgeschnitten ist und im Pfarrhaus ein lang ersehntes Kind zur Welt kommt, bringt der Pfarrer den geheimnisvollen Jungen bis zur Klärung seiner Herkunft zu Dorothy, die dadurch mit voller Wucht von der Vergangenheit eingeholt wird. Während sie den stummen Jungen aufpäppelt, der ihr in fataler Weise Moses zu ähneln scheint, verschwimmen bei ihr zusehends die Grenzen zwischen Wunschdenken und Vernunft:

In ihrem tiefsten Herzen weiß sie, dass der Junge, der dort oben liegt und schläft, ihr eigener Junge ist, der ihr zurückgegeben wurde, um alles wiedergutzumachen. (S. 264)

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Der Wendepunkt
In ihrem Debütroman Das Geschenk des Meeres erzählt die britische Autorin Julia R. Kelly von einer verschworenen Dorfgemeinschaft, deren Zentrum der Dorfladen von Mrs Brown ist. Dort und im Wirtshaus wird zwar ständig geredet und kommentiert, aber noch viel mehr verschwiegen und verdrängt. Mit der Ankunft des rätselhaften Kindes setzt sich eine Lawine in Gang, in deren Folge sich nicht nur Dorothy und Joseph, sondern auch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner von Skerry endlich der schmerzhaften Vergangenheit und ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Schuld stellen müssen – mit der Aussicht auf Heilung.

Damals und jetzt
Die Abschnitte im Buch mit dem von Franziska Neubert wunderbar passend gestalteten Holzschnitt auf dem Cover sind abwechselnd mit „Damals“ und „Jetzt“ überschrieben, jeweils unterteilt in kurze Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven. Stück für Stück werden Geheimnisse gelüftet, Handlungsfäden glaubhaft verknüpft und erscheinen Figuren in verändertem Licht. Neben so tragischen Themen wie Verlust, Trauer, Schuld, Vergebung, Eifersucht, Missgunst, unerfüllte Liebe, glücklose Ehen und häusliche Gewalt, um nur einige zu nennen, standen für mich die weiblichen Charaktere und vor allem das Thema Mutterschaft in vielen unterschiedlichen Facetten im Mittelpunkt. Vor dem stimmungsvollen Hintergrund einer von Naturgewalten beherrschten Landschaft und einer wie ein Chor raunenden Dorfgemeinschaft erzählt Julia R. Kelly mit viel Feingefühl und Empathie eine spannende Geschichte voller Melancholie über Wendepunkte, darüber, was war, und was hätte sein können, und über Dynamiken in einer abgeschotteten Gemeinschaft.

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Ich habe den gut geschriebenen, virtuos komponierten und von Claudia Feldmann flüssig übersetzten Roman sehr gerne gelesen und mich bestens damit unterhalten.

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann.  mare 2025
www.mare.de

Judith Rossell: Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen

  Hinter der grauen Fassade

Drei Mädchen landen am gleichen Tag im gefürchteten Midwatch-Institut für Waisen, Ausreißerinnen und unerwünschte Mädchen: Maggie Fishbone vom Waisenhaus in einem nahen Fischerort als Strafe für angeblich rüpelhaftes Benehmen, Nell Wozniak mit ihrer Ratte Spike, die ihrem Stiefvater zu viel liest, und Sofie Zarescu, die mit ihrer gebrochenen Hand für ihren Zirkus nutzlos geworden ist. Das Internat gilt als unbarmherzig strenge Anstalt und grauenvolle Institution zur Disziplinierung, doch werden die Mädchen ebenso überrascht wie die Leserinnen. Hinter der grauen Fassade verbirgt sich ein höchst abenteuerlicher Ort, dessen wundervolle Leiterin, Miss Mandely, im Gegensatz zum Waisenhausinspektor nichts von Lieblosigkeit, Zwangsmaßnahmen, Haferschleim und Näharbeiten hält:

Ihr seid alle drei willkommen. Ihr seid jetzt hier zu Hause und ich hoffe sehr, dass ihr hier glücklich werdet. Glücklich und äußerst nützlich. (S. 29)

Judith Rossell: Midwatch. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Penguin junior.

Stattdessen wird Unterricht in Fächern wie Morsen, Tresorknacken, Knotentechniken, Verstecken, Aushecken, Automobilreparatur, Sprachen oder Landkartenlesen erteilt, kurz: „Nützliche Dinge, die jedes Mädchen wissen sollte“, wie sie in Miss Mandelys in Teilen abgedrucktem Ratgeber nachzulesen sind. Diese Fähigkeiten sind für die Schülerinnen unabdingbar für ihre geheimen Undercover-Aufträge:

Wir lösen Rätsel, kämpfen gegen Bösewichte und sorgen für Sicherheit in der Stadt. (S. 77)

Zwar ermitteln zunächst nur die vierte und fünfte Klasse im Fall des „Nachtmonsters“, das die Bewohnerinnen und Bewohner des wohlhabenden Nordviertels in Angst und Schrecken versetzt, aber kaum sind die drei Neuen in die erste Klasse aufgenommen, gibt es Arbeit für die Klassen eins und zwei. Der städtische Bibliothekar Dr. Entwhistle meldet das rätselhafte Verschwinden der Orchideenliebhaberin Miss Fenchurch. Eine dramatische, bisweilen höchst gefährliche Ermittlung mit vielen unerwarteten Wendung beginnt, bei der die Mädchen Mut, Grips, Teamgeist, außergewöhnliche Begabungen und in der Schule erlernte Fähigkeiten beweisen müssen.

Ein überzeugender Kinderkrimi
Der Kinderkrimi Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen der australischen Kinderbuchautorin Judith Rossell hat mich gleich in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Nach dem überraschenden Einstieg gefiel mir besonders die Teamfähigkeit der sympathischen Mädchen beim Lösen des Falles, die ganz ohne Eitelkeiten, Neid, Mobbing, Eifersucht oder Streitereien kameradschaftlich zum Erreichen des gemeinsamen Zieles kooperieren. Für die Zielgruppe ab etwa zehn Jahren dürfte dagegen die spannende und verwickelte Krimihandlung im Vordergrund stehen, die voller Überraschungen ist. Das laut der Autorin von den 1920er-Jahren in einer US-amerikanischen Großstadt inspirierte Ambiente, angereichert durch unterirdische Geheimgänge und Zeppeline jeglicher Größe, wird in ihren mittels einer App auf dem iPad gezeichneten, zahlreichen größeren und kleineren, wie die Schrift in Blau gehaltenen Illustrationen äußerst lebendig.

Judith Rossell: Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen. Illustration S. 70/71: © Penguin junior.

Schön zu lesen ist auch, wie die Schülerinnen mit Hilfe von Miss Mandely und ihren Lehrerinnen zu starken, selbstbewussten Mädchen erzogen und auf eine eigenverantwortliche Zukunft vorbereitet werden.

Hoffentlich gibt es bald mehr Fälle mit den sympathischen Midwatch-Detektivinnen für kleine Leserinnen ab etwa neun Jahren, denn das Potential für eine Serie ist zweifellos vorhanden.

Judith Rossell: Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen. Aus dem Englischen von Bettina Obrecht. Penguin junior 2025
www.penguin.de/verlage/penguin-junior