Annika Büsing: Nordstadt

  Bloß kein Mitleid!

Nene und Boris, beide Mitte 20, sind keine Sonnenkinder. Sie stammen aus dem Norden der Stadt, wo es nicht so schön ist und die Lebensverhältnisse oft prekär sind. Auch für Nenes Vater war der Umzug von der bürgerlichen Südstadt, wo er mit seiner ersten Frau und der gemeinsamen Tochter Alma lebte, in die Nordstadt ein Abstieg. Dem Alkohol verfallen hat er seine zweite Frau und vor allem Nene körperlich und psychisch misshandelt, um den eigenen Frust abzubauen. Nenes Mutter ist an Krebs gestorben, als sie acht war, von da an wechselten sich Gewaltepisoden zuhause und Inobhutnahmen durch das Jugendamt ab, eine Vergewaltigung mit 17 kam hinzu. Nenes Halt und zweites Zuhause war das Schwimmbad, wo sich Trainer um sie bemühten. Mit 18 dann die erste eigene Wohnung, die Ausbildung zur Bademeisterin und eine Anstellung in ihrem Wunschberuf – mit Zielstrebigkeit und Kampf hat sie sich eine Position in der Welt ertrotzt. Geblieben ist eine ohnmächtige Wut auf die Eltern.

© B. Busch

Von einer wilden Wut ist auch Boris durchdrungen. Er ist als Sohn einer verspäteten Hippie-Mutter das Opfer einer fehlenden Impfung gegen Kinderlähmung und leidet unter seinen kraftlosen Beinen, unter Schmerzen, seiner Arbeitslosigkeit und allgemeinem Spott. Der Mutter hat er vergeben, aber Hoffnung für die Zukunft hegt er nicht. Im Gegensatz zur geradlinigen, direkten Nene lügt er das Blaue vom Himmel herunter: aus Scham? Angeberei? Als Grenzüberschreitung?

Einsamkeit, alte Wunden und eine nie versiegende Trauer schleppen beide mit sich herum. Trotzdem vertragen sie eines nicht: Mitleid. Doch während Nene nur ihre Eltern hasst, verabscheut Boris die Menschen im Allgemeinen und vertraut niemandem.

Eine Trotzdem-Annäherung
Weder Nene noch Boris sind auf der Suche nach der großen Liebe, als sie sich zufällig im Schwimmbad begegnen. Sie arbeitet, er braucht ein Schwimmbrett, das sie ihm gegen die Regeln ausleiht. Sein Hinken und seine großen Puma-Augen bemerkt Nene zuerst. Doch eine Liebe auf den ersten Blick ist es trotzdem nicht. Beide können die Schutzwälle, die sie mühsam aufgebaut habe, nur schwer aufgeben. Vor allem Boris ist eklig an seinen schlechten Tagen, von denen er viele hat.

Kein Wohlfühlbuch
Der Debütroman Nordstadt der Lehrerin Annika Büsing wurde 2022 für den Bayerischen Buchpreis nominiert und mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. In drei Kapiteln, die sich wie ein Kreis schließen, denn der Beginn des ersten ist zugleich das Ende des dritten, erzählt Nene von einer ungewöhnlichen Liebe zwischen zwei Versehrten, denen das Leben übel mitgespielt hat. Wie hypnotisiert bin ich Nenes unsortierten Gedankengängen gefolgt, wechselweise angezogen und abgestoßen von der ruppigen, unverblümt-ehrlichen, rotzigen, mal fast poetischen, mal vulgären Erzählweise mit den kurzen, der gesprochenen Sprache entstammenden Sätzen. Die vorangestellte Warnung wegen der Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ist in diesem Falle sicher berechtigt und nur aufgrund der lakonischen, oft ausgesprochen witzigen Stimme Nenes erträglich:

In der Historie von Pärchen, die miteinander schlafen wollen, sind wir das mit den meisten Fehlversuchen. (S. 24)

Trotz seiner nur 128 Seiten ist Nordstadt kein schnelles Buch und man muss die Drastik und Sprunghaftigkeit auszuhalten können. Überzeugt haben mich die außergewöhnliche Erzählstimme, die respektvolle Zuneigung der Autorin zu ihren beiden Antihelden, das Fehlen jeglichen Kitsches und der Mut zu Leerstellen.

Annika Büsing: Nordstadt. Steidl 2022
steidl.de

Javier Marías: Mein Herz so weiß

  Menschliche Abgründe

Lange galt das preisgekrönte Werk des Spaniers Javier Marías in Deutschland als schwer vermittelbar. Zum Durchbruch verhalf ihm das Literarische Quartett vom 13.06.1996, in dem Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Hajo Steinert seinen erstmals 1992 in Spanien veröffentlichten, 1996 ins Deutsche übersetzten Roman Mein Herz so weiß euphorisch lobten und ihn über Nacht zum Bestseller machten. 2022 verstarb der 1951 in Madrid geborene Autor kurz vor dem Gastlandauftritt Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse, Anlass für mich, nun endlich seinen erfolgreichsten Roman zu lesen.

Ein furioser Auftakt
Mein Herz so weiß
beginnt mit einem Paukenschlag, einem Ereignis, das sich etwa 40 Jahre vor Beginn der eigentlichen Handlung zutrug. Völlig überraschend erschießt sich die junge Teresa, ihr Mann Ranz, Vater des Ich-Erzählers Juan, wird zum zweiten Mal Witwer. Juan wird erst einige Zeit nach diesem Drama geboren, seine Mutter ist Ranz‘ dritte Ehefrau und Teresas jüngere Schwester. Über der Tragödie liegt der Mantel des Schweigens.

Wer nun eine Krimihandlung erwartet, wird enttäuscht. Erst auf den letzten Seiten und nach vielen Handlungen an wechselnden Orten wird Teresas Motiv eher zufällig enthüllt, ohne Absicht von Juans Seite:

Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte. (1. Satz, S. 9)

Zuvor berichtet Juan von seiner Hochzeitsreise mit Luisa, wie er in Havanna das dramatische Gespräch eines Liebespaares belauscht, und von seinen Zweifeln und bösen Vorahnungen nach der Eheschließung.

© B. Busch

Viele Variationen verschiedener Themen
Mit nur wenigen Dialogen und in langen, bis ins kleinste Detail eingefangenen Szenen variiert Javier Marías universelle Themen wie Liebe, Leidenschaft, Sex, Ehe, Tod, Verbrechen, Schuld und die Sprengkraft von Geheimnissen:

Du siehst, das eigene Leben hängt nicht von den eigenen Handlungen ab, davon, was man tut, sondern davon, was die anderen von einem wissen, was sie wissen, daß man getan hat. (S. 348)

Als Simultandolmetscher bei großen internationalen Organisationen und Sprachfetischist weiß Juan um die Macht des gesprochenen genauso wie des verschwiegenen Wortes. Herausragend und humorvoll ist die Szene, als er den dröge dahindümpelnden Smalltalk zweier Staatschefs durch kreative Übersetzungen belebt, während die ihm noch unbekannte, als Ko-Übersetzerin Luisa in seinem Rücken zuckt, aber nicht eingreift. Andere Szenen, wie die Partnersuche seiner ehemaligen Kommilitonen Berta, waren mir dagegen zu ausufernd und abstoßend.

Bezüge zu Macbeth und Blaubart
Ich habe Mein Herz so weiß zwar nicht so begeistert gelesen wie Marcel Reich-Ranicki und seine Kollegen, doch kann ich die Einordnung als literarisch perfekt durchkomponiertes Meisterwerk verstehen. Genial verwoben sind die Bezüge zu Macbeth, nicht nur im Romantitel, sowie zum Märchen Blaubart. Allerdings mochte ich die Bandwurmsätze nicht und Juans völlig emotionslose, maximal distanzierte Schilderung seiner Beziehung zu Luisa und der frisch geschlossenen Ehe hat mich befremdet. Den langen philosophischen Gedankengängen Juans bin ich teils mit Freude gefolgt, manchmal haben sie mich aber auch ermüdet.

Ein nicht einfach zu lesender Roman, doch lohnt die Mühe.

Javier Marías: Mein Herz so weiß. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Mit einem Nachwort von Rainer Traub.  Spiegel-Verlag 2006/2007

Interview und Lesung mit Dörte Hansen in Mainz

Die Schriftstellerin und Journalistin Dörte Hansen ist seit März 2022 die 37. Stadtschreiberin zu Mainz. Der Preis wird vergeben von der Stadt Mainz sowie den Sendern ZDF und 3sat.

Am 13.01.2023 war Dörte Hansen zu Gast bei der Buchhandlung Buch, Laden Ruthmann, die die Veranstaltung wegen der großen Nachfrage in den Kirchenraum der Evangelischen Kirchengemeinde Mainz-Hechtsheim verlegte.

Die Journalistin und ZDF-Nachrichtenmoderatorin Barbara Hahlweg moderierte die sehr gelungene Veranstaltung, bestens vorbereitet, unaufdringlich, locker und mit klugen Fragen.

Dörte Hansen berichtete über ihre Aufenthalte in Mainz, über ihr Schreiben und über den „comic relief“ in ihren Büchern, dem Stilmittel der Entlastung schwerer Texte durch Komik. Unterbrochen wurden das Gespräch für drei längere Lesepassagen aus Zur See.

Danke an Dörte Hansen, Barbara Hahlweg und Buch, Laden Ruthmann für eine sehr gelungene, heftig beklatschte Veranstaltung!

© M. Busch
© B. Busch

 

Rezensionen zu Romanen von Dörte Hansen auf diesem Blog:

    Hansen

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

  Der Perlentaucher oder Selbstporträt mit Altpapiercontainer

Containern oder Mülltauchen (engl. dumpster diving, daher auch Dumpstern) bezeichnet die Mitnahme weggeworfener Waren (meistens Lebensmittel) aus Abfallcontainern. (aus: Wikipedia)

 

 

Von ganz anderen Schätzen aus Mülltonnen erzählt der 1968 in Bregenz geborene Arno Geiger in Das glückliche Geheimnis, einem autobiografischen Werk, auch wenn er einschränkt:

Mir ist klar, ein Buch über mich selbst, das ist schwierig, schwieriger als ein Roman. […] Das Erzählte ist nie wahr. (S. 194/195)

Ein Vierteljahrhundert lang, von seiner Studentenzeit in den 1990er-Jahren bis ungefähr zu seinem 50. Geburtstag, drehte Arno Geiger in Wien regelmäßig seine „Runden“, tauchte in Räuberkleidung in Altpapiertonnen, holte sich Schrammen, blaue Flecken, gebrochene Rippen, Bänder- und Muskelverletzungen. Was mit dem Zufallsfund von fünf Bananenkartons voller Bücher begann, sicherte zunächst dem Studenten, später dem zunächst erfolglosen Autor auf Flohmärkten oder bisweilen im Auktionshaus ein Auskommen, befriedigte seine Abenteuerlust, bot einen körperlichen Ausgleich an der frischen Luft zur sitzenden Tätigkeit am Schreibtisch, half beim Frustabbau und wurde in Form von Tagebuch-, Brief- und anderen persönlichen Funden zur unerschöpflichen Quelle für seine Schriftstellerei. Das Individuelle, Zufällige, Authentische in Briefen und Alltagstexten, der unzensierte Sprachgebrauch und Erfahrungen außerhalb seiner Lebenswelt schärften seine Menschenkenntnis und sein Einfühlungsvermögen, für das ihn der Literaturkritiker Denis Scheck ein „Empathiemonster“ nannte. Mit den geretteten Büchern, Briefmarkensammlungen, lithografierten Postkarten, Druckgrafiken, Plakaten, alten Comics, historischen Wertpapieren und anderem ausrangierten Papiergut verband ihn „so etwas wie Zärtlichkeit“ (S. 96), eine Zuneigung, die wohl jeder Papierfan problemlos nachempfinden kann.

© B. Busch

Rückschläge und Erfolge
Doch Das glückliche Geheimnis ist mehr als die Enthüllung einer überaus sympathischen Leidenschaft, die erst jetzt ans Licht kommt, wo sie aufgegeben ist, und für die er, das Mittelstandskind, sich anfangs als einer „Grenzüberschreitung nach unten“ (S. 20) schämte. Parallel erzählt Arno Geiger vom mühsamen Werden eines Schriftstellers, von Talent, Training, Sturheit, Fleiß und Frustrationstoleranz, von Konflikten mit dem Hanser Verlag, der nach ersten finanziellen Misserfolgen auf Abstand ging, von seinem treuen Lektor, von Stipendien, vom Durchbruch 2005 mit Es geht uns gut, für das er den erstmals verliehenen Deutschen Buchpreises erhielt, vom darauf folgenden Burnout, von Bestsellern wie beispielsweise 2011 Der alte König in seinem Exil und zuletzt 2018 Unter der Drachenwand, von der Demenzerkrankung seines Vaters, dem Schlaganfall der Mutter und weiteren Tragödien im Familien- und Freundeskreis, von seiner Liebe zu seiner Frau K., aber auch – und nur das für mich zu ehrlich und detailliert – von seinem lange chaotischen Beziehungsleben.

Weiterschreiben!
Im letzten Teil des Buches geht Arno Geiger dann über das Private hinaus, sinniert über die Bedeutung des Mülls für die Kulturwissenschaften, über Sammeln und Wegwerfen als Kulturtechnik, die sich verändernde Zusammensetzung des Papiermülls, alles in glasklar formulierten, gut nachvollziehbaren Gedankengängen, denen ich sehr gerne gefolgt bin:

Das ist es, worum es mir in der Literatur geht: das Leben sichtbar und dadurch verständlicher machen. (S. 97)

Immer hatte ich dabei auch meine eigene Papiertonne vor Augen und versuchte, sie mit seinem kritischen Blick zu durchwühlen.

Eine Überlegung allerdings wird für Arno Geiger hoffentlich noch lange nicht aktuell:

Wie mache ich das, mit der Kunst zu enden? (S. 217)

Wer so rundum gelungen, unterhaltsam, anregend, reflektiert, liebenswert, erfrischend offenherzig und selbstironisch zu schreiben versteht, bleibt dem Buchmarkt hoffentlich noch sehr lange erhalten.

Livestream aus dem Literaturhaus Hamburg mit Arno Geiger und Moderatorin Anne-Dore Krohn am 31.01.2023. © B. Busch
© B. Busch

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Arno Geiger auf diesem Blog:

 

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

  Das Elimane-Puzzle

1968 gewann Yambo Ouologuem (1940 – 2017) aus Mali den Prix Renaudot für seinen Debütroman Le Devoir de violence und verschwand nach Plagiatsvorwürfen von der Bildfläche. Dieses Ereignis lieferte dem 1990 im Senegal geborenen Mohamed Mbougar Sarr die Anregung für seinen 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten vierten Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen.

Ein Kultbuch aus dem Nichts
Elimane Madag Diouf
, ein 1935 geborener Senegalese, kommt 1935 zum Studium nach Frankreich. 1938 veröffentlicht er unter dem Namen T.C. Elimane Das Labyrinth des Unmenschlichen, ein Kultbuch, das jedoch sowohl in den positiven als auch den negativen Pressestimmen auf die Herkunft und Hautfarbe des Autors reduziert wird. Als ein rassistischer Afrika-Ethnologe zudem Lügen verbreitet und ein Kritiker Plagiatsvorwürfe erhebt, verschwindet das Buch komplett vom Markt, der Verlag geht Pleite, Elimane verstummt und wird zur Legende.

Suche nach einem Fantom
2018
spielt der Zufall in Paris ein verbliebenes Exemplar in die Hände eines weiteren literarisch ambitionierten Senegalesen: Diégane Latyr Faye. Von nun an ist er von der Idee besessen, Elimanes weiteren Lebensweg zu rekonstruieren und das Rätsel um sein Schweigen zu lösen. Beharrlich sammelt er Puzzlesteine, zunächst im Pressearchiv, dann hauptsächlich mit Hilfe von Frauen aus Elimanes Umfeld: seiner Verwandten und ebenfalls senegalesischen Schriftstellerin Marème Siga D., seiner ehemaligen Verlegerin Thérèse Jacob, der Journalistin Brigitte Bollème und einer namenlosen haitianischen Dichterin.

© B. Busch

Keine Nebenbei-Lektüre
Mohamed Mbougar Sarr macht es seinem Publikum nicht leicht und verlangt durch die sprunghaften Erzählerwechsel, verschiedene Zeitebenen und Wechsel zwischen Kontinenten ein Höchstmaß an Konzentration. Im ersten Viertel des Romans hätte ich fast aufgegeben, so unübersichtlich schien mir die Polyphonie, so extravagant die Fremdwörter, deren Sinn sich mir manchmal nicht einmal beim Nachschlagen erschloss. Doch Durchhaltevermögen wird hier belohnt und das scheinbare Durcheinander zunehmend beherrschbarer. Die Identifikation der Stimmen und die Vielzahl der Nebenhandlungen und Einzelgeschichten machten mir zunehmend Spaß und die Tatsache, dass man kaum etwas über Das Labyrinth des Unmenschlichen erfährt, stattdessen nur über die ungeheure Wirkung auf die Leserinnen und Leser staunt, hat mich immer weniger gestört. Akzeptieren musste ich jedoch, dass mir garantiert viele Anspielungen und ironische Details verborgen blieben.

Gedanken, die über die Lektüre hinaus wirken
Außergewöhnlich an diesem Roman sind einerseits die deutlich unterscheidbaren Stimmen und das Feuerwerk aus unterschiedlichsten Textsorten wie Berichten, Tagebüchern, Pressemeldungen, Gesprächen, Briefen und mit „Biographem“ überschriebenen Abschnitten, andererseits der teils satirische Blick auf die Literaturwelt, die Darstellung des durch die Kolonisation zerrissenen Senegals und die Gedanken über die ganz besonderen Herausforderungen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem frankophonen Afrika. Das Dilemma beschreibt ein kongolesischer Kollege Diéganes so:

Er [Elimane] bewies, dass sein kulturelles Wissen alles umfasste, um als Weißer zu gelten; doch man hat ihn nur umso nachdrücklicher daran erinnert, dass er ein Schwarzer war. […] Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischster Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört. Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung. (S. 406)

Ein würdiger Preisträger, der das Handwerk des Erzählens ohne Frage beherrscht.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser 2022
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romanen auf diesem Blog:

2019
2016

 

 

 

Meine Lese-Highlights 2022

Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. (Hans Derendinger)

© B. Busch

Meine liebsten Bücher 2022 sind nicht alle in diesem Jahr erschienen, sie haben mich aber im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt und sind zu Freunden geworden. Mein Kriterium ist dabei weder, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, noch die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Titeln, die für mich im genau richtigen Augenblick kamen.

Wie 2022 haben es auch in diesem Jahr wieder 17 Bücher unterschiedlicher Genres auf meine persönliche Hitliste geschafft. Geordnet sind sie nach dem Zeitpunkt meiner Lektüre im Verlauf des Jahres 2022. Ein Schwerpunkt liegt auf der skandinavischen Literatur, nicht zuletzt wegen einer eindrücklichen Norwegenreise im Sommer 2022.

Edvard Hoem: Die Geschichte von Mutter und Vater. Insel 2009
Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger 2022
Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht. Luchterhand 2022

Tania Blixen: Babettes Gastmahl. Manesse 2022
Kristine Bilkau: Nebenan. Luchterhand 2022
Margaret Laurence: Eine Laune Gottes. Eisele 2022
Matthias Jügler: Raubfischen. Blumenbar 2015
Edvard Hoem: Heimatland. Kindheit. Insel 2005
Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz 2020
Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen. Luchterhand 2022
Silke Schlichtmann: Reißaus mit Krabbenbrötchen. Hanser 2022
Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. dtv 2022
Dörte Hansen: Zur See. Penguin 2022
Edvard Hoem: Der Geigenbauer. Urachhaus 2022
Ian McEwan: Lektionen. Diogenes 2022
Juri Johansson & Stefanie Jeschke: Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern. Kraus Kinderbuch
Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld. Manesse 2022

 

Allen Besucherinnen und Besuchern auf meinem Blog wünsche ich ein gesundes, krisenarmes und frohes 2023!

 

Meine Lese-Highlights früherer Jahre:

2019
2020
2021

Bobbi French: Die guten Frauen von Safe Harbour

  Der Tintenfisch im Kopf

Die Kanadierin Bobbi French, geboren und aufgewachsen in Neufundland und Labrador, war als Psychiaterin tätig, bevor sie für die Schriftstellerei ihren Beruf aufgab. Damit sind ihr Patientinnen wie die Protagonistin und Ich-Erzählerin in ihrem Romandebüt Die guten Frauen von Safe Harbour vermutlich vertraut, die sich für einen in Kanada legalen ärztlich assistierten Suizid entscheiden und dafür ein psychiatrisches Gutachten benötigen.

Tödliche Diagnose
Frances Delaney ist 58 Jahre alt, als ein bösartiger Hirntumor bei entdeckt wird. Sie hat Neufundland nie verlassen, wohl aber den fiktiven kleinen Fischerort an der Südküste namens Safe Harbour, in dem sie bis zum Alter von elf Jahren eine glückliche Kindheit verbrachte. Nach dem tief betrauerten  Tod des Vaters auf See versank die Mutter in eine Depression und schließlich griffen die unmenschlichen Regeln der katholischen Kirche erbarmungslos in das Leben des Teenagers ein. Frances‘ Leben geriet aus der Spur, der Ozean wurde ihr zum Sinnbild des Schreckens, jegliches Selbstbewusstsein war verloren, Schuldgefühle quälten sie und zuletzt zerbrach sogar ihr letzter Rettungsanker, die Freundschaft zur quirligen, fürsorglichen Annie Malone:

Auf dieser Welt waren zwei Menschen, die behaupteten einander zu lieben, nur ein einziges schreckliches Gespräch davon entfernt, nie wieder miteinander zu sprechen. (S. 150/151)

Hals über Kopf verließ Frances damals nach dem Schulabschluss Safe Harbour. Doch anstatt wie geplant in St. John’s zu studieren, putzte sie in Hotels, arbeitete später als Haushaltshilfe bei begüterten Familien und ihre Menschenscheu und Schüchternheit bescherten ihr ein Dasein in völliger Einsamkeit:

Ich habe nicht das Leben gelebt, das ich wollte – ich habe das Leben gelebt, das passiert ist. (S. 213)

Rückkehr nach Safe Harbour
Nach der Diagnosestellung 2019 entscheidet sich Frances wohlüberlegt gegen eine möglicherweise lebensverlängernde Therapie und für das selbstbestimmte Sterben. Bis dahin allerdings will sie endlich nach ihren Regeln leben und die 16-jährige Edie, Tochter ihrer letzten Arbeitgeberin und ihr lieb wie ein eigenes Kind, unterstützt sie nach Kräften. Erst allmählich kristallisiert sich der wichtigste Punkt auf ihrer Wunschliste heraus: Rückkehr nach Safe Harbour.

Und so werden die Monate, in denen der „Tintenfisch im Kopf“ immer mehr Raum fordert und die Kopfschmerzen und Anfälle stetig zunehmen, zu Frances‘ wohl aufregendsten und glücklichsten – bis das Ende sich nicht weiter hinausschieben lässt.

© B. Busch

Überraschend humorvoll und optimistisch
Zwar habe ich die im Klappentext angekündigte Packung Taschentücher nicht gebraucht, trotzdem hat mich Die guten Frauen von Safe Harbour berührt und gut unterhalten. Allerdings hätte mir das Buch noch besser gefallen, wären die Abschnitte in der Gegenwart weniger dialoglastig und dafür stilistisch anspruchsvoller gewesen. Eindeutig besser geschrieben sind die spannenden Rückblenden in Frances‘ Vergangenheit und die Schilderungen der rauen Landschaft Neufundlands sowie der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen an der Küste, die gerne auch ausführlicher hätten sein dürfen. Dem Blick der Psychiaterin sind die genauen Charakterzeichnungen und die eingestreuten Informationen zum Procedere der Sterbehilfe in Kanada zu verdanken.

Die guten Frauen von Safe Harbour ist ein Plädoyer für das Leben, Versöhnung und das Recht auf Selbstbestimmung, eine Ode an die Freundschaft und ein überraschend humorvoller, optimistischer, selten kitschiger Unterhaltungsroman darüber, was im Angesicht des Todes noch möglich ist.

Bobbi French: Die guten Frauen von Safe Harbour. Aus dem Englischen von Carina Tessari. Diederichs 2022
www.penguinrandomhouse.de

Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld

  Mehr Klassikerinnen!

Unter dem Motto Mehr Klassikerinnen widmet der Manesse Verlag sein komplettes Jahresprogramm 2022 Schriftstellerinnen der Weltliteratur mit sehr frisch wirkenden Neuübersetzungen, kommentiert von namhaften Autorinnen und Autoren und in gewohnt hochwertiger Ausstattung.

Nach Mrs. Dalloway von Virginia Woolf und Babettes Gastmahl von Tania Blixen war Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf (1858 – 1940) meine dritte Lektüre aus diesem Programm. Ein Wagnis insofern, als mir Gösta Berling überhaupt nicht zusagte und ich von Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen wegen der spürbar pädagogischen Absicht und Langatmigkeit nicht begeistert war. Mit Charlotte Löwensköld erging es mir nun völlig anderes. Dieses Spätwerk von 1925 der als erste Frau 1909 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autorin ist eine ebenso vergnügliche wie wendungsreiche Lektüre, die vor allem von starken Frauencharakteren und dem überragenden Erzähl- und Dramaturgievermögen von Selma Lagerlöf mit äußerst humorvollen Szenen und feiner Ironie lebt.

Inspiriert von einer wahren Geschichte
Charlotte Löwensköld
ist der mittlere Teil der värmländer Trilogie Die Löwenskölds, der sich jedoch problemlos seperat lesen lässt. Teil eins, Der Ring des Generals, ist eine Gespenstergeschichte, die von einem Ring als Ursprung allen Unglücks in der Familie Löwensköld erzählt. In Teil zwei, Charlotte Löwensköld, steht im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine junge Frau aus dem nichtadeligen, mittellosen Familienteil im Mittelpunkt. Sie ist über fünf Jahre mit dem Hilfspastor Karl-Artur Ekenstedt verlobt, dessen kluge, umschwärmte Mutter, die Oberstin Beate Ekenstedt, wiederum eine adelige Löwensköld ist. Karl-Artur ist der verwöhnte Augapfel seiner Mutter. Während seines Studiums wechselt er unter dem Einfluss eines pietistischen Kommilitonen gegen den Willen seiner Eltern zur Theologie. In der Probstei Korskyrka als Hilfspastor eingesetzt, lernt er Charlotte kennen, die als Gesellschafterin im Haus des Propstehepaars lebt.

© B. Busch

Gerne würde die intelligente, lebendige, charmante und bisweilen schelmische Charlotte ihren Langzeitverlobten endlich heiraten, doch verweigert der aus Gründen übersteigerter religiöser Askese den zur Gründung eines Hausstands nötigen beruflichen Ehrgeiz. Als er zudem unter den Einfluss der intriganten Organistenfrau Thea Sundler gerät und Charlotte einen Heiratsantrag des jung verwitweten, vermögenden Bergwerksbesitzers Gustav Schagerström erhält, gerät die Situation außer Kontrolle. Es beginnt eine immer rasantere Abfolge von Irrungen, Missverständnissen, Zufällen und Verwicklungen, so dass ich den Roman nicht mehr aus der Hand legen konnte. Liebend gerne hätte ich eingegriffen, um Charlotte vor drohendem Unheil zu bewahren. Letztlich habe ich sie, die den guten Ruf ihres selbstverliebten Verlobten und dessen gefährdetes Einvernehmen mit seiner Mutter über ihre eigenen Interessen stellt, unterschätzt:

Aber in Charlotte floss altes, schwedisches Adelsblut, und in ihrer Seele wohnte der rechte schwedische Wille, der edle, stolze Wille, dem eine Niederlage nichts anhaben kann, der vielmehr mit ungebrochenem Elan zu neuen Kämpfen aufspringt. (S. 413)

Zeitlose Themen im Gewand des 19. Jahrhunderts
Selma Lagerlöf porträtiert in Charlotte Löwensköld den Männern in Klugheit, Menschenkenntnis und Stärke überlegene, jedoch im Korsett ihrer Zeit gefangene Frauen und zeigt die Auswirkungen von selbstgerechtem, intolerantem religiösem Übereifer, bei dem Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.

Das sehr erhellende, feministisch grundierte Nachwort von Mareike Fallwickl diskutiert neben anderem die Auswirkungen mütterlicher Erziehung auf Söhne und die Grenzen, die auch einer erfolgreichen Frau wie Selma Lagerlöf zu ihren Lebzeiten gesetzt waren.

Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit einem Nachwort von Mareike Fallwickl. Manesse 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Rezensionen zu Romanen von Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern auf diesem Blog:

1926
1932
1954
2017
2021

 

Sorj Chalandon: Verräterkind

  Wahrheit und Schuld

Der 1952 in Tunis geborene Sorj Chalandon gehört nicht nur zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Frankreichs, sondern auch zu den renommiertesten Journalisten. In seinen zehnten Roman, Verräterkind, mit dem er auf der Shortlist des Prix Goncourt 2021 stand, fließen beide Tätigkeiten ein, basiert doch ein Teil dieses autofiktionalen Werks auf seiner preisgekrönten Reportage für die linksliberale Tageszeitung Libération über den Prozess gegen Klaus Barbie im Jahr 1987, den Gestapo-Chef und „Schlächter von Lyon“. Mit diesem weltweit aufsehenerregenden Gerichtsverfahren verknüpft Sorj Chalandon private Ermittlungen gegen seinen Vater, der ihn über seine Vergangenheit während des Zweiten Weltkriegs stets belogen hatte.

Ein Held, der keiner war
Prägend für die Kindheit des Ich-Erzählers waren eine unscheinbare, furchtsame Mutter und ein gewalttätiger, manipulativ mit eigenen Heldentaten prahlender Vater. 1962, als der Sohn zehn war, geriet dieses Heldenepos durch eine Bemerkung des Großvaters jäh ins Wanken:

Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite. (S. 28)

Die Bürde des „Verräterkindes“ drohte ihn fortan zu ersticken:

Du durftest mich nicht einfach mit deiner Geschichte allein lassen. Sie war zu schwer zu tragen für einen Sohn. (S. 231/232)

Fünf Uniformen, vier Desertionen
Während der Ich-Erzähler aus dem Gerichtssaal in Lyon berichtete und die erschütternden Aussagen der Überlebenden und Hinterbliebenen hörte, versuchte er gleichzeitig, die Lügengebilde des als Zuschauer anwesenden, in Barbie-Verehrung erstarrten Vaters zu entlarven. Dokumente aus der Hinterlassenschaft seiner Tante und illegal angeeignete Unterlagen eines Prozesses gegen den Vater wegen „Schädigung der Landesverteidigung“ sollten Klarheit bringen, die Konfrontation damit sein Schweigen brechen. Fünf Uniformen trug er in vier Jahren, die der französischen Armee, der Vichy-Kollaborationsarmee, als Freiwilliger der von der Wehrmacht zum Kampf gegen den Bolschewismus gegründeten „Légion Tricolore“, der Waffen-Grenadier-Brigade der SS „Charlemagne“ und schließlich der Résistance, viermal desertierte er. Was davon auf Überzeugung, was auf kühler Berechnung und was auf dem schlichten Wunsch, auf der Seite der Sieger zu stehen, beruhte, blieb sowohl im Prozess 1945 als auch für den Sohn und damit für uns Leserinnen und Leser unklar. Gesichert scheint, dass der Vater immer ein „Leichtgewicht ohne viel Talent“ (S. 243) war, dass er nicht mehr als die Grundschule besucht und keinen Beruf hatte, als er sich mit 17 Jahren freiwillig zur Armee meldete, und dass er schon immer ein notorischer Lügner und Hochstapler war.

© B. Busch

Gerichtsreporter und Sohn
Verräterkind
ist ein autofiktionaler Roman, dessen Fiktionalität vor allem in der Parallelität der beiden Handlungsstränge besteht. Während die Teile über den Barbie-Prozess und der Exkurs zum Schicksal der Kinder von Izieu mich mit ihrer einerseits reportagenhaften Klarheit, andererseits großen Emotionalität und atmosphärischen Brillanz vollkommen überzeugt haben, rückte die verzweifelte Wahrheitssuche des Sohnes für mich zunehmend in den Hintergrund, verblasste das Dickicht der Rollenwechsel dieses unbelehrbaren Charakters. Auch die Frage, ob Eltern ihren Kindern tatsächlich Rechenschaft schulden, vermag ich nicht so kategorisch zu bejahen wie Sorj Chalandon. Mehr noch als durch die Taten des Vaters fühlte sich der Ich-Erzähler verletzt durch dessen fehlendes Vertrauen und damit einen weiteren Verrat:

Du bliebst eine offene Frage und dein Krieg der reine Irrsinn. So konnte ich dich weder verstehen noch dir verzeihen. (S. 209)

Ein zweifellos wichtiger, in Teilen grandioser Roman, der zeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt.

Sorj Chalandon: Verräterkind. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv 2022
www.dtv.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Sorj Chalandon auf diesem Blog:

Chalandon

Juri Johansson & Stefanie Jeschke: Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern

Ein Anti-Langeweile-Bilderbuch

Während auf internationalen Konferenzen über Strategien gegen das weltweite Artensterben verhandelt wird, gibt es auch gute Nachrichten. Zwanzig bislang kaum bekannte Tierarten, die garantiert nicht in Brehms Tierleben zu finden sind, beschreibt Juri Johansson in seinem Bilderbuch Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern. Jedem von ihnen ist eine Doppelseite gewidmet, links mit einem fantasievollen, witzigen, teils absurden lexikonartigen Text, rechts mit einer bezaubernden, farbenfrohen und hervorragend dazu passenden Illustration der Geschöpfe in ihrem natürlichen Habitat von Stefanie Jeschke. Nicht ganz falsch liegt, wer dabei an Loriots Steinlaus aus seinem Sketch von 1976 denkt, die 1983 Aufnahme in das klinische Wörterbuch Pschyrembel fand. Wie Loriot ahmt Juri Johansson einerseits den trockenen Stil lexikalischer Einträge nach und konterkariert ihn andererseits durch Sprachwitz, Wortspielereien und inhaltlichem Schabernack.

Beispiele gefällig?
Da sind die Pyjamalamas, die, da das Kleidungsstück nicht mitwächst, regelmäßig den zu klein gewordenen Pyjama hinters Bett werfen, um in einen größeren zu schlüpfen. Sie sind ausgewiesene Couchpotatos und bewegen sich nach Möglichkeit nur bis zum Kühlschrank.

Wiesel, Wiesosel und Warumsel werden fälschlicherweise oft für Nagetiere gehalten, gehören jedoch eindeutig zur Gattung der Fragetiere und sind renitente Durchdringer“.

Eine eher unangenehme Zeitgenossin ist die ständig eingeschnappte Schmolle, die „beleidigte Leberwurst“ der Meere. Wer auf eine übellaunige Schmolle trifft, braucht viel „Flossenspitzengefühl“.

© B. Busch

Ein Tollpatsch der besonderen Art ist die Schlamassel-Assel, mein Lieblingstier im Buch. Sie lässt kein Fettnäpfchen aus und versteckt sich verschämt unter Steinen und feuchtem Laub.

Ob Herdmännchen mit Chefkochschürze, Säbelzahn-Hörnchen in Siegerpose oder Ichwardasnicht-Kranich mit Unschuldsblick, alle sind von Stefanie Jeschke mit viel Liebe ins Bild gesetzt und doch hatte ich bei fast allen auch einen passenden Menschen vor Augen…

© B. Busch

Ein Feuerwerk der Fantasie und Sprachkunst
Man merkt beiden Künstlern den Spaß bei der Arbeit an, der sich auch prompt überträgt. Der hintergründige Sprachwitz und der Einfallsreichtum wirken aber nicht nur passiv, sie wecken zugleich auch Lust auf eigene Tierkreationen in Wort und Bild – sei es für sich allein, im Familienkreis, beim Kindergeburtstag oder im Grundschulunterricht.

© B. Busch

Große Empfehlung fast ohne Altersbeschränkung
Ich habe dieses absolut originelle Bilderbuch während eines Berlinaufenthalts in der Tucholsky-Buchhandlung entdeckt, die mit ihrem außergewöhnlichen Sortiment unbedingt einen Besuch lohnt. Hier bekommen auch selten präsentierte Bücher aus unabhängigen Kleinstverlagen wie dem erst 2021 gegründeten Berliner Kraus Kinderbuch Verlag eine Chance.

Wer wie ich leicht schräge, kreative, aus dem Rahmen fallende Bilderbücher liebt, hat an dem auch von Denis Scheck und der Internationalen Jugendbibliothek München empfohlenen Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern garantiert langanhaltend Freude. Dabei ist es egal, ob man Kind ab etwa fünf Jahren oder aufgeschlossener Erwachsener ist, Grund zum Lachen gibt es für jedes Alter. Selberlesen können Kinder das bei Antolin gelistete Buch natürlich auch, sobald Wortungetüme wie „Pyjamalamamama“ oder „gepuderzuckerte Schokoschaben“ kein Hindernis mehr darstellen.

Juri Johansson & Stefanie Jeschke: Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern. Kraus Kinderbuch 2022
kraus-verlag.de