Raffaella Romagnolo: Die Sterne ordnen

  Reparaturen

Beim ersten Schulbeginn nach dem Krieg treffen im Herbst 1945 zwei Entwurzelte im piemontesischen Dorf Borgo di Dentro aufeinander, die beide nicht dorthin gehören. Die 22-jährige Lehrerin Gilla ist vor knapp drei Jahren vor dem Bombenhagel aus Genua geflohen. Längst hätte sie zu ihren Eltern zurückkehren können, aber die Erinnerung an den Verlust ihrer große Liebe Michele, der wie sie für die Partisanen kämpfte, hält sie zurück. Eine Schülerin ihrer neuen Grundschulabschlussklasse ist die begabte 10-jährige Francesca Pellegrini aus dem nahen Waisenhaus. Sie spricht nicht und niemand kann Gilla sagen, wie und woher sie im Januar 1945 nach Borgo di Dentro kam.

Drei zerbrochene Universen
Gilla wie Francesca tragen schwer an ihrer Vergangenheit und erkennen sich in ihrem Leid und in ihrer Verlorenheit. Beide haben Überlebensstrategien entwickelt. Gilla versucht, in der Schule wieder Normalität im Leben ihrer Schülerinnen herzustellen. Hingebungsvoll repariert die Uhrmachertochter in ihrer Freizeit ein defektes mechanisches Planetarium, ein weiteres zerbrochenes Universum. Hände und Kopf sind beschäftigt, wenn sie bastelt und Unterrichtsstunden zu den Planeten plant. Francesca dagegen kümmert sich aufopfernd um ein Kätzchen, das sie im Waisenhaus versteckt hält. Nur mit ihm kann sie reden. Gilla, die nicht an Francescas Stummheit glaubt, will behutsam das Geheimnis des Kindes ergründen und ihm mit Ruhe, Geduld, Verständnis, aber auch Trickreichtum helfen – genauso wie sich selbst.

Raffaela Romagnolo: Die Sterne ordnen. Foto: © B. Busch. Cover: © Diogenes.

Große Geschichte heruntergebrochen
Die Sterne ordnen
ist nicht einfach irgendein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Vielmehr erzählt die 1971 geborene italienische Autorin und Lehrerin Raffaela Romagnolo auf ganz besondere Art von kleinen Lebensschicksalen, die eng mit der großen Geschichte verwebt sind. Dazu kehrt sie in das fiktive Dorf Borgo di Dentro zurück, in dem bereits ihr Roman Bella Ciao spielte, ebenfalls vorzüglich übersetzt von Maja Pflug, der 2019 zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehörte. In beiden Romanen wird Geschichte lebendig, geht es um starke, durch äußere Verheerungen beschädigte Frauen, die man nicht wieder vergisst.

„Gegenwart“ und Vergangenheit
Eingebettet in die drei Trimester des Schuljahres 1945/46, der „Gegenwart“ der Handlung, blendet der Roman abschnittsweise zurück in die Zeit zwischen Mai 1938 und Sommer 1945, von der aus vielen verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird. Es sind die Geschichten der gutbürgerlichen jüdischen Familie Sacerdoti aus Casale Monferrato, dem Geburtsort der Autorin, und von Gillas Familie. Kurze Auszüge aus faschistischen Erlassen und Zeitungsschlagzeilen liefern die Fakten.

Bei allem Schmerz gibt es am Ende, als alle ihre Abschlussprüfung bestanden haben, Hoffnung auf einen Neuanfang:

Unter dem knisternden Papier nimmt Gilla noch immer das Kriegserassel wahr, aber es ist ein fernes Rumoren. Zur Verteidigung gibt es ein Heer von großen und kleinen Buchstaben, Schreibschrift und Druckschrift, A wie Alphabet, G wie Gatto, L wie Luna. (S. 438)

Mit Die Sterne ordnen, 2024 in Italien einer von 12 für den Premio Strega nominierten Titeln, ist Raffaela Romagnolo endgültig zu einer Lieblingsautorin für mich geworden. Ihre historischen Romane sind atmosphärisch stimmig, hervorragend recherchiert, geschickt aufgebaut und ebenso fesselnd wie empathisch erzählt.

Raffaela Romagnolo: Die Sterne ordnen. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Raffaela Romagnolo auf diesem Blog:

   

Interview mit der Übersetzerin Amelie Thoma

Amelie Thoma studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und arbeitete zunächst als Lektorin. Seit 2017 ist sie als freie Übersetzerin aus dem Französischen und Italienischen für verschiedene Verlage tätig.

Mir ist Amelie Thoma erstmals als Übersetzerin von Leїla Slimani begegnet, deren Bücher ich stets mit großer Vorfreude erwarte. 2023 hat mich Amelie Thoma mit ihrer Begeisterung für die in Deutschland kaum bekannte provenzalische Schriftstellerin Maria Borrély (1890 – 1963) angesteckt, deren außergewöhnliche kleine Romane sie zufällig in ihrem langjährigen Urlaubsort Puimoisson im Département Alpes-de-Haute-Provence entdeckt hatte. In ihrer Neuübersetzung erschienen inzwischen im Kanon Verlag „Mistral“ (2023) und „Das letzte Feuer“ (2024). Zuletzt habe ich mit großer Freude den von ihr übersetzten Roman „Von dem, der bleibt“ (2024) des Italieners Matteo B. Bianchi gelesen.

Neben ihrer Arbeit als Übersetzerin ist Amelie Thoma auch als Moderatorin von Literaturveranstaltungen tätig.

Amelie Thoma. © Edgar Rai 2021

Liebe Frau Thoma, wie kam es zu Ihrer Entdeckung der Schriftstellerin Maria Borrély und wie schwierig war es, einen Verlag für diese Autorin finden?

Ich habe das Buch zufällig in einer Bar im Ort entdeckt, in die wir hauptsächlich deshalb gingen, weil es dort W-lan gab. Der kulturinteressierte Wirt hatte eine Vitrine mit einigen Büchern eines kleinen regionalen Verlags aufgestellt, die mich natürlich sofort anzog. Hinter dem schlichten Taschenbuch erwartete ich bestenfalls eine nette, pittoreske Erzählung, deren Reiz vor allem darin bestand, dass sie in diesem Ort spielte. Stattdessen wurde ich von dem wundervollen, literarischen Text und der interessanten Geschichte seiner Autorin überrascht. Gunnar Cynybulk, der Kanon-Verleger, ließ sich erfreulicherweise sofort von meiner Begeisterung mitreißen und nahm die Autorin in sein kleines, erlesenes Programm auf.

Was ist für Sie das Besondere am Werk von Maria Borrély und wo liegen die besonderen Herausforderungen bei der Übertragung Romane ins Deutsche?

Das Besondere am Werk von Maria Borrély ist für mich die Sprache, in der sich ihre ganze Liebe für die Natur und die Menschen ausdrückt. Sie ist zugleich bäuerlich und poetisch, archaisch und modern, an manchen Stellen äußerst bildlich, dann wieder ganz knapp und trocken. Die Handlung lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen, seine ganze Wirkung entfaltet der Text dank Maria Borrélys Schreibstil. Hinzu kommt, dass der Text durch die sparsame Erzählweise, die nicht viel Kontext liefert, und das zum Teil altmodische und ans Landleben geknüpfte Vokabular selbst für heutige französische Muttersprachler nicht immer leicht zu verstehen ist. Als ich das Original zum ersten Mal las, habe ich es daher mehr gefühlt als verstanden. Die Herausforderung war also, mir zunächst einmal den Inhalt zu erschließen, und ihn dann so ins Deutsche zu übertragen, dass er dort denselben Zauber entfaltet wie das französische Original.

Sie übersetzen Werke aus gleich zwei romanischen Sprachen, Französisch und Italienisch. Gibt es prinzipielle Unterschiede bei der Übersetzungsarbeit? Welche Besonderheiten der französischen bzw. italienischen Sprache funktionieren im Deutschen anders oder gar nicht?

Leider bin ich sehr schlecht darin, theoretische Aussagen über die Arbeit des Übersetzens zu treffen. (Linguistik war das Fach, das mir im Studium am wenigsten gefallen hat 🙂) Beiden Sprachen ist aber gemein, dass sie durch bestimmte Gerundiv- und Partizipialkonstruktionen im Satz eine Menge Informationen transportieren können, die im Deutschen oft zu schwerfälligen Nebensatzschachteleien führen. Ziel beim Übersetzen ist die berühmte „Wirkungsäquivalenz“, also dass der Text, siehe oben, beim Lesen auf Deutsch eine ähnliche Wirkung entfaltet wie beim Lesen auf Italienisch oder Französisch. Ich feile daher oft sehr lange am Satzbau, damit ein Text Deutschen ebenso mühelos dahinschnurrt wie im Französischen oder Italienischen. Eine weitere Schwierigkeit – aber das gilt für alle Sprachen, glaube ich – sind für mich emotionale Begriffe. Gerade das Französische hat da unglaubliche Schattierungen, für die wir im Deutschen oft keine genaue Entsprechung haben. Hier verbringe ich oft viel Zeit bei der Suche nach einem Synonym, das genau die passende Emotion ausdrückt.

Konzentrieren Sie sich jeweils auf eine Sprache oder können Sie zeitgleich an Projekten in beiden arbeiten?

Generell versuche ich immer nur an einem Projekt zu arbeiten. Natürlich kommt mal ein Rücklauf aus dem Lektorat oder ein Umbruch, während man schon an einer anderen Übersetzung sitzt, aber ich musste zum Glück noch nie zwei Übersetzungen parallel machen. Für mich ist entscheidend, dass ich mich auf den Ton eines Textes einschwingen kann, der ja nicht mein eigener ist. Ich muss mich sozusagen „verstellen“, so tun, als wäre ich die Autorin oder der Autor. Ist das erst einmal erreicht – meist nach einigen Dutzend Seiten –, geht das Übersetzen leichter von der Hand. Aber ich stelle es mir sehr schwierig vor, ständig zwischen zwei „Rollen“ hin und her zu wechseln.

Bei der Übersetzung von Vera Politkowskajas Sachbuch „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“ aus dem Italienischen haben Sie mit Ihrem Kollegen Christian Försch zusammengearbeitet. Wie kann man sich gemeinsames Übersetzen vorstellen?

Im Falle eines Übersetzertandems muss man sich, um im obigen Bild zu bleiben, gemeinsam auf den Ton eines Textes einstimmen. Am Besten finde ich es daher, wenn eine*r anfängt zu übersetzen. Dann liest der oder die andere diesen Teil (ein paar Kapitel oder die Hälfte, je nachdem) erst einmal redigierend durch. Auf diese Weise stellt man sich aufeinander ein, bespricht Dinge, die man vielleicht anders machen würde. Dann übersetzt jede*r seine Kapitel unabhängig und anschließend redigiert man sich gegenseitig, bespricht offene Fragen, gleicht bestimmte Ausdrücke oder Szenen ab. Idealerweise gibt es zum Schluss noch eine Lektüre des Gesamtmanuskripts. Ich würde das nicht bei jedem Text machen wollen. Maria Borrélys Texte, zum Beispiel, erfordern zu viel kreativen Eigensinn. Andere Texte profitieren ganz klar von einem Tandem, und auch für die beiden Radler*innen ist der gegenseitige Austausch über einen Text bereichernd.

Italien war Gastland der Frankfurter Buchmesse 2024. Wie wirkte sich das im Vorfeld auf Übersetzungen aus dem Italienischen aus?

Der Gastlandauftritt sorgt eigentlich immer für eine Zunahme der Übersetzungen aus der jeweiligen Landessprache, da die Verlage auf Förderungen und vor allem auf eine verstärkte Aufmerksamkeit der Presse und des Publikums hoffen können. So war es auch dieses Jahr mit dem Gastland Italien. Leider gehen in der Flut dann auch viele schöne Titel unter.

Können Sie drei aktuelle oder klassische italienische Autorinnen oder Autoren nennen, die man nach dem Gastlandauftritt unbedingt lesen sollte?

Absolut empfehlen kann ich Igiaba Scegos „Kassandra in Mogadischu“ (übersetzt von Verena v. Koskull, erschienen bei Fischer), die packende autobiographische Geschichte ihrer auf der ganzen Welt verstreuten Somalischen Familie. Sehr neugierig bin ich auf Giulia Caminito, von der in Barbara Kleiner Übersetzung bei Wagenbach schon mehrere Titel auf Deutsch vorliegen, die ich aber selbst noch nicht gelesen habe. Und dann möchte ich natürlich den von mir übersetzten Autor Matteo B. Bianchi empfehlen, dessen wirklich besonderer, ebenfalls autobiographischer Text „Von dem, der bleibt“ über die Verarbeitung des Freitods seines Partners zwar nichts typisch Italienisches hat, aber Mut macht und die Augen öffnet.

Lehnen Sie Übersetzungsangebote ab, wenn Sie sich nicht für die Texte begeistern können?

Zum Glück haben mich bisher fast alle Texte begeistert, die ich übersetzt habe. Übersetzen ist jedoch bei aller Leidenschaft auch mein Brotberuf – also, ja, wenn ich die Wahl habe, picke ich mir natürlich Texte heraus, die mir zusagen, aber es kommt durchaus auch vor, dass ich etwas hauptsächlich übersetze, um mein Konto zu füttern.

Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?

Das kommt darauf an, wie lang und wie literarisch sie sind. Meistens versuche ich sie vorher ganz zu lesen, aber zum Beispiel bei umfangreichen Krimis hält einen die Neugier auf die Auflösung ganz gut bei der Stange (auch Übersetzer*innen haben einen inneren Schweinehund 😉), da lasse ich mich dann gern überraschen.

Versuchen Sie, vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zu den Autorinnen und Autoren aufzunehmen, soweit sie noch am Leben sind?

Auch das ist unterschiedlich. Je besser mir das Buch gefällt, desto eher. Es hängt auch von der Lektorin oder dem Lektor ab. Manche stellen den Autor*innen die verbleibenden Fragen lieber selbst, andere überlassen das gern den Übersetzer*innen.

Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kultureller Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?

Auch das ist sehr schwer zu erklären, denn es ist ein Vorgang, der zugleich technisch und intuitiv ist. Es ist im Grunde ein behutsames Ausloten, ein Hin und Herschwingen zwischen Original und Übersetzung. Es geht, wie gesagt, leichter, sobald man sich auf einen Ton eingestimmt hat. Beim ersten Durchgang versuche ich so nah wie möglich am Original zu bleiben. Wenn ich mich vom Text wegbewege und dabei unsicher bin, ob es in die richtige Richtung geht oder ob ich vielleicht zu frei werde, oder wenn ich, im Gegenteil, das Gefühl habe, hier sollte ich noch eine freiere Lösung finden, die im Deutschen besser klingt, füge ich einen Kommentar ein (diese wunderbaren Sprechblasen). Dieser enthält dann meist die Originalstelle, damit ich nicht ewig suchen muss, und oft meine möglichen alternativen Ideen. Idealerweise entsteht so eine Rohfassung, die alle wesentlichen Elemente des Originals enthält. In zwei bis drei weiteren Durchgängen schwimme ich mich dann frei vom Original, bis alle Anmerkungen und Alternativen verschwunden sind und – hoffentlich – ein in sich runder, stimmiger deutscher Text entstanden ist, von dem ich der Meinung bin, dass er bei den Lesenden annähernd dieselbe Wirkung erzielt wie das Original. Das erfordert gleichermaßen Frechheit wie Demut. Man darf jedenfalls nicht nach unten schauen, während man sich auf diesem Drahtseil vorantastet.

Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?

Neulich las ich mal wieder eine Kritik zu einem übersetzten Text, in der die sehr besondere Sprache der Autorin oder des Autors ausführlich gelobt, der oder die Übersetzer*in aber nicht mal bei den bibliographischen Angaben erwähnt wurde. So etwas ärgert mich sehr. Denn nur der Übersetzerin oder dem Übersetzer ist es zu verdanken, dass man diese so besondere Sprache „auf Deutsch“ genießen kann. Wegen mir müssen wir nicht auf dem Cover stehen, aber ich würde mir wünschen, dass unsere wertvolle Arbeit von den Profis der Buchbranche mehr beachtet und ins Bewusstsein der Lesenden gerückt wird.

In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?

O weh, eine schwierige und komplexe Frage. Ich nutze natürlich Online-Wörterbücher und gebe auch mal Wortkombinationen oder Sätze bei Google oder bei Reverso ein. Mir ist übrigens schleierhaft, wie Menschen übersetzen konnten, bevor es das Internet gab – auch zur Recherche nutze ich es unablässig. KI nutze ich jedoch überhaupt nicht. Nicht mal aus Spielerei, weil ich damit einfach nichts zu tun haben möchte. Als ehemalige Lektorin weiß ich, wie sehr eine schlechte Lösung der eignen Kreativität, dem eigenen Erschließen eines Textes im Weg stehen kann. Ein vom Deutschen Übersetzerfonds finanziertes Rechercheprojekt hat übriges genau dies ergeben. Ich bin mir auch ganz sicher, dass keine KI jemals das erschaffen kann, was ich für eine gute literarische Übersetzung halte. Allerdings fürchte ich, dass sich unser Sprachempfinden den maschinengenerierten Texten anpassen wird, und irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht niemand mehr so eine teure, mühsam von Menschen erschaffene Übersetzung bezahlen wird. Allerdings habe ich keine Lust, mir davon jetzt schon in vorauseilendem Gehorsam die Laune verderben zu lassen, sondern freue mich noch lieber an den vielen tollen großen und kleinen Verlagen und Buchhandlungen, interessierten und begeisterten Lesenden und sonstigen Literatur- und Sprachverliebten wie Sie und ich, die diesem Land ein sehr reiches literarisches Leben bescheren.

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Lauter tolle Texte: Leïla Slimanis neuer Roman „J’emporterai le feu“, der großartige dritte Teil ihrer Familientrilogie. Philippe Collins „Le Barman du Ritz“, ein aufregender, auf Tatsachen beruhender Roman im von den Deutschen okkupierten Paris. „Nous“, ein neues Jugendbuch von Christelle Dabos, Autorin der wundervollen Spiegelreisenden-Saga.

Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!

Und Ihnen herzlichen Dank für Ihr Interesse und Ihr Engagement!

 

Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Amelie Thoma auf diesem Blog:

           

Charles Lewinsky: Täuschend echt

  Kirsten meets Denis Scheck

Auch wer KI nicht bewusst nutzt, kommt im Alltag inzwischen ständig mit ihr in Kontakt: bei der Nutzung von Suchmaschinen oder Navigationsgeräten, sozialen Medien, Streaming-Diensten, Verkaufsplattformen, Übersetzungsprogrammen oder Sprachassistenten, zur Betrugserkennung bei Banken, in der Medizin und der Juristerei. Kein Wunder also, dass auch der Literaturbetrieb vor tiefgreifenden Veränderungen steht. Die Firma Media Control verspricht mit DemandSens für 2025 zahlenden Verlagen ein KI-Tool, das mit einer Trefferquote von mindestens 85% vor einer Buchveröffentlichung Verkaufszahlen vorhersagen soll, basierend auf vergangenen Trends. Angesichts dieser auf die Spitze getriebenen Kommerzialisierung von Literatur spricht die Süddeutsche Zeitung von einer „Atombombe“, der Literaturagent und Autor Thomas Montasser von „Mcdonaldisierung“.

Satire pur
Was dabei herauskommt, wenn mit Hilfe von KI nicht nur übersetzt und illustriert, sondern mit ChatGPT & Co. auch geschrieben wird, zeigt Charles Lewinsky auf ironische Art in seinem neuen Roman Täuschend echt. Unterhaltsam an diesem Buch sind allerdings nur die Teile, die nicht aus der Feder der KI stammen. Das KI-Produkt, ein kursiv gedruckter Roman im Roman über die junge Afghanin Schabnam, ist so vorhersehbar, klischeehaft, rührselig, sprachlich einfallslos und quälend langweilig, dass man seinen Sprung auf die Bestsellerliste und in Denis Schecks Literatursendung Druckfrisch – Höhepunkt des Romans für mich – nur als Satire auf den Literaturbetrieb lesen kann.

Charles Lewinsky: Täuschend echt. Foto: © B. Busch. Cover: © Diogenes.

Keine „Manipuliermasse“ mehr sein
Charles Lewinsky lässt seinen knapp 40-jährigen Ich-Erzähler, einen namenlosen Werbetexter mit Spezialgebiet Müsli, tief fallen: Freundin unter wüsten Beleidigungen mit der Kreditkarte durchgebrannt und fristlose Kündigung, nachdem die Müslifirma abgesprungen ist. Aus Trotz und Langeweile beginnt er, mit der KI zu spielen, zunächst zur Befriedigung seiner Rachegefühle, dann für einen Roman. Als sich völlig überraschend die Möglichkeit ergibt, das Ergebnis unter dem Titel Angst! für viel Geld zu publizieren, greift er zu. Obwohl er vertragsgemäß inkognito bleiben muss, verändert ihn der Erfolg:

Wenn man nicht mehr an sich zweifelt, werden die Dinge plötzlich einfacher. Das ist ein gutes Gefühl. (S. 209)

Gestärkt durch Kirsten, wie er die KI inzwischen zärtlich nennt, und völlig in ihrem Bann, tritt er seiner kleinlaut wiederaufgetauchten Ex-Freundin selbstbewusst entgegen. Nun soll sie ihm helfen, sein Lügengebäude zu schützen. Nicht nur der Müslimann, auch ich hatte Zweifel am Erfolg dieses Plans.

Ein Roman mit Steigerung
Täuschend echt
hat mich im ersten Viertel gelangweilt, weil ich weder dem Gejammer des Ich-Erzählers, noch gar den langen, kursiv gedruckten Passagen des KI-Romans etwas abgewinnen konnte. Je irrwitziger die Handlung jedoch wurde, und je einfallsreicher der Protagonist mit der KI experimentierte, die ihm nun vermehrt Listen mit Alternativangeboten ausspuckte, desto besser habe ich mich unterhalten, trotz unnötiger Wiederholungen. Zwar sind die Figuren im „handgeschriebenen“ Teil des Romans mindestens ebenso stereotyp wie bei ChatGPT, aber ihre extreme Überzeichnung hat mir im Gegensatz zur ernstgemeinten KI-Dramaturgie Spaß gemacht.

Die Romane des 1946 geborenen Schweizers Charles Lewinsky könnten unterschiedlicher kaum sein, jeder ist eine Überraschung und lässt sich deshalb nur schwer mit den Vorgängern vergleichen. Als nicht allzu tiefschürfender Unterhaltungsroman liegt Täuschend echt für mich im Mittelfeld: weit entfernt von Melnitz, aber stärker als Der Stotterer. Ich bin gespannt, was Denis Scheck („der Mann frisst Bücher wie ich früher Schokoriegel“, S. 226) zu sich als Romanfigur sagt.

Charles Lewinsky: Täuschend echt. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:

     

Meine Adventsempfehlungen in der LKZ

Am 30.11.2024 hat die Ludwigsburger Kreiszeitung meine Adventsempfehlungen veröffentlicht:

https://www.lkz.de/lokales/stadt-ludwigsburg_artikel,-buecher-fuer-den-advent-sechs-neuerscheinungen-fuer-alle-altersklassen-_arid,808792.html

Der Artikel liegt hinter einer Bezahlschranke, verständlich, weil sich guter Journalismus auch rechnen muss.

Die Auswahl ist mir sehr schwergefallen, denn ich habe 2024 natürlich mehr als nur sechs empfehlenswerte Bücher gelesen. Für diese sechs Titel habe ich mich schließlich entschieden:

         

Zu den Rezensionen auf meinem Blog gelangt man durch einen Klick auf das jeweilige Cover.

Vielen Dank an die LKZ für die Bühne und der Journalistin und Autorin Katja Goll für das angenehme Gespräch, die hilfreichen Fragen und die gelungene Umsetzung!

Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt

  Wider ein Tabu

 

 

Neige Sinno, die in ihrem autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger von ihrem Leben als Missbrauchsopfer berichtet, reflektiert darin eine interessante Frage: Ist man als Schriftsteller verpflichtet, über gewisse Erlebnisse zu schreiben? Muss der Auschwitz-Überlebende also über Auschwitz schreiben? Sie zitiert dazu eine amerikanische Kollegin:

Aber wenn man so was schon mal bei der Hand hat, wie Mary Karr über ihre eigene dysfunktionale Familie sagt, wäre es schade, nicht über dieses Thema zu schreiben. (S. 262)

Neige Sinno bestreitet jedoch die Funktion von Literatur als Therapie:

Sobald man über das Trauma reden kann, ist man bereits ein wenig gerettet. (S. 93)

Für die Überlebenden
Beide Zitate sind wie gemacht für den autofiktionalen Roman Von dem, der bleibt des 1966 geborenen Italieners Matteo B. Bianchi. Nur, weil er 1998 den Selbstmord seines Ex-Partners und das nie endende Danach erlebte, konnte ein Text mit einer so brennenden Intensität und der Trauer als Protagonist entstehen. 25 Jahre arbeitete er an diesem Roman, zunächst nur in Gedanken, später auf Papier, bis er bereit war, ihn 2023 in Italien zu veröffentlichen. Obwohl es, wie bei Neige Sinno, kein Happy End im üblichen Sinne geben kann, war sein Weg zur Rettung zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Abzulesen ist die Entwicklung an der plötzlichen sachlichen Distanz zu dem dramatischen Ereignis im letzten Fünftel des Romans, nachdem Matteo B. Bianchi seine Leserinnen und Leser zuvor so dicht wie nur irgend vorstellbar an seinen Schmerz herangelassen hat. Seine Motivation zur Veröffentlichung beschreibt er so:

Ich schreibe dieses Buch unter anderem, weil ich damals so ein Buch hätte lesen wollen, eines über den Schmerz derer, die zurückbleiben. (S. 124)

Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © dtv.

Ein Labyrinth aus Schmerz
Nur drei Monate nach dem Ende der siebenjährigen Beziehung zwischen den in jeder Hinsicht ungleichen Männern nahm sich A. im November 1998 das Leben. Fünf helle, zwei dunkle Jahre und eine unschöne Trennung lagen hinter ihnen. Als A. angeblich seine Besitztümer aus der ehemals gemeinsamen Wohnung holte, nahm er sich dort, wo jetzt nur noch der Autor wohnte, das Leben. Niemand hatte den Warnzeichen zuvor die nötige Beachtung geschenkt.

Matteo B. Bianchi zeigt den Schmerz in all seinen Facetten: Schock, Fassungslosigkeit, Zweifel, Verwirrung, Wut, Schuldgefühle, totale Vernichtung, Scham, grenzenlose Einsamkeit und Hilflosigkeit rundherum. Nichts, was er in seiner Verzweiflung versuchte, verschaffte ihm Erleichterung:

Es ist wie ein ständig brennendes Neonlicht. Die anderen können es ausschalten, du nicht. (S. 263)

Bis er eines Tages durch Willensstärke zurück ins Licht fand:

Der Moment war gekommen. Jetzt oder nie. Der Moment, mich zu retten. (S. 277)

„Ich setze dieses Buch aus Fragmenten zusammen, weil ich nichts anderes zur Verfügung habe.“ (S. 165)
Matteo B. Bianchi will nicht Chronist sein, sondern Literat, mit der Freiheit, Details zu verändern. Aus „Scherben“ setzt er die Zeit vor und nach dem Suizid zusammen, reflektiert aber auch den Prozess seines Schreibens.

Mich hat Von dem, der bleibt tief beeindruckt und bewegt: durch seine umwerfende Ehrlichkeit frei von Pathos und Effekthascherei und die Kraft seiner Sprache und Bilder, die Amelie Thoma perfekt ins Deutsche übertragen hat. Auch wenn Matteo B. Bianchi in erster Linie für andere Überlebende schreibt, geht das Thema bei über 10.000 Selbstmorden 2023 allein in Deutschland doch alle an. Ein echtes Lese-Highlight!

Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt. Aus dem Italienischen von Amelie Thoma. dtv 2024
www.dtv.de

Sebastian Barry: Annie Dunne

  Die Frau mit dem Mond auf dem Rücken

Irland 1959. Auf einem ärmlichen Gehöft in Kelsha in den Winslower Bergen südlich von Dublin leben zwei Frauen um die 60 im Einklang mit den Jahreszeiten am Existenzminimum. Sarah Cullen ist die Besitzerin des Hofs, die ihre mittellose, arbeitsame Cousine Annie Dunne bei sich aufgenommen hat. Es ist nicht einfach, Sympathie für Annie aufzubringen, und doch empfindet man beim Lesen sofort Mitleid mit dieser vom Schicksal schwer gebeutelten Frau. Mit ihrem durch eine kindliche Polioerkrankung in Form eines Mondes verkrümmten Rücken erfüllte sich ihr Traum von einer eigenen Familie nicht, ihre einzige Liebesgeschichte ist eine Erfindung. Stattdessen hat sie die Kinder ihrer Schwester Maud aufgezogen, musste das Haus nach deren Tod aber verlassen, als ihr Schwager Matt sich neu verheiratete.

Stolz ohne Fundament
Annies Schutzschild ist ihr Dünkel. Als Nachfahrin von Gutsverwaltern und Tochter eines hohen Beamten der Dubliner Metropolitan Police wuchs sie im Dublin Castle auf und besuchte eine Nonnenschule. Nun ist sie zurück auf dem Land. Äußerlich hart, unbeugsam, unfreundlich und misstrauisch, macht sie sich vor sich selbst nichts vor:

Ich weiß, dass ich nichts bin. Mein Stolz hat kein eigenes Fundament, er ist nur ein Anbau, errichtet auf Vorurteilen, ein Wetterschutz gegen meinen Zorn. (S. 54)  

Drohend steht ihr das Schicksal ihres Vaters vor Augen, der nach der Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien dem Wahnsinn verfiel und in einer Anstalt landete, der letzten elenden Station für Obdachlose und Notleidende:

Was mich in den letzten Jahren gequält hat, war die Angst, meine letzte Zuflucht in dieser Welt zu verlieren, die linke Seite von Sarahs Bett und dieses kleine Gehöft. (S. 35)

Sebastian Barry: Annie Dunne. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Steidl.

Veränderungen
Zwei Ereignisse prägen den Sommer 1959 auf dem kleinen Gehöft. Zu Annies Freude kommen die Kinder ihres Neffen, ein sechsjähriges Mädchen und ein vierjähriger Junge, für einige Wochen zu Besuch, während ihre Eltern eine neue Existenz in London aufbauen. Sie bringen Leben, aber auch Unruhe auf die Farm, und nicht alles, was Annie an ihnen beobachtet, versteht sie. Zugleich droht Annies größte Angst wahr zu werden: Billy Kerr, ein Landarbeiter, der den beiden Frauen gelegentlich zur Hand geht, bedroht ihre Zweisamkeit mit Sarah. Was würde aus ihr, der mittellosen Bittstellerin, wenn Sarah im fortgeschrittenen Alter doch noch heiratete? Kampflos will Annie ihren Platz nicht aufgeben. Die aufsteigende Panik lässt ihre schlimmsten Charakterzüge hervortreten.

Inhaltlich wie haptisch ein wunderschönes Buch
In diesem zweiten Roman des 1955 in Dublin geborenen Sebastian Barry, der zu den bekanntesten Autoren Irlands gehört, passiert nichts Weltbewegendes, und doch wird die kleine Welt von Annie Dunne nachhaltig erschüttert. Mit ihrer Angst vor dem Verlust ihrer Zuflucht hat sie mich an den geistig zurückgebliebenen Mattis in Die Vögel von Tarjej Vesaas erinnert, dessen Furcht, von seiner Schwester verlassen zu werden, in eine Tragödie führt. Wie Sebastian Barry diese kleine, im Umbruch begriffene Welt des ländlichen Irlands in der Mitte des 20. Jahrhunderts und den ambivalenten Charakter einer benachteiligten, innerlich zerrissenen Frau beschreibt und immer wieder Einblicke in die politische Vergangenheit des Landes gewährt, ist große Literatur.

Der Steidl Verlag hat dieses im Original 2002 erschienene Buch, hervorragend übersetzt von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, 2021 in einer wunderschönen Leinenausgabe veröffentlicht.

Sebastian Barry: Annie Dunne. Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser. Steidl 2021
steidl.de

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

  Ersatzfamilie

Wohngemeinschaften gab es unfreiwillig nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch Zwangseinquartierungen. Ab den 1960er-Jahren entdeckten Studierende diese Wohnform für sich. Angesichts explodierender Mieten, Wohnraumknappheit, steigender Zahl von Singlehaushalten und fehlender Heimplätze gibt es sie inzwischen für jedes Alter, jede Lebenssituation und jeden Geldbeutel.

3+1=4
In der Hamburger WG im neuen Roman Wohnverwandtschaften der Übersetzerin und Autorin Isabel Bogdan leben vier mitten im Leben stehende Erwachsene aus ganz unterschiedlichen Motiven. Jörg, Rentner Ende 60, kann das Geld aus der Vermietung für seine geplante Reise mit dem Bulli nach Georgien gut gebrauchen und hat sich nach dem Tod seiner Frau wieder Leben in die Wohnung geholt. Anke lebt seit mittlerweile mehreren Jahren bei ihm und wird von Zukunftsängsten geplagt. Sie war einst eine erfolgreiche Schauspielerin, leidet nun aber sehr unter den fehlenden Rollenangeboten für Frau über 50. Murat, ebenfalls um die 50, Fachmann für IT und Deutschtürke aus Köln, ist der Sonnyboy der WG, kocht gern für alle, liebt seinen Schrebergarten, den FC St. Pauli, seinen großen Freundeskreis und seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Er ist es auch, der die jüngere, nicht ganz so lockere Zahnärztin Constanze als Vierte im Bunde anheuert. Frisch getrennt, sieht sie die WG als Notlösung und Zwischenstation. Mit ihrem Einzug im Januar 2022 setzt der Roman ein:

Neues Zuhause. Übergangsweise. Irgendwann werde ich ja eine eigene Wohnung finden, ein richtiges Zuhause. Meins. Ach, Mist. Ich hatte doch schon mal eins. (S. 7)

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch.

Eine Zerreißprobe
Abwechselnd erzählen in den kurzen Kapitel die vier WG-Mitglieder von ihrem Alltag, chronologisch und mit genauer Angabe von Wochentag und Datum. Dazwischen gibt es Abschnitte mit mehreren Personen und Dialogen ähnlich einem Theaterstück. Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr Kapitel kommen aus der Sicht aller, denn nach Jörgs Blinddarmoperation ist er nicht mehr derselbe und der WG-Alltag wird zunehmend auf den Kopf gestellt. Abhängig von ihrem Charakter gehen Anke, Murat und Constanze zunächst verschieden damit um und brauchen unterschiedlich lang, um die Tragweite der Veränderung zu begreifen. Aber eins ist klar: Sie lassen ihren vierten Mann nicht im Stich.

Leicht und warmherzig
Wohnverwandtschaften
ist mit seinem Anklang an Goethes Wahlverwandtschaften eine einfallsreiche Wortneuschöpfung mit Potential für eine Aufnahme in den Duden. Zwei Jahre lang, bis Silvester 2023, verfolgen wir lesend die Ereignisse in der WG, Fortsetzung nicht ausgeschlossen. Isabel Bogdan schreibt leicht, amüsant und mit viel Empathie für ihre Figuren über ein Zusammenleben, das mir allerdings bei so unterschiedlichen Charakteren ein wenig zu konfliktfrei und harmonisch ablief. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Anke, Constanze und Murat sich in ihrer Sprache mehr unterschieden hätten, wie es bei Jörg sehr gut gelungen ist. Als warmherziger Wohlfühlroman über wachsende Freundschaft und geteilte Verantwortung liest sich das Buch jedoch gut. Noch besser allerdings kann ich mir den Text aufgrund seiner innovativen Struktur in der Hörfassung, auf der Bühne oder im Film vorstellen.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

Maria Parr: Himbeereis am Fluss

  Ein Vorlesebuch zum Verlieben

Oskar og eg. Alle plassane vi er (dt.: Oskar und ich. All die Orte, an denen wir sind) lautet der Originaltitel des fünften Kinderromans der Norwegerin Maria Parr. Die Erzählerin Ida ist zu Beginn des Buches acht Jahre alt, ihr Bruder Oskar fünf, und jedes der elf Kapitel rund um ein Jahr heißt nach seinem Handlungsort: beispielsweise dem Kleiderschrank, dem Fluss, der Schule, einer Holzhütte, dem Friedhof oder der Rodelbahn. Der deutsche Titel, Himbeereis am Fluss, ist die fantasievolle Antwort der Geschwister auf einen verregneten Sommertag.

Geschwisterhierarchie
Ida, Oskar und ihre Eltern leben in einem roten, ein wenig unmodernen Haus in einem norwegischen Dorf. Die Fenster leuchten abends gemütlich, warm und gelb und am liebsten würde man selbst gleich auf der ersten Seite dort einziehen:

In dem Haus wohnen zwei Kinder, Oskar und ich. Wir teilen uns ein Zimmer im Keller. Ich schlafe oben im Hochbett und bin der Chef. Oskar schläft im unteren Bett und glaubt, er wäre der zweite Chef, aber eigentlich bin ich diejenige, die alles bestimmt. (S. 12)

… es sei denn, Ida und die Eltern haben gleichzeitig einen Magen-Darm-Infekt:

Es war offensichtlich, dass er alles tat, was er sonst nicht durfte, jetzt, wo ihn niemand daran hindern konnte. (S. 35)

Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Dressler.

Kinderalltag rund ums Jahr
Maria Parr lässt Ida vom Familienleben und von ganz vertrauten Alltagssituationen erzählen, denen die Kinder mit Unternehmungslust, Neugier, Kreativität, Selbstbewusstsein und Resilienz begegnen: vom Spielen in der Natur, vom ersten Schultag des Bruders, von Halloween und Weihnachten und vom Warten auf den ersehnten Schnee. Nicht alles ist heile Welt, es gibt Streit, aber auch die Krankheit ihres heißgeliebten Onkels Øyvind, seinen Tod und die Trauer, die vor allem Ida, ihre Mutter und seinen Ehemann Onkel Bulle immer wieder unvermittelt überfällt. Nichts hilft dagegen so gut wie das Zusammensein im sicheren Hafen Familie und eine Umarmung. Zentral sind die Themen Geschwistersein und Größerwerden, mal von Ida ersehnt, mal bedauert:

Wo war denn der Witz am Großwerden, wenn dadurch nur alles, was groß und schön war, klein und blöd wurde? (S. 92)

Warmherzig, empathisch und humorvoll
Maria Parr, geboren 1981, gehört zu den erfolgreichsten und meistübersetzten Kinderbuchautorinnen Norwegens. Für Himbeereis am Fluss erhielt sie 2023 unter anderem zum dritten Mal den renommierten Bragepreis in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur.

Ich habe mich in dieses warmherzige, überhaupt nicht nostalgische Vorlesebuch regelrecht verliebt: wegen seiner glaubwürdigen kleinen Beobachterin Ida, wegen des unbekümmerten Oskars, der im Hintergrund sanft und empathisch lenkenden Eltern und der kinderlieben Onkel. Maria Parrs Sprache ist klar, voller Empathie und warmem Humor. Spaß machen auch die vielen kolorierten Tuschezeichnungen der Illustratorin Åshild Irgens, deren Gesichter Gefühle wie Freude, Trauer, Wut, Angst, Erstaunen, Scham oder Neid wunderbar widerspiegeln.

Himbeereis am Fluss ist ein hinreißendes Vorlesebuch, das Erwachsenen jeden Alters garantiert genau so viel Freude macht wie kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern von etwa fünf oder sechs bis neun Jahren.

Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Illustriert von Åshild Irgens. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. Dressler 2024
www.oetinger.de/verlagsgruppe/dressler

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus

  Im Schatten einer monumentalen Familienlüge

Kaputte Familien bieten Stoff für interessante Romane, aber so düster wie in der norwegischen Saga um die Familie Neshov ist die Fantasie der Autorinnen und Autoren trotzdem selten. Drei Brüder, die sich nichts zu sagen haben und unterschiedlicher kaum sein könnten, bilden die mittlere Generation: Tor, 55 Jahre alt, ein schweigsamer Schweinebauer auf dem im Verfall begriffenen Familienhof nahe Trondheim, Margido, 52 Jahre, erfolgreicher, aber spartanisch lebender Bestatter, der stets professionell-distanziert auftritt, und Erlend, 39 Jahre, extravaganter Schaufensterdekorateur, homosexuell, der seit seiner Flucht vor den Vorurteilen gegen ihn als „Männermann“  in Kopenhagen lebt. Margido war nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter Anna vor sieben Jahren nicht mehr auf dem Hof, bei Erlend sind es schon 20 Jahre. Tor erlebte nur eine einzige Liebesnacht, dann vertrieb seine besitzergreifende Mutter seine schwangere Freundin. Mit seiner Tochter Torunn führt er seltene Telefonate und hat sie nur ein einziges Mal getroffen. Seine ganze Zuneigung gehört seinen Schweinen, obwohl sie kaum sein Auskommen sichern. Margido war stets Single und muss sich der Annäherungsversuche frisch verwitweter Kundinnen erwehren. Erlend hat zwar seit 12 Jahren einen festen Partner, leidet jedoch unter Verlustängsten, die er mit Luxus und Alkohol zu überdecken versucht. Torunn, Hundetrainerin in Oslo, hat ihren untreuen Partner vor einem halben Jahr verlassen.

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. © B. Busch. Cover: © Hörbuch Hamburg.

Keine Generation ist glücklich
Bei den Eltern der Brüder sieht es noch schlimmer aus. Sie leben zwar unter einem Dach, aber nur nebeneinander. Die 80-jährige Anna regiert, obwohl dem Haushalt nicht mehr ganz gewachsen, noch immer mit harter Hand über Hof, Sohn und Ehemann. Letzterer, der im Roman namenlos bleibt, vegetiert ungepflegt, nahezu unsichtbar, von Frau und Sohn verachtet vor sich hin.

Einziger Lichtblick scheint der Großvater gewesen zu sein, das Herz des Hofes, ein geselliger Optimist, für die Enkel da und immer in Bewegung. Seit seinem Tod vor 22 Jahren sind die Außenkontakte abgebrochen und das Leben auf dem Hof erstarrt.

Ein Todesfall als Initialzündung
Als Anna in der Woche vor Weihnachten einen Schlaganfall erleidet und kurz darauf im Krankenhaus stirbt, finden sich schlagartig alle auf dem Hof ein. Torunn und Erlend starten zu Tors Entsetzen eine Hausputzaktion und schließlich wird sogar der Weihnachtsabend mit einem gemeinsamen Festmahl begangen. Doch als der Vater, für alle überraschend, nach ungewohntem Alkoholgenuss das Wort ergreift, platzt eine weihnachtliche Bombe. Das Lügenhaus, das seine Schatten auf sämtliche Familienmitglieder warf, stürzt krachend ein.

Hörbuchfassung in perfekter Besetzung
Das Lügenhaus ist der erste von sechs Bänden über die Bauernfamilie Neshov, die zwischen 2007 und 2022 erschienen und die 1957 bei Trondheim geborene Anne B. Ragde zu einer der bekanntesten Autorinnen Norwegens machten. Ich habe mir die Geschichte auf vier CDs in 318 Minuten vorlesen lassen, leider gekürzt, aber mit den Sprecherinnen und Sprechern Ulrike Grote (Anna), Walter Kreye (Tor), Matthias Brandt (Margido), Gustav Peter Wöhler (Erlend) und Wiebke Puls (Torunn) ebenso hochkarätig wie optimal passend besetzt. Zwar hat mich die Geschichte, die auch eine Hommage an die aussterbende Bauernschaft, Erinnerung an den Größenwahn der deutschen Besatzung und eine Auseinandersetzung mit Homosexualität und Homophobie ist, nicht sofort gepackt, aber je mehr die Figuren interagierten, desto dramatischer wurde es – bis zum umwerfenden Showdown. Unmöglich deshalb, nicht bald mit dem zweiten Band, Einsiedlerkrebse, fortzufahren.

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Gekürzte Lesung von Matthias Brandt, Ulrike Grote, Walter Kreye, Wiebke Puls und Gustav Peter Wöhler. Hörbuch Hamburg 2009
www.hoerbuch-hamburg.de

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe

  Vorboten einer neuen Zeit

Tore Renberg: Lungeflyteprøven. Foto: © B. Busch. Cover: © Forlaget Oktober.

Während meiner Norwegen-Reise im Sommer 2024 stand ein Buch im Schaufenster nahezu jeder Buchhandlung: Lungeflyteprøven von Tore Renberg, erschienen 2023, geschmückt mit durchgängig sechs Punkten auf dem Wertungswürfel bedeutender Feuilletons und monatelang auf der nationalen Bestsellerliste. Nun ist der historische Roman des in Norwegen sehr bekannten Autors, der in Sachsen im ausgehenden 17. Jahrhundert spielt, von Karoline Hippe und Ina Kronenberger fein ausbalanciert zwischen Lesbarkeit und Barockflair auf Deutsch erschienen.

Die Carolina
1681: Das finstere Mittelalter ist vorbei, die Epoche des Hochbarocks jedoch kaum weniger grausam. Noch schmerzen die Wunden des 30-jährigen Kriegs und der Pest, die Macht liegt bei Adel und Klerus. Seit 1532 gilt die Constitutio Criminalis Carolina, das Straf- und Prozessrecht Kaiser Karls V.  Diese sieht für Kindsmörderinnen Tod durch lebendiges Begraben, Pfählen oder Ertränken vor, bei Fehlen des unabdingbaren Geständnisses die Folter.

„Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“
Der Untertitel erklärt, worum es in Tore Renbergs 700 Seiten umfassendem Roman geht, zu dem ein 46-seitiger Anhang online verfügbar ist. Im Oktober 1681 brachte die 15-jährige Gutsbesitzertochter Anna Voigt auf Gut Greitschütz am Westufer der Weißen Elster nahe Leipzig ein uneheliches Kind tot zur Welt, ohne dass sie oder ihre Eltern von der Schwangerschaft wussten. Angezeigt von Hausangestellten, die die von Annas Mutter vergrabene Säuglingsleiche fanden, kam der Fall zum Pegauer Amtmann, dem der nicht-adelige Gutsbesitzer und Parvenü Hans Heinrich Voigt schon lange nicht behagte.

Unter den nicht seltenen Fällen angeklagter Kindsmörderinnen sticht der Fall Anna Voigt vor allem aus drei Gründen hervor: Bei der Obduktion der Säuglingsleiche war der angesehene Stadtphysikus von Zeitz, Johannes Schreyer (1631 – 1694), zugegen, der mit dem später nach ihm benannten forensischen Verfahren der Lungenschwimmprobe nachwies, dass es sich um eine Totgeburt handelte:

Dass derselbe Tag auch den Beginn der modernen Gerichtsmedizin begründen würde, sollte Schreyer nie erfahren. (S. 60)

Außergewöhnlich war auch, dass Annas Vater die finanziellen Mittel und den Willen besaß, einen begabten, kämpferischen jungen Verteidiger zu beauftragen: Christian Thomasius (1655 – 1728). Dieser unbeugsame Rechtsgelehrte, Sohn des Leiters der Leipziger Thomasschule, der seine Heimatstadt später verlassen musste und Mitbegründer der juristischen Fakultät der Universität Halle wurde, scheute nie den gefährlichen Konflikt mit verbohrten Klerikern oder universitären Blockierern und war sofort von der Bedeutung der Lungenschwimmprobe elektrisiert:

Sobald ein Wissenschaftler mit frischen Gedanken Licht ins Dunkel brachte, kamen die Traditionalisten und verdunkelten wieder alles, sie riefen Ketzer und Atheist, insbesondere in Leipzig, das gerade erst mit Mühe und Not begonnen hatte, ein paar Lichtstrahlen hereinzulassen. (S. 125)

Die dritte Besonderheit war die jahrelange Dauer des für alle Beteiligten grauenvollen Verfahrens.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Alte Stadtansicht von Leipzig: Wikimedia commons, gemeinfrei. Fotos der Thomaskirche und des Alten Rathauses: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Luchterhand.

Ein außergewöhnlicher Historienroman
Tore Renberg hat für seinen ersten historischen Roman fünfeinhalb Jahre lang umfassend recherchiert, oft vor Ort, unterstützt von Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen und weit über den eigentlichen Fall hinaus. Hauptquellen waren die umfangreichen Originalschriften von Johannes Schreyer und Christian Thomasius, ergänzt durch schriftstellerische Fantasie, die sich aus spürbar tiefem  Eintauchen in die Zeit und Empathie für die Hauptfiguren bis hin zur Leipziger Scharfrichterfamilie speist. Das Ergebnis hat mich begeistert. Die Lungenschwimmprobe nutzt die Geschichte nicht – wie gängige Historienschmöker – als Hintergrundkulisse für Liebesdramen, Ränkespiele und Heldenabenteuer. Vielmehr liest man ein detailreiches, lebendiges, multiperspektivisch erzähltes Gesellschaftspanorama, in dem sogar der Autor selbst über sein Schreiben berichtet.

Am Ende hat man auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise viel über die Gerichtsbarkeit des 17. Jahrhunderts und die Vorboten der Aufklärung am konkreten Beispiel eines tragischen Frauenschicksals erfahren – mit durchaus aktuellen Bezügen zu Wissenschaftsskepsis und Faktenleugnung heute.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger. Luchterhand 2024
www.penguin.de