Matthias Jügler: Maifliegenzeit

  Was man nicht sieht

40 Jahre liegen zwischen den beiden zentralen Ereignissen des Romans Maifliegenzeit von Matthias Jügler. Der Ich-Erzähler Hans, ein 65-jähriger pensionierter Lehrer und Hobbyangler, hat 1978 seinen angeblich nur Stunden nach der Geburt verstorbenen Sohn Daniel in einem selbst ausgehobenen Grab auf dem Größnitzer Friedhof im heutigen Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt begraben. Mit dem Tod ihres Wunschkinds zerbrach die Beziehung zwischen Hans und Katrin. Statt gemeinsam zu trauern und sich Halt zu geben, entfernte das schreckliche Ereignis die verhinderten Eltern immer weiter voneinander. Während Katrin sich aufbäumte und zweifelte, verstummte Hans in Schockstarre, akzeptierte die Tragödie und forderte dasselbe von ihr. Schuldgefühle verfolgen ihn deshalb bis heute:

Heute weiß ich, dass der Versuch, die Ereignisse der Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, um das Leben führen zu können, was man ein normales Leben nennt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. (S. 10)

Leben mit dem Verlust
Wie einst sein Vater findet Hans Trost beim Angeln in der Unstrut. Erst 1987 sieht er die von ihrer Krebserkrankung gezeichnete Katrin in Erfurt ein letztes Mal wieder, wo sie ihn bittet, zum richtigen Zeitpunkt die Augen offenzuhalten.

© B. Busch. Cover: © Penguin

Wiederholt unternimmt Hans nach der Wende Versuche, Katrins Verdacht nachzugehen, unterstützt von seiner klugen, warmherzigen und einfühlsamen neuen Partnerin Anne. Er trifft auf Ablehnung, Misstrauen und Zurückweisung: Zwangsadoptionen, ja, aber vorgetäuschten Kindstod hätte es wohl in Francos Spanien, nicht aber in der DDR gegeben!

Doch dann geschieht das Unglaubliche: Nach 40 Jahren ruft Daniel, der nun Martin heißt, an:

Ich war am Ende einer unwahrscheinlichen Geschichte angelangt. Dabei fing es, wie ich heute weiß, eigentlich erst richtig an. (S. 82)

Wie ein sicher geglaubter Fisch an der Angel sich manchmal losreißt, droht auch der wiedergefundene Sohn abzutauchen, wenn Hans nicht größtes Geschick beweist:

Geduld, das hatte mir mein Vater vor Jahrzehnten beigebracht, brauchte man als Angler gleich zweimal: bevor der Fisch beißt – und danach. (S. 143)

Foto der Unstrut: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Penguin

Ein phantastischer Erzähler
Maifliegenzeit
ist der dritte Roman des 1984 in Halle geborenen Autors Matthias Jügler, sehnsüchtig von mir erwartet, da mich bereits die beiden Vorgänger Raubfischen von 2015 und Die Verlassenen von 2021 begeistert haben. Alle drei Bücher sind schmal und extrem verdichtet. Die Sprache ist reduziert und unpathetisch, die Metaphern passgenau und es bleibt genau die richtige Menge Raum für Ungesagtes. Der leise, von Melancholie und Nachdenklichkeit getragene Erzählton, die sensiblen Naturschilderungen und die schmerzlichen Themen erinnern an Skandinavier wie Per Petterson.

Unsichtbar und doch existent
Man muss nicht die Begeisterung des Autors für das Angeln teilen, um die Szenen an der Unstrut und die Geschichten über Karpfen, Barbe, Aal, Forelle und Hecht zu lieben, die nicht nur Hans, sondern auch die Leserinnen und Leser in den unerträglichsten Momenten trösten. Nie stehen diese Passagen für sich, immer findet sich ein direkter Bezug zur Romanhandlung. Besonders eindrücklich gelingt das beim titelgebenden Maifliegenfischen mit jenen Eintagsfliegen, die erst nach mehrjährigem Larvenstadium auf dem Grund ihres Gewässers einzig zur Fortpflanzung an die Oberfläche kommen:

Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert. (S. 79)

Obwohl wissenschaftliche Beweise für systematisch vorgetäuschten Säuglingstod in der DDR, wie ihn auch die empfehlenswerte ARD-Fernsehserie Weißensee thematisiert, bisher fehlen, sind inzwischen drei solcher Fälle belegt. Wie viele der etwa 2000 Verdachtsfälle begründet sind, ist unbekannt, jedoch ist jeder einzelne eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe für die Betroffenen.

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Penguin 2024
www.penguin.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Matthias Jügler auf diesem Blog:

 

Maria Borrély: Das letzte Feuer

  Das Lied der Asse

Der exzellenten Übersetzerin Amelie Thoma und dem Kanon Verlag ist es zu verdanken, dass wir nach Mistral aus dem Jahr 1930 nun auch den ein Jahr später erschienenen zweiten Roman Das letzte Feuer der in Marseille geborenen Lehrerin, Autorin, Kommunistin und Résistance-Anhängerin Maria Borrély (1890 – 1963) wieder lesen können. Amelie Thoma entdeckte die zeitweise vergessene Schriftstellerin, die den größten Teil ihres Lebens in der Haute Provence verbrachte, bei einem ihrer zahlreichen Urlaubsaufenthalte im Département Alpes-de-Haute-Provence. Sie verliebte sich – genau wie der Literaturnobelpreisträger André Gide (1869 – 1951) und Borrélys provenzalischer Kollege Jean Giono (1895 – 1970) viele Jahre zuvor – in ihre schmalen Romane, deren großes Thema, wie sie im Nachwort zu Mistral schreibt, das „Mit- und Gegeneinander von Mensch und Natur“ ist. Schade, dass der Verlag die Übersetzerin bei diesen Verdiensten nicht auf dem Cover nennt.

Der Stein rollt ins Tal
Im schwer zugänglichen Bergdorf Orpierre-d’Asse gibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenige Häuser. Es herrschen Armut, Not und Unfrieden unter den „Schmalhänsen“, wie die Dörfler genannt werden:

Es gibt nichts als Zank, Hader und Prozesse, denn wenn die Krippe leer ist, streiten die Ochsen. (S. 10)

Mit dem Bau einer Brücke und der Eindeichung der rauschenden Asse, die zuvor ihre Felder wegspülte und die Ernte vernichtete, ändert sich das ärmliche Leben im Dorf. Nun entstehen fruchtbare, bewässerte und geschützte Flächen. Ein Aufatmen bis hin zum Übermut geht durch Orpierre-d’Asse:

Ihre Freude strömt über wie ein Bach. (S. 25)

Den Ersten, der nach unten zieht, halten die anderen noch für verrückt, aber plötzlich wollen auch sie ins Tal. In der allgemeinen Aufbruchsstimmung entstehen neue Häuser, eine Kirche, ein Gasthof und eine Schule. Man hilft sich gegenseitig:

Vergessen, die alten Ärgernisse und Querelen. (S. 29)

Bald brennt oben nur noch ein letztes Feuer, denn die alte Pélagie weigert sich strikt, mit ihrer Enkelin Berthe hinunterziehen. Zu verwurzelt ist sie und zu sehr misstraut sie auch dem gebändigten Fluss. Nur kurz schöpft sie Hoffnung auf neues Leben in den verfallenden Häusern, als Berthe sich mit Auguste aus dem Tal verheiratet. Doch obwohl auch dort längst nicht alles Gold ist, was glänzt, hofft sie vergeblich:

Der Stein steigt nicht wieder hinauf, er rollt. (S. 72)

Und so bleibt ihr Feuer das letzte, nur sie läutet noch die Totenglocke an Allerheiligen und erinnert die Weggezogenen an ihre Familiengräber. Nichts anderes wünscht sie sich mehr, als rechtzeitig vor der Stilllegung des alten Friedhofs zu sterben.

© B. Busch. Cover: © Kanon

Eine wunderbare Wiederentdeckung
Wie der Wind in Mistral „weht“, „heult“, „rast“, „wütet“, „zerrt“, „brüllt“, „pfeift“, „wummert“, „heißer röchelt“ und „beißt“, so „singt“, „droht“, „tobt“, „tost“ in Das letzte Feuer die Asse, „schwillt an“, „treibt es bunt“, „reist Bäume fort“ und „rast heran gleich einer Horde galoppierender Pferde“ – entsprechend den Menschen, die an ihrem Ufer leben. Nicht verwunderlich also, dass Pélagie in diesem höchst empfehlenswerten, schlicht und dadurch umso eindrucksvoller erzählten literarischen Kleinod über dörflichen Alltag zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Fazit über das Leben an der Asse festmacht:

„Die Zeit ist wie die Asse“, sagt sie, „sie hinterlässt Zerstörung auf ihrem Weg“. (S. 118)

Maria Borrély: Das letzte Feuer. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Kanon 2024
kanon-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Maria Borrély auf diesem Blog:

Stig Dagerman: Gebranntes Kind

  Zwei Seiten einer Medaille

Der schwedische Journalist und Autor Stig Dagerman (1923 – 1954) hinterließ trotz seines Selbstmords im Alter von nur 31 Jahren und einer vorausgehenden Schreibblockade eine erstaunliche Zahl von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Gedichten und Reportagen. Sein bekanntester Roman ist Bränt barn, Gebranntes Kind, von 1948, der nun in einer Neuübersetzung von Paul Berf als zweites seiner Werke nach Deutscher Herbst im Guggolz Verlag erschien. Auf dem wunderschönen Cover sind zahlreiche brennende Kerzen zu sehen, ein sich im Text wiederholendes Bild. Stig Dagerman kündigte seinem Verleger das Buch als einen Roman an, der „von Liebe und Trauer in einem Arbeiterhaushalt in Söder[malm] handelt.“

Ein Potpourri der Gefühle
Im Mittelpunkt steht der 20-jährige Student Bengt Lundin, der zu Beginn gerade seine Mutter verloren hat. Deren Tod stürzt ihn, über dessen geistige Verfassung vor diesem Ereignis wir nichts erfahren, in abgrundtiefe Trauer, die in ebenso heftigen Hass umschlägt, als er während der Trauerfeier von einer Geliebten seines Vaters erfährt. Bengts Wut richtet sich nicht nur gegen den Vater und dessen Affäre Gun, sondern auch gegen seine eigene Freundin, die verhuschte Berit, und gegen den schwarzen Hund, den der Vater mitbringt. Als Bengt, Berit, Gun und der Vater auf dessen Vorschlag hin Mittsommer zu viert auf einer Schäre vor Stockholm verbringen, dem Ort, wo sich einige der Schlüsselstellen des Romans abspielen, will Bengt dort seine Rachepläne in die Tat umsetzen, doch es kommt anders:

Als sein Stuhl sehr eng neben ihrem steht, merkt er jedoch, wie kurz der Schritt zwischen Hass und Liebe ist, sie sind nur zwei Seiten einer Medaille. Nur wen wir lieben, können wir wirklich hassen. (S. 260)

Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz

Reinheit und Lüge
Gebranntes Kind
ist eine überaus fordernde Lektüre, gespickt mit Bildern, Motiven und Gegensatzpaaren. Gefällig oder angenehm zu lesen ist hier nichts, denn nicht nur erweist sich Bengt als schwer gestörter, kranker und sowohl physisch wie psychisch gewalttätiger und unberechenbarer Charakter, auch die anderen verhalten sich abnormal und irrational, ähnlich Co-Abhängigen bei Suchtkranken. Ein Grund dafür liegt in der Ehrfurcht, die sie vor dem Studenten empfinden, aber auch Mitleid und Angst sind im Spiel. Bengt seinerseits kennt nur Verachtung, niemand kann vor seinen strengen Maßstäben bezüglich „Reinheit“ bestehen, niemand ist wie er:

Es gibt nur einen Menschen auf der ganzen Welt, dem du vertrauen kannst, und dieser Mensch bist du selbst. (S. 152)

Zwischen die Kapitel in personaler Erzählweise, hauptsächlich aus Bengts Sicht, stehen seine Briefe an sich selbst und andere, in denen er sich die Welt und seine Gefühle zu erklären versucht. Ausgerechnet er, der angeblich die Verlogenheit so sehr hasst, ist der größte Lügner von allen – und findet auch dafür eine Rechtfertigung:

Wer rein ist, darf mit dem, der unrein ist, alles machen. Denn wer rein ist, hat recht. (S. 41)

Sein eigenes Opfer
Wohlfühlliteratur ist Gebranntes Kind ganz und gar nicht, doch sind die Entsprechungen von Bengts Seelenzuständen mit der Sprache Stig Dagermans großartig: einerseits die knappen, pistolenartigen Sätze, die Bengts Fieber innerer Zerrissenheit widerspiegeln, andererseits die pathetisch-selbstgerechten Briefe und schließlich die zarten Sätze in den intensivsten Momenten der Leidenschaft.

Bengt als unsympathischen Protagonisten zu beschreiben, wäre untertrieben, vielmehr erzeugte er ein durchgehendes Gefühl von Übelkeit und Widerwillen bei mir. Genau das macht diese beeindruckende psychologische Studie über einen Jugendlichen in einer existenziellen Krise jedoch gleichermaßen zeitlos wie empfehlenswert.

Stig Dagerman: Gebranntes Kind. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit einem Nachwort von Aris Fioretos. Guggolz 2024
www.guggolz-verlag.de

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band

  Jede für sich allein

 

In ihren Heimatländern Syrien, dem Libanon, Israel und Jordanien bilden die vor über tausend Jahren vom Islam abgespaltenen Drusen nur eine verschwindende Minderheit. Ein zentrales Element ihres monotheistischen Glaubens ist die Seelenwanderung. Da das Wissen über die Religion, in die man nur als Kind zweier drusischer Elternteile gelangt, wenigen „wissenden“ Scheichs und Scheichas vorbehalten bleibt, gilt das Drusentum als Geheimlehre.

Der lange Weg zur Freiheit
In ihrem vom Verlag als „autofiktional“ beworbenen Roman Das unsichtbare Band schildert die libanesisch-drusische Autorin Haneen Al-Sayegh, die heute zwischen Berlin und Beirut pendelt, das Leben der jungen Amal. Sie wächst als Tochter von „Wissenden“ in einem abgelegenen libanesischen Bergdorf mit den widersprüchlichen Vorschriften dieser Religion auf und erlebt die Rechtlosigkeit der Frauen und ihre Unterdrückung mittels physischer und psychischer Gewalt. Das begabte Mädchen will aus dem jahrhundertealten Kreislauf aus Schweigen und Unterordnung ausbrechen.

Gedrängt von den Eltern, stimmt sie 15-jährig einer Eheschließung mit einem zehn Jahre älteren vermögenden Kaufmann zu, nachdem sie ihm die Zustimmung zu Schulbesuch und Studium abgerungen hat. Ihr Preis dafür sind fortgesetzte Vergewaltigungen und demütigende, unfreiwillige Prozeduren in einem Kinderwunschzentrum. Obwohl sie ihre Agenda zielstrebig umsetzt und ihren Master in Literaturwissenschaft glänzend besteht, leidet sie unter fehlendem Selbstbewusstsein und Depressionen. Doch die Zeit ihrer Ehe neigt sich dem Ende zu:

Die Magie hat sich gegen den Zauberer gewendet, die Figuren auf dem Schachbrett sind weitergezogen worden. (S. 199)

Ein nicht eingelöstes Versprechen
Ohne Vorwissen über das Drusentum habe ich den Roman Das unsichtbare Band zur Hand genommen, um mehr über die Religion und weibliche Biografien in dieser ultra-strengen Gemeinschaft zu erfahren. Ich war neugierig auf das titelgebende „unsichtbare Band“ zwischen den unterdrückten Frauen. Dass ich kaum mehr über das Drusentum als im Wikipedia-Artikel erfahren habe, mag darin begründet liegen, dass die Autorin keine „Wissende“ ist. Dass das „unsichtbare Band“ sich jedoch als haltloses Versprechen erwies, hat mich sehr enttäuscht. Ganz im Gegenteil sind es immer wieder Frauen, die ihren Geschlechtsgenossinnen Leid zufügen und das Patriarchat stützen, sei es Amals Mutter, die den favorisierten Schwiegersohn ermutigt, oder die Helferin in der Kinderwunschklinik. Die durchweg traumatisierten Frauen in Amals Familie leiden jede für sich allein. Amal selbst knüpft keine Kontakte zu anderen Drusinnen an der Universität Beirut. Ihre Tochter lässt sie zunächst wegen ihres Studiums von ihrer Mutter im zerstörerischen Ambiente ihrer eigenen Kindheit betreuen und opfert sie dann für ihre Freiheit, indem sie das Kind ohne Vereinbarungen über seine Zukunft dem Vater überlässt. Das Buch las sich für mich wie eine Verteidigungsschrift und die Widmung für die Tochter scheint dies zu bestätigen.

Bis zur knappen Hälfte bin ich der Handlung interessiert gefolgt und war auf Amals Seite. Dann allerdings verlor die auf sich fixierte Protagonistin für mich an Glaubwürdigkeit, denn als erfolgreiche Universitätsabsolventin hätte sie das Rüstzeug für einen Blick über den eigenen Tellerrand gehabt, nutzt es jedoch nicht. Vermisst habe ich eine Beschreibung ihres Äußeren, ihrer Kleidung, ihres Alltags und lange sogar ihres Studienfachs. Endgültig enttäuscht hat mich das Buch im letzten Drittel, als sich Amal in einen arabisch-deutschen Schriftsteller verliebt: Kitsch statt Poesie und triviale, aufgesetzt wirkende Dialoge und Briefe, garniert mit philosophischen Passagen, die einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Spätestens beim Umarmen von Bäumen war meine Schmerzgrenze überschritten.

Schade, dass ich trotz der spannenden Thematik weniger als erhofft aus der Lektüre mitnehme. Mag Amal sich durch ihr Weggehen schließlich gerettet haben – ein Hoffnungszeichen für die Zurückgebliebenen ist das nicht.

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band. Aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad. dtv 2024
www.dtv.de

Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht

  Der Türspalt in die Vergangenheit

2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Sámi Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, Das Leuchten der Rentiere. Der schwedische Originaltitel Stöld (Diebstahl) verrät mehr über den Inhalt: Rentierwilderei im heutigen Lappland und die unterlassenen Ermittlungen durch die schwedische Polizei als Teil von strukturellem Rassismus gegen die samische Bevölkerung.

Auch beim nun erschienenen zweiten Band Die Zeit im Sommerlicht sagt der Originaltitel mehr: In Straff (Bestrafung) geht es um das System der Nomadenschulen, in die Rentierzüchterfamilien ihre Kinder ab sieben Jahren schicken mussten. Wochenlang von zuhause getrennt, durften sie ihre Muttersprache nicht sprechen, schreiben oder lesen, nicht joiken, erlebten die Verunglimpfung ihrer Kultur und waren physischer wie psychischer Gewalt durch das Personal und ältere Kinder schutzlos ausgeliefert. Ähnlich wie es der kanadische Indigene Richard Wagamese in seinem Roman Der gefrorene Himmel über die Residential Schools seines Landes beschreibt, sollte den Kindern mit Gewalt ihre Kultur und Tradition ausgetrieben werden – ein Trauma mit lebenslangen Folgen.

Fünf Schicksale in zwei Zeitebenen
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Mitte der 1950er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa im Internat in Láttevárri, das unter der Leitung der brutalen Hausmutter Rita Olsson steht. Einzig die junge Betreuerin Anna, eine sanfte und zugewandte Sámi, schenkt den Kindern Zuneigung und gibt ihnen Halt. Ihre Entlassung ist ein Schock.

Mitte der 1980er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa knapp 40. Alle leiden unter den Internatserfahrungen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Else-Majs Mann, mit dem sie in ihrem Dorf eine traditionelle Rentierzüchterfamilie gegründet hat, war ebenfalls Internatsschüler, doch ist das schmerzhafte Thema tabu. Anne-Risten lebt in Kiruna, hat einen Schweden geheiratet und spricht mit ihren Kindern nur Schwedisch. Sie leidet unter multiplen körperlichen Beschwerden, unter der Verachtung ihrer Tochter und der Angst, als Samin „enttarnt“ zu werden. Ebenfalls in Kiruna leben Marge und Jon-Ante, der im Internat von Nilsa und seiner Bande misshandelt wurde. Beiden fehlt es an Selbstbewusstsein und Mut zu einer Bindung. Als Marge ein kolumbianisches Mädchen adoptiert, erkennt sie Teile ihrer eigenen Geschichte wieder. Der allseits verhasste Nilsa, der als Rentierzüchter ins Dorf zurückgekehrt ist, leidet unter seiner Mitschuld am Tod seines jüngeren Bruders Aslak.

Was alle vereint, ist das kollektive Schweigen. Erst als Rita Olsson wieder auftaucht, gerät etwas in Bewegung. Der klugen Anna ist es schließlich zu verdanken, dass die Mauer des Schweigens erste Risse bekommt:

Tastend wurden Erinnerungen formuliert, für die Anna einen Türspalt geöffnet hatte. (S. 473)

Samische Haube, Flagge, Messer und Rentier: © B. Busch. Cover: © Hoffmann und Campe

Fiktiv und doch wahr
Die einzelnen Kapitel springen zeitlich und zwischen den Hauptfiguren hin und her, trotzdem behält man leicht den Überblick. Wer Das Leuchten der Rentiere gelesen hat, wird einige der Personen wiedererkennen, doch sind die Bücher auch völlig unabhängig zu lesen. Ann-Helén Laestadius setzt sich in beiden fiktiv, jedoch auf wahren Begebenheit beruhend, mit dem Rassismus gegen die samische Bevölkerungsminderheit in Schweden auseinander und zeigt die Weitergabe des samischen Traumas über Generationen. Ich habe auch Die Zeit im Sommerlicht als schonungs-, jedoch nicht hoffnungslosen Roman mit großem Interesse und ausgesprochen gern gelesen und warte nun sehr gespannt auf den noch ausstehenden dritten Band.

Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hoffmann und Campe 2024
hoffmann-und-campe.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Ann-Hélen Laestadius auf diesem Blog:

Edvard Hoem: Der Heumacher

  Eine neue Zeit

 

Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als Die Hebamme bekannt, und war der Urgroßvater des Autors. Kaum mehr als die Daten der Kirchenbücher und die Erzählungen des Großvaters sind verbürgt:

Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel – zu seiner wie zu meiner Zeit. (S. 5)

Ein entbehrungsreiches Leben
Nesje lebte als Kleinbauer das harte Leben seiner Vorfahren, bestehend aus der Anstellung beim Großbauern, den Pflichttagen zur Bezahlung der Pacht auf dem Gut Reknes und der Arbeit auf dem gepachteten Land, 160 Ar in Rekneslia oberhalb der Kleinstadt Molde in der norwegischen Provinz Møre og Romsdal.

Der Roman beginnt kurz vor der zweiten Hochzeit des Witwers Nesje 1875 mit Serianna vom Bortehof in der Siedlung Hoem, auf dem Edvard Hoem heute wieder teilweise lebt. Serianna war die Großnichte von Lars Olsen Hoem, Protagonist von Der Geigenbauer. Vier Kinder wurden dem Paar geboren, darunter der Großvater des Autors.

© B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

40 Jahre lang machte Nesje Heu auf dem Gutshof und war stolz auf seine Meisterschaft mit der Sense und auf sein kleines „Nesje-Stück“. Nur selten haderte er mit seinem geplatzten Traum vom eigenen Grund und Boden. Trotz aller Mühsal, Sorge und fehlendem Wahlrecht kam ein Weggehen für ihn nie in Betracht, obwohl es diese Möglichkeit durchaus gegeben hätte. Hunderttausende norwegische Bauernfamilien wanderten damals aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in die USA aus:

„Mutter Norwegen schafft es nicht, alle ihre Kinder zu ernähren“, […] „Also müssen einige von ihnen hinaus in die Welt.“ (S. 36)

Fotos vom Romsdalsfjord, vom Moldefjord und vom Auswandererdenkmal in Cobh (Irland): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

Der Traum vom besseren Leben
Auch in Nesjes Verwandtschaft grassierte das Auswandererfieber. Seriannas jüngste, abenteuerlustige Schwester Gjertine, die zweite Protagonistin des Romans, überredete 1886 ihren Mann Ole zur Auswanderung, um ihrem Traum von einem besseren und freieren Leben für sich und ihre Kinder näherzukommen, andere aus der Familie folgten nach. Doch auch in South-Dakota wartete ein entbehrungsreiches, hartes Leben auf die Neuankömmlinge und längst nicht jeder Traum wurde wahr, obwohl darüber in den Briefen nach Hause oft geschwiegen wird.

Edvard Hoem bei einer Lesung in Bellheim am 12.04.2024. © B. Busch

Edvard Hoem – ein begnadeter Geschichtenerzähler
Der Heumacher, im Original 2014 und erstmals auf Deutsch 2024 im Verlag Urachhaus erschienen, ist der Auftakt zum mehrbändigen Romanzyklus Edvard Hoems über die norwegische Auswanderung. Wie alle seine familienhistorischen Romane, die ich im Laufe der letzten Jahre mit immer größerer Begeisterung gelesen habe, ist auch Der Heumacher absolut mitreißend und von Antje Subey-Cramer hervorragend übersetzt. Ich liebe die Bücher des begnadeten Geschichtenerzählers Edvard Hoem für die knappe, leicht verständliche, unverwechselbare Sprache in Verbindung mit den poetischen Landschaftsbeschreibungen, das ruhige Erzähltempo, die Bilder voller Intensität, die akribische historische Recherche und die empathische Figurenzeichnung. Mittendrin im Leben der Menschen war ich beim Lesen, teilnehmend an ihren Sorgen und schwierigen Entscheidungsprozessen ebenso wie an den sonnigen Momenten und voller Freude, wenn mir vertraute Figuren aus anderen Romanen wiederbegegneten.

© B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

Ich hoffe sehr, dass bald auch die Folgebände auf Deutsch erscheinen, denn ich möchte unbedingt erfahren, wie es in der Alten und Neuen Welt weitergeht.

Edvard Hoem: Der Heumacher. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2024
https://www.urachhaus.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:

      Hoem

Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers

  Gespenster der Vergangenheit

Kriminalhauptkommissar Arno Groth ist im Herbst 1991 frisch zurück in seiner mecklenburgischen Geburtsstadt, dem fiktiven Wechtershagen nahe Demmin. Nicht ganz freiwillig hat er Hamburg verlassen, wo er seit seinem Weggang aus der DDR 1960 lebte und arbeitete, als Kriminalpolizist, weil aus dem Germanistikstudium für den passionierten Leser und Sammler von Erstausgaben nichts wurde. Nun soll er in der alten Heimat ermitteln und als Aufbauhelfer Ost ehemalige DDR-Volkspolizisten schulen, keine dankbare Aufgabe und nicht dazu angetan, Freundschaften mit den neuen Kolleginnen und Kollegen zu schließen. Eine Scheidung, der Tod seiner Tochter und eine unverzeihliche berufliche Fehleinschätzung setzen dem von Zweifeln geplagten Mann darüberhinaus schwer zu.

Ein Toter am Wechtsee
Kaum angekommen, trifft Groth im Hof der Polizeiwache auf den Ex-Musiker und jetzigen Tretbootverleiher Siegmar Eck, einen verwahrlosten Alkoholiker, der sich verfolgt fühlt. Bevor dieser dem zweifelnden Groth Beweise dafür bringen kann, wird er tot am Bootsanleger des Wechtsees aufgefunden. Ohne Hinweise auf Fremdeinwirkung und mit einem plausiblen Unfallszenario wird der Tod als Unglücksfall eingestuft. Nur Groth mag sich damit nicht abfinden, gar zu seltsam erscheint rückblickend seine Begegnung mit dem Opfer. Als sich auch noch herausstellt, dass Eck zehn Jahre zuvor im Mordfall an der 19-jährigen Polizistentochter Jutta Timm als Haupttatverdächtiger galt, wegen seines bombensicheren Alibis jedoch freigesprochen wurde, ist Groths Ermittlerinstinkt endgültig geweckt. Warum fehlen in diesem abgeschlossenen Altfall aus dem Mai 1980, in dem nie ein Schuldiger ermittelt wurde, sämtliche Akten? Entgegen der Anordnung seines neuen Chefs verbeißt sich Groth in den Fall, wohlwissend, dass er sich keinen weiteren Fauxpas leisten darf.

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Tropen

Und noch jemand ist neu in Wechtershagen: die Kellnerin Regine Schadow aus Berlin, wesentlich jünger als Groth, aber mit nicht weniger Altlasten. Sie arbeitet im zweitklassigen Ausflugslokal am Wechtsee, löst nebenher die Wohnung ihrer Großmutter auf und scheint einiges zu verbergen. Jedenfalls gibt sie immer nur so viel zu, wie Groth bereits weiß. Welche Verbindung hatte sie zum Opfer und warum hat sie wirklich ihre Stelle im Kempinski aufgegeben?

Viel mehr als ein Whodunit-Roman
Die 1968 in Heidelberg geborene ehemalige Richterin Susanne Tägder hat ihr sehr empfehlenswertes Krimidebüt Das Schweigen des Wassers, das auf einem realen Mordfall von 1979 fußt, in der ehemaligen Heimat ihrer Eltern angesiedelt: Vorbild für Wechtershagen war die Stadt Neubrandenburg. Was den Krimi aus der Masse der Neuerscheinungen heraushebt, sind seine sprachliche Gewandtheit, die Wahl der beiden Zeitebenen kurz vor bzw. nach der Wende, die die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche und Stimmungen beleuchten, die ruhige, melancholische Atmosphäre sowie die glaubhaften Charaktere. Alle sind verwundet, sei es das Mordopfer Eck, dessen Leben nach der Anklage aus der Bahn geriet, der Kafka lesende Ermittler Groth mit seiner schwierigen Vergangenheit, sein neuer Kollege Gerstacker, der im Fokus der Stasi-Begutachtungskommission steht, oder die traumatisierten Mitglieder der Familie Timm. Ausgerechnet die alten DDR-Seilschaften, die den Mordfall von 1980 weitgehend vertuschten, haben die Zeiten allgemeiner Auflösung, Verunsicherung und Entwurzelung um 1989 unbeschadet überlebt.

Einziger Wehmutstropfen beim Lesen war für mich, dass ich die Auflösung recht früh – und richtig – durchschaute, was ich selbst bei diesem literarischen Krimi, der viel mehr als nur Whodunit-Roman ist, schade finde. Auf eine Fortsetzung hoffe ich trotzdem, denn Susanne Tägder, Arno Groth und Wechtershagen haben unbedingt das Potential dafür.

Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers. Tropen 2024
www.klett-cotta.de/verlage/tropen

Sabine Rennefanz: Kosakenberg

  Wurzeln und Neubeginn

 

Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman Kosakenberg von Sabine Rennefanz. Nach dem Abitur 1997 verlässt sie ihr fiktives Dorf im Osten Brandenburgs, um im Westen zu studieren:

Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat. (S. 9)

Immer seltener werden fortan ihre Besuche und sie wird zu einer Fremden mit zwei Leben, wie es der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Navokov formuliert:

Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem weggegangen ist. (S. 11)

Gehen – ein Vergehen?
Mit 25 Jahren hat Kathleen es geschafft: Als Grafikdesignerin ergattert sie einen Posten in London. Damit lässt sie ihre Herkunft nun sogar doppelt hinter sich: geografisch und sozial. Die Entfremdung manifestiert sich in einer unüberbrückbaren Sprachlosigkeit. Das Desinteresse der Eltern, die sich weder etwas unter ihrem Beruf noch unter einem Leben in London vorstellen können, empfindet Kathleen als feindselig, sie ist verletzt und zunehmend verbittert. Was sie stolz macht, ist in Kosakenberg nichts wert. Sie wiederum schämt sich für das Dorf, die Eltern, die Wegbegleiterinnen und –begleiter ihrer Kindheit und Jugend und blickt mit nicht verborgen bleibender Arroganz auf die Gebliebenen herab:

… ich ging, sie blieben, meine Welt wurde größer, ihre blieb klein und eng. (S. 17)

Zugleich leidet sie unter der Verachtung, mit der man sie im Dorf straft, und die ihr ein Gefühl des Verrats vermittelt:

Gehen, ein Vergehen. (S. 113)

© B. Busch, Buchcover: © Aufbau

Zehn Heimfahrten
Zehn Besuche in der Heimat innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre geben dem Roman seine Struktur. Jedes Mal leidet Kathleen unter der Ambivalenz ihrer Gefühlen: Sie reist mit „Widerwillen und Neugier, Ablehnung und Sehnsucht“ (S. 107) an und verspürt Erleichterung beim Gehen. In London bleibt sie trotz beruflicher Erfolge und einer Einladung zur königlichen Gartenparty, mit der man „es geschafft hat“, fremd, auch wenn sie es kaum eingesteht. Der Verkauf ihres Elternhauses nach dem Tod der Großmutter, ausgerechnet an ihre Jugendfreundin Nadine, bringt sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Nadine, eine der wenigen Gebliebenen, steht Kathleens Mutter näher als sie selbst. Hatte Kathleen vorher in der Gewissheit der jederzeit möglichen Rückkehr gelebt, ist dieser Weg nun versperrt. Hätte sie das Haus, eine winzige Backsteinkate mit Plumpsklo, Kohleofen und grauem DDR-Verputz, übernehmen sollen? Aber wäre die Rückkehr nicht das Eingeständnis einer Niederlage? Wie kann sie stattdessen in London eine echte Heimat finden?

Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
Kosakenberg ist ausdrücklich kein autobiografischer Roman, obwohl die 1974 geborene, in Eisenhüttenstatt aufgewachsene Journalistin und Autorin Sabine Rennefanz spürbar viele Erfahrungen mit ihrer Protagonistin teilt. Ob auch sie nach ihrem Weggang mit Eiern aus der Heimat versorgt wurde, diesem gleichermaßen als Zahlungsmittel wie als Liebesbeweis dienenden Nahrungsmittel, das man auf dem hervorragend zum Roman passenden Cover sieht? Mir hat diese fast komplett aus der subjektiven Perspektive einer nicht immer sympathischen Protagonistin erzählte Geschichte über Wurzeln und Neubeginn ausnehmend gut gefallen, nicht nur als Beitrag zur andauernden Ost-West-Problematik, sondern auch zur Landflucht überall. Sabine Rennefanz ist eine ausgezeichnete Erzählerin, die den melancholischen Grundton ihres Romans mit feiner Ironie durchbricht, minimalistisch, elegant, sensibel und punktgenau formuliert, passende Sprachbilder findet, weder beschönigt noch übertreibt und deren exzellent gezeichnete Figuren sich glaubhaft entwickeln. Unbedingt lesen!

Sabine Rennefanz: Kosakenberg. Aufbau 2024
www.aufbau-verlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Sabine Rennefanz auf diesem Blog:

Scott Alexander Howard: Das andere Tal

  Zeit und Schicksal

Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als isoliert, umgeben von Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und patrouillierenden Gendarmen. Niemand darf das Tal ohne Zustimmung des Conseils verlassen, um in die identische Stadt im Osten zu gelangen, die 20 Jahre in der Zeitlinie voraus ist, oder im Westen, wo es 20 Jahre früher ist. In 20-Jahres-Schritten wiederholen sich die Täler in unendlicher Abfolge. Flüchtlinge werden gnadenlos gejagt. Wer auf eine Eingabe hin eine der seltenen Besuchsbewilligungen in die Zukunft oder Vergangenheit erhält, meist im Zusammenhang mit einem Trauerfall, darf die Zeitlinie bei Androhung drakonischer Strafen weder stören noch gar verändern:

Verlass nie dein Tal, misch dich nirgendwo ein. (S. 100)

Ein ungeplanter Zwischenfall
Die zunächst jugendliche Erzählerin Odile Ozanne steht als 16-Jährige zu Beginn des Romans kurz vor dem Schulabschluss und soll sich auf Wunsch ihrer Mutter für das Auswahlverfahren zum Conseil bewerben, wo ihr dauerhaft Macht, Ansehen und finanzielle Sicherheit winkt. Odile ist eine schüchterne, unsichere Außenseiterin, die gerade erst eine Gruppe von Freunden gefunden hat. Während sie am strengen Ausscheidungswettbewerb teilnimmt, wird sie zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, der Zukunft. Odile erkennt in den trauernden Besuchern ausgerechnet die Eltern ihres Freundes Edme, ihrer ersten Liebe, und erfährt auf diese Weise, dass er bald sterben wird. Der ungeplante Zwischenfall, der dem Conseil nicht verborgen bleibt, stürzt Odile in einen Loyalitätskonflikt: Soll sie dem Conseil gehorchen, der jede Einflussnahme streng verbietet, oder ihren Freund warnen?

Eine gebrochene Biografie
Im zweiten Teil des Romans, der sich nun nicht mehr wie ein Jugendroman liest, ist Odile 20 Jahre älter. Ihre gebrochene Biografie hat sie als einzige Frau in die Grenzgendarmerie geführt, wo sie Flüchtlinge abfängt oder Besucherinnen und Besucher begleitet und in ihrer einsamen Freizeit Holzschnitte anfertigt. Noch einmal erhascht sie einen verbotenen Blick, dieses Mal in die eigene Zukunft. Wieder steht sie vor einer Entscheidung, doch ist sie nun nicht mehr die unerfahrene Jugendlich, sondern eine desillusionierte erwachsene Frau.

© B. Busch, Buchcover: © Diogenes

Ein spannendes Gedankenexperiment
Obwohl ich nie Science-Fiction lese, hat mich das dem Buch zugrundeliegende Gedankenexperiment mit den zeitverschobenen Orten sofort gereizt. Was, wenn man die Vergangenheit oder die Zukunft ändern könnte, wenn Schicksale auf ungeahnte Weise veränderbar wären? Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard hat wohlüberlegt und sorgfältig konstruiert ein Universum erschaffen, in das ich gerne eingetaucht bin. Die bedrückende Atmosphäre der streng abgeriegelten, diktatorisch regierten Stadt, die genauen Ortsbeschreibungen, spannende Nebenschicksale, die gut begründete Entwicklung der Protagonistin und das rasante Ende haben mir gefallen. Sprachlich ist der Roman unspektakulär und eher einfach, gedanklich verlangt er jedoch bisweilen größte Konzentration, wenn es um die Konsequenzen der Zeitverschiebung geht.

Das andere Tal ist ein sehr besonderer Roman über Zeit und Schicksal, Fremdbestimmung und freien Willen. Weniger als die Geschichte von Odile wird mir die ungewöhnliche Prämisse im Gedächtnis bleiben, über die sich immer wieder neu nachdenken lässt.

Scott Alexander Howard: Das andere Tal. Aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

  Provinztristesse

Und als sie lebten, war es, als lebten sie nicht noch ihre Kinder nach ihnen. (Sirach 44,9, Lutherbibel 2017)

Als der Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu 2018 in Frankreich erschien und im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt die höchste literarische Auszeichnung des Landes erhielt, wurde er vom Feuilleton stürmisch gefeiert. Wenig später demonstrierte erstmals die sogenannte Gelbwestenbewegung in Frankreich und seitdem gilt das Buch als vorweggenommene Erklärung zu ihrem Entstehen.

Arbeits- und Perspektivlosigkeit
In den vier heißen Sommern 1992, 1994, 1996 und 1998 erzählt der Roman vom Aufwachsen in der fiktiven lothringischen Provinzstadt Heillange an der luxemburgischen Grenze nach dem Vorbild des 16.000 Einwohner zählenden Hayange. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war die Gegend von der Eisen- und Stahlindustrie geprägt, die vielen Einheimischen und Gastarbeitern Arbeit gab. Die Stilllegung der letzten Hochöfen zu Beginn der 2000er-Jahre bedeutete für sie Arbeits- und Perspektivlosigkeit und wird als ursächlich für das enorme Erstarken des Front national gesehen. Nicolas Mathieus Roman beschäftigt sich mit den Folgen dieser Entwicklung auf die nachwachsende Generation.

Anthony, Hacine, Steph
Im Mittelpunkt steht mit Anthony einer ihrer Vertreter, Sohn eines ehemalig stolzen Arbeiters, der sich inzwischen notdürftig mit Gartenarbeiten durchschlägt, seine Frau verprügelt und mit den Nachbarn grillt und trinkt. Anthony ist zu Beginn 14, angeödet und frustriert vom Kleinstadtleben, einzig am Kiffen, Saufen und Sex interessiert, fühlt sich seiner Familie überlegen und träumt vom großen Ausbruch. Auf keinen Fall will er werden wie die Erwachsenen. Als er sich heimlich das Motorrad seines Vaters ausleiht und der 17-jährige Hacine aus der Plattenbausiedlung, Franzose, Sohn marokkanischer Eltern und ebenso perspektivloser Kleinkrimineller, es zunächst klaut, dann abfackelt, setzt das eine unaufhaltsame Kettenreaktion für beide Familien in Gang. Die dritte im Bunde ist Steph, Tochter aus reichem Haus, in die Anthony sich mit 14 hoffnungslos verliebt, der er aber immer nur dann näher kommt, wenn Alkohol und Drogen im Spiel sind. Auch Steph will unbedingt fort, hat aber im Gegensatz zu Anthony und Hacine Wissen und Geld.

Wie später ihre Kinder wirft ein Bild auf Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Langeweile, Frustration, Ängste und Sehnsüchte der Menschen in der Provinz und die Unmöglichkeit für das Prekariat, dem zu entkommen. Durch die ehemals vereinte, stolze Arbeiterschaft geht ein Riss, Rassismus ist salonfähig geworden und der Kontakt zwischen den Generationen abgebrochen.

Gemischtes Fazit
Es lag nicht am Sprecher Barnaby Metschurat, dass die ungekürzte Lesung auf zwei mp3-CDs in 13 Stunden 30 Minuten mehr Anstrengung als Genuss für mich war. Besser wurde es, als ich die Anordnung in Episoden im Zweijahresrhythmus durchschaut hatte, die sich in der gedruckten Ausgabe schneller erschließt. Über weite Strecken waren mir die Romanfiguren zu klischeehaft geschildert und zu unsympathisch. Die Hoffnungslosigkeit ist  niederdrückend, und doch ist gerade Nicolas Mathieu selbst ein Beispiel dafür, dass man der Provinztristesse aus eigener Kraft entkommen kann. Gestört hat mich außerdem der extrem detailreich und drastisch beschriebene Sex aus sehr männlicher Sicht ohne Gewinn für das Textverständnis. Die Alltagssprache der Jugendlichen passt zwar ausgezeichnet, ist aber über eine so lange Hör-Zeit anstrengend.

Trotzdem bin ich, durchgehalten zu haben. Was bleibt, ist ein soziologisch durchaus interessanter, sehr atmosphärischer Blick auf die Gruppe der sonst eher unsichtbaren „Abgehängten“ in der französischen Provinz.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Lesung mit Barnaby Metschurat. SR2 Kulturradio. DAV 2019
www.der-audio-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:

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