Agota Kristof: Das große Heft

  Kindheit im Krieg

Wir sitzen am Küchentisch mit unsern karierten Blättern, unsern Bleistiften und dem Großen Heft. […] Wenn es «Gut» ist, können wir den Aufsatz in das Große Heft abschreiben. Um zu entscheiden, ob es «Gut» oder «Nicht gut» ist, haben wir eine sehr einfache Regel: Der Aufsatz muß wahr sein.“ (S. 28/29)

Es herrscht Krieg. Aus dem Bombenhagel in der „Großen Stadt“ bringt eine Mutter ihre etwa neunjährigen Zwillinge, namenlose, außergewöhnlich intelligente Jungen, zur Großmutter in die „Kleine Stadt“ an der Grenze. „Hexe“ wird die Großmutter genannt und allgemein des Giftmords an ihrem Mann verdächtigt. Fortan sind die Buben auf sich alleine gestellt, ohne Vorbilder, von der Großmutter übel beschimpft und Außenseiter wie sie. Um in einer Welt voller Armut, Verrohung, Gewalt, Demütigung und Verlassenheit zu bestehen, verordnen sie sich ein konsequentes Trainingsprogramm: Abhärtung gegen körperlichen Schmerz durch Zufügen desselben, Abhärtung gegen Schimpfwörter durch gegenseitige Beleidigungen, Fasten- und Schweigeübungen, planmäßiges Erlernen von Grausamkeiten, Übungen zum Töten, Diebstähle und Erpressungen. Die Fähigkeit, sich zu wehren, wird zur Überlebensfrage:

Die Kleinen von hier werden von ihren Müttern beschützt und gehen nie allein aus dem Haus. Wir werden von niemand beschützt. Daher lernen wir, uns gegen die Großen zu wehren. […] Wir brauchen nur unser Rasiermesser herauszuziehen, damit die Großen weglaufen. (S. 49)

Ein Roman, bestehend aus Aufsätzen
Was sie erleben, schreiben die Zwillinge in Form von zwei- bis dreiseitigen Aufsätzen in das „Große Heft“. Alle Kapitel berichten lakonisch und vollkommen frei von Gefühlen über ihren Alltag und ihren Überlebenskampf in einer Welt, von der sie nichts erwarten.

Die bis auf ein Minimum reduzierte Erzählweise in der Wir-Form nennt weder Namen noch Zeit oder Orte. Trotzdem lässt sich unschwer ein zunächst von der Wehrmacht, dann von der Sowjetunion besetztes Land ausmachen.

Fast unerträglich grausam
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so durch und durch düsteren Roman gelesen zu haben. Nur äußerst selten lassen die Zwillinge erkennen, dass sie in gewissen Situationen durchaus zu Mitgefühl fähig sind, und sogar im Verhältnis zur Großmutter stellt sich allmählich ein Hauch von gegenseitiger Wertschätzung ein. Umso erstaunlicher ist die Sympathie für die Kinder, die die Autorin Agota Kristof erzeugt. Mit jedem Kapitel beziehungsweise Aufsatz wird das Geschehen noch brutaler, scheint ihr Schicksal noch hoffnungsloser und stockte mir beim Lesen mehr der Atem. Was es dabei allerdings nicht gebraucht hätte, ist die Ausschmückung sexueller Abartigkeiten und Grausamkeiten, die nicht nur die Zwillinge erfahren.

Dass – und wie – sich zuletzt sogar der einzige Halt, das scheinbar untrennbar verbundene „Wir“, auflöst, ist kaum zu ertragen. Glücklicherweise werde ich aber demnächst in den Folgebänden Der Beweis und Die dritte Lüge erfahren, wie es mit den Zwillingen weitergeht.

Die gebürtige Ungarin Agota Kristof (1935 – 2011) emigrierte während der Ungarnaufstände 1956 in die Schweiz und verfasste ihre Romane, darunter 1986 Das große Heft, auf Französisch. Leider bin ich erst jetzt auf diese Antikriegs-Parabel aufmerksam geworden, obwohl das Buch seit 1987 auf Deutsch vorliegt, für das Theater und die Oper adaptiert und 2013 vom ungarischen Regisseur János Szász verfilmt wurde.

Agota Kristof: Das große Heft. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Piper 2018
www.piper.de

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