Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

„Es war damals nicht sehr leicht, ein guter Mensch zu sein“

Schon lange, vielleicht seit Jean-Michel Guenassias Roman Der Club der unverbesserlichen Opitimisten, habe ich kein Buch mehr gelesen, das eine solche Sogwirkung auf mich ausgeübt und mir so viel gegeben hat.

Die über 500 Seiten lange Geschichte ist mosaikartig aufgebaut, die Kapitel umfassen selten mehr als drei Seiten, und obwohl keinerlei Chronologie eingehalten wird, kann man als etwas geübter Leser jederzeit leicht den Überblick behalten. Erzählt werden drei Geschichten aus den Jahren 1934 bis 1945 und im Nachklapp erfährt man kurz, wie es 1974 und 2014 weiterging.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen das blinde französische Mädchen Marie-Laure aus Paris und der deutsche Waisenjunge Werner aus der Zeche Zollverein. Beide führt das Schicksal im Jahr 1944 für kurze Zeit im stark umkämpften St. Malo zusammen: Marie-Laure ist mit ihrem Vater wegen des Krieges aus Paris dorthin zu ihrem Großonkel und dessen Hausangestellter geflohen, im Gepäck versteckt einen ungeheuer wertvollen Diamanten, das „Meer der Flammen“, aus dem Pariser Musée National d’Histoire Naturelle und Werner, der Junge, dem ein Schicksal in den Kohleminen vorbestimmt schien, der aber dank seiner überragenden Begabung für Sendetechnik einen Platz an einer Eliteschule der Nazis erhalten hat und mit 16 Jahren an die Front geschickt wurde, um versteckte Partisanensender aufzuspüren. Für beide gilt, was Werners Schwester 1974 sagen wird: „Wir wurden alle vor der Zeit erwachsen.“

Der dritte Handlungsstrang erzählt die Geschichte des deutschen Stabsfeldwebels und Diamantenexperten von Rumpel, der für den Führer Kunstschätze requirieren soll und den Diamanten nicht zuletzt deshalb jagt, weil er, der unheilbar Erkrankte, sich von dem sagenumwobenen Stein Heilung erhofft.

Anthony Doerr hat diesen Roman kunstvoll komponiert und erzählt in sehr bildhafter, poetischer Sprache, wobei die Leitmotive „Schlüssel“, „Schnecke“ und vor allem „Licht“ von großer Bedeutung sind. Er geleitet den Leser mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und großem Einfühlungsvermögen für seine Protagonisten durch 500 Seiten, legt unzählige Fäden aus und vergißt keinen wieder aufzunehmen, wofür er zu Recht den Pulitzer-Preis erhalten hat.

Am Ende sind alle losen Enden verknüpft und wir können Juttas Aussage „Es war damals nicht leicht, ein guter Mensch zu sein“ dahingehend ergänzen, dass einige es trotzdem versucht haben.

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen. C.H. Beck 2015
www.chbeck.de

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert