Das Allgemeinste persönlich darstellen
„Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen“, ein Zitat des japanischen Malers Katsushika Hokusai (1760 – 1849), stellt Arno Geiger dem Buch über das Leben und die Demenzerkrankung seines Vaters voran. Die Umsetzung dieses Mottos ist dem österreichischen Autor gelungen, die Krankheit erhält durch das Schicksal des Vaters August Geiger ein Gesicht. Aber nicht nur das: Arno Geiger dokumentiert ein über 80 Jahre währendes Leben, würdigt, was er seit der Entfremdung vom Vater während der Pubertät nicht mehr wertschätzte, und beschreibt den Strukturwandel in der Vorarlberger Heimat von der bäuerlichen Dorfwelt zur Wohn- und Industriegemeinde.
August Geiger, geboren 1926, war ein Kleinbauernsohn aus Wolfurt bei Bregenz. Nach der Kriegsmatura im Februar 1944 wurde er eingezogen und im Februar 1945 an die Ostfront versetzt. Seiner Weigerung nach dem Krieg, die Heimat noch einmal zu verlassen, noch nicht einmal für Urlaubsreisen, war auf das Trauma von Krieg, Gefangenschaft und Lazarett zurückzuführen. Eine glückliche Ehe mit seiner so ganz anderen Frau war nicht möglich, sie verließ ihn nach 30 Ehejahren.
Anlass für das Schreiben des Buches war für seinen Sohn Arno die Demenzerkrankung des Vaters, die sehr schleichend begann und deren erste Anfänge wohl bereits spätestens in der Mitte der 1990er-Jahren liegen. Hier spricht der Sohn von einem gemeinschaftlichen Versagen, denn viel zu viel Zeit und Kraft wurde vergeudet: „Wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit“. Vergesslichkeit, Motivationsprobleme, ein Verlust von alltagspraktischen Fähigkeiten und vor allem der quälende Eindruck des Vaters, nicht zu Hause zu sein, wurden von der Familie zunächst fehlinterpretiert, was bei Arno Geiger rückblickend Zorn hervorruft.
Erst mit der Diagnosestellung trat eine gewisse Erleichterung ein, wie übrigens der ganze Krankheitsverlauf immer wieder durch Phasen des Durchatmens und Tiefs geprägt war. Die sich bei der Pflege abwechselnden Kinder, Geschwister, die getrenntlebende Ehefrau und später slowakische Pflegerinnen sahen sich ständig neuen Überraschungen und Herausforderungen gegenüber, bis im März 2009 als letzte Möglichkeit nur noch das Heim blieb, wieder ein Eingeständnis einer Niederlage und doch eine überraschend positive Wende für alle Beteiligten.
Der alte König in seinem Exil könnte wegen der dargestellten Problematik ein sehr dunkles Buch sein, ist es aber nicht, weil Arno Geiger der Krankheit bei aller Verzweiflung und Ausweglosigkeit auch helle Seiten abgewinnen kann. Die Annäherung an den Vater, der nach der Diagnosestellung wieder engere Zusammenhalt der Familie, die lichten Momente und vor allem das neue, überraschend kreative Sprachvermögen des Vaters, das Arno Geiger in Dialogen festgehalten hat, sind solche positiven Aspekte.
Kritiker haben Arno Geiger vorgeworfen, die Krankheit und Defizite des Vaters für seine Zwecke auszuschlachten. Ich kann dem nicht zustimmen, weil der Autor das Thema mit größter Demut, liebevoller Dankbarkeit und höchster Achtung vor dem Vater angeht. Außerdem hat es mir sehr gut gefallen, wie bescheiden Arno Geiger, dessen Durchbruch als Schriftsteller in die beschriebene Zeit fiel, im Hintergrund bleibt. Lediglich bei der Interpretation der Krankheit als Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft konnte ich ihm nicht ganz folgen.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. dtv 2012
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