„Das gute Ansehen des Krieges beruht auf einem Irrtum“
Bei Erscheinen 2018 habe ich Arno Geigers Roman Unter der Drachenwand zu meinem Bedauern verpasst. Nun ist das Buch Gegenstand von „Stuttgart liest ein Buch“ im September 2019 mit Begleitprogramm, eine gute Gelegenheit also, die Lektüre nachzuholen. Vielleicht waren aber meine Erwartungen nach diesem langen Vorlauf doch zu hoch, denn zumindest auf den ersten 100 bis 150 Seiten habe ich nicht leicht in das Buch hineingefunden. Mit dazu beigetragen haben die Schrägstriche, die Arno Geiger durchgehend in den Text einbaut, und deren Sinn sich mir nicht erschlossen hat. Sie wirkten bis zum Ende wie Stopper auf mich und unterbrachen meinen Lesefluss. Ab dem zweiten Drittel der knapp 500 Seiten habe ich dann aber doch mit immer größerer Anteilnahme und mit Vergnügen gelesen und freue mich nun auf die geplanten Veranstaltungen rund um das Buch.
Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Wehrmachtssoldat Veit Kolbe, der im Herbst 1943 am Dnjepr verletzt und deshalb zur Genesung zurück in seine Heimatstadt Wien geschickt wird. Bei den Eltern hält er es nicht aus, die Durchhalteparolen des Vaters klingen falsch und Veit weiß längst, dass der Krieg verloren ist: „Ich hatte den Irrsinn der Front mit dem Irrsinn der Familie vertauscht.“ Dank eines Onkels, der in Mondsee bei Salzburg Gendarm ist, kommt er dort unter, in einem Dorf, in dem 1944 noch keine Bomben fallen, in dem es mit dem Kinderlager Schwarzindien ein Heim für verschickte Mädchen samt ihrer Lehrerin gibt, und in dem eine junge Darmstädterin namens Margot mit ihrer neugeborenen Tochter Wand an Wand mit ihm wohnt. Eine schroffe, nazitreue Quartiersfrau macht ihren Mietern das Leben schwer, ihr Bruder, ein aus Brasilien zurückgekehrten Gärtner, hält sich dagegen nicht mit lautstarker Kritik an den Machthabern zurück. Und über allem steht die Drachenwand: einerseits bedrohlich und im Verlauf der Handlung totbringend, andererseits abschottend gegen den tobenden Krieg, der fast ausschließlich in Form von Briefen unterschiedlichster Absender nach Mondsee gelangt.
Die herausragende Leistung Arno Geigers ist für mich die Figur des kriegstraumatisierten Antihelden Veit, dessen Tagebuch den Hauptteil des Romans ausmacht. Sein Kampf gegen die Dämonen und Erinnerungen, seine Nervenanfälle mit Schweißausbrüchen und Zittern, seine zunehmende Pervitinabhängigkeit und seine Angst vor einer Rückkehr an die Front sind großartig erzählt. Er hadert mit den verlorenen Jahren seit dem Abitur, trauert dem verpassten Studium nach, leidet unter seinen Kriegserlebnissen und Schuldgefühlen, denn: „Es war auch mein Krieg.“. Der Schwebezustand zwischen der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende und der Angst vor dem „langen Arm“ seines „Dienstgebers“ machen für mich die große Stärke des Romans aus. Die Verbindung zu Margot, „seit Jahren der erste erfolgreiche Versuch, mein Glück zu korrigieren“, wird zum Rettungsanker.
„Der Roman ist ein erfundenes Haus mit echten Türen und Fenstern“ hat Arno Geiger auf die Frage nach der Authentizität seiner Romanfiguren geantwortet, auf die die „Nachbemerkungen“ hinzuweisen scheinen. Die langjährigen Recherchen merkt man dem Buch in jedem Fall deutlich an.
Arno Geiger: Unter der Drachenwand. dtv 2019
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