Bernhard Schlink: Das späte Leben

  Gezählte Tage

Eilte es jetzt, oder kam es jetzt nicht mehr darauf an? (S. 9)

Was, wenn der Gedanke an den eigenen Tod plötzlich konkret wird und die Tage gezählt sind? Maximal sechs Monate gibt der Hausarzt dem 76-jährigen Martin Brehm mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Was tun mit den verbleibenden „guten“ Wochen, die der emeritierte Juraprofessor nüchtern auf zwölf schätzt?

Seine über 30 Jahre jüngere Frau Ulla, eine bildende Künstlerin, nimmt die Nachricht erstaunlich nüchtern auf, für die Arztbesuche ihres Mannes scheint sie sich nie interessiert zu haben. Nach einem Augenblick der Empathie kehrt sie zu praktischen Überlegungen zurück:

Wenn du willst, gehe ich in den nächsten Wochen nicht mehr ins Atelier und in die Galerie. Ich kann mich auch um den Kindergarten kümmern, David hinbringen und abholen, und um alles andere. (S. 26)

Keine Krankengeschichte
Die Einschulung des sechsjährigen Sohns David wird Martin höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Eine Chemo- oder gar experimentelle Therapie lehnt er ab, beschränkt sich auf Hausarztbesuche. Überhaupt wird der Krankheitsverlauf nahezu komplett ausgeblendet, was einerseits erfreulich, andererseits unrealistisch und bei der Tumorschmerztherapie mit Ibuprofen geradezu abenteuerlich ist.

Ein Brief als Vermächtnis
Auf Ullas Vorschlag beginnt Martin einen Brief als Vermächtnis an den Sohn, ähnlich wie in Das Orangenmädchen von Jostein Gaarder, einem meiner Lieblingsromane. Aber welch ein Unterschied! Während der leukämiekranke junge Vater dort seinem Sohn eine äußerst berührende Liebesgeschichte und einen bunten Strauß philosophischer Anregungen hinterlässt, die elf Jahre später den dann 15-Jährigen ins Herz treffen, schreibt Martin, wie er selbst erkennt, eher für sich. Seine Überlegungen zu Gerechtigkeit, Liebe, Religion, Arbeit und Tod sind oft Binsenweisheiten und sollen David auf die Linie des Vaters einschwören, anstatt ihn zu einem selbstständig denkenden Menschen zu machen. Gemeinsame Unternehmungen, als Erinnerungen für David gedacht, muten mit einer stundenlangen Wanderung des Todkranken, während der „Das Wandern ist des Müllers Lust“ gesungen wird, und dem Anlegen eines Komposthaufens seltsam altbacken und unrealistisch an. Ulla, die schwächste, für mich am wenigsten glaubhafte Figur, kritisiert denn auch Martins Einflussnahme auf die Zukunft des Sohnes, vergnügt sich jedoch mit ihrem Liebhaber, anstatt sich um ihre Familie zu kümmern. David ist deshalb für mich die wirklich tragische Figur: aufwachsend in einem Haushalt, in dem es nicht einmal einen Zeichenblock und Stifte gibt, alleingelassen mit Andeutungen von einem überforderten, viel zu alten und verkopften Vater und einer desinteressierten Mutter. Überhaupt ist in dieser Familie Kommunikation ein Fremdwort, nur der Sex klappt noch zu einer Zeit, als Martin längst starke Schmerzen hat.

Das Beste kommt zum Schluss
Teilweise versöhnt hat mich der berührendere dritte und letzte Teil dieses Romans über die letzten neun „guten“ Wochen, in dem die durchgängig kurzen Kapitel als Zeitraffer fungieren. Als Martin die Verantwortung für Ullas und Davids Zukunftsgestaltung loslassen kann, verbringt die Familie entspannte, fast glückliche Tage am Meer:

Nur die Welt kam ihm abhanden. […] Aber vielleicht kommt nicht die Welt mir abhanden, dachte er, sondern ich bin es, der sich von der Welt verabschiedet. (S. 198/199)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Diogenes

Insgesamt hat mich Das späte Leben, der elfte Roman des 1944 geborenen Bernhard Schlink, mit seiner einfachen Sprache, unzeitgemäßer Wortwahl – wie „Kindergärtnerin“ anstatt „Erzieherin“ –, sachlichen Ungereimtheiten, einer aufdringlichen Konstruktion und schematischer Figurenzeichnung leider nicht dem fesselnden Thema angemessen erreicht. Dabei ist die Problematik abwesender Väter in unterschiedlicher Spielart gut eingeflochten. Ins Grübeln über eigenes Verhalten im Falle einer todbringenden Diagnose hat er mich trotzdem gebracht.

Bernhard Schlink: Das späte Leben. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

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