Der Tintenfisch im Kopf
Die Kanadierin Bobbi French, geboren und aufgewachsen in Neufundland und Labrador, war als Psychiaterin tätig, bevor sie für die Schriftstellerei ihren Beruf aufgab. Damit sind ihr Patientinnen wie die Protagonistin und Ich-Erzählerin in ihrem Romandebüt Die guten Frauen von Safe Harbour vermutlich vertraut, die sich für einen in Kanada legalen ärztlich assistierten Suizid entscheiden und dafür ein psychiatrisches Gutachten benötigen.
Tödliche Diagnose
Frances Delaney ist 58 Jahre alt, als ein bösartiger Hirntumor bei entdeckt wird. Sie hat Neufundland nie verlassen, wohl aber den fiktiven kleinen Fischerort an der Südküste namens Safe Harbour, in dem sie bis zum Alter von elf Jahren eine glückliche Kindheit verbrachte. Nach dem tief betrauerten Tod des Vaters auf See versank die Mutter in eine Depression und schließlich griffen die unmenschlichen Regeln der katholischen Kirche erbarmungslos in das Leben des Teenagers ein. Frances‘ Leben geriet aus der Spur, der Ozean wurde ihr zum Sinnbild des Schreckens, jegliches Selbstbewusstsein war verloren, Schuldgefühle quälten sie und zuletzt zerbrach sogar ihr letzter Rettungsanker, die Freundschaft zur quirligen, fürsorglichen Annie Malone:
Auf dieser Welt waren zwei Menschen, die behaupteten einander zu lieben, nur ein einziges schreckliches Gespräch davon entfernt, nie wieder miteinander zu sprechen. (S. 150/151)
Hals über Kopf verließ Frances damals nach dem Schulabschluss Safe Harbour. Doch anstatt wie geplant in St. John’s zu studieren, putzte sie in Hotels, arbeitete später als Haushaltshilfe bei begüterten Familien und ihre Menschenscheu und Schüchternheit bescherten ihr ein Dasein in völliger Einsamkeit:
Ich habe nicht das Leben gelebt, das ich wollte – ich habe das Leben gelebt, das passiert ist. (S. 213)
Rückkehr nach Safe Harbour
Nach der Diagnosestellung 2019 entscheidet sich Frances wohlüberlegt gegen eine möglicherweise lebensverlängernde Therapie und für das selbstbestimmte Sterben. Bis dahin allerdings will sie endlich nach ihren Regeln leben und die 16-jährige Edie, Tochter ihrer letzten Arbeitgeberin und ihr lieb wie ein eigenes Kind, unterstützt sie nach Kräften. Erst allmählich kristallisiert sich der wichtigste Punkt auf ihrer Wunschliste heraus: Rückkehr nach Safe Harbour.
Und so werden die Monate, in denen der „Tintenfisch im Kopf“ immer mehr Raum fordert und die Kopfschmerzen und Anfälle stetig zunehmen, zu Frances‘ wohl aufregendsten und glücklichsten – bis das Ende sich nicht weiter hinausschieben lässt.
Überraschend humorvoll und optimistisch
Zwar habe ich die im Klappentext angekündigte Packung Taschentücher nicht gebraucht, trotzdem hat mich Die guten Frauen von Safe Harbour berührt und gut unterhalten. Allerdings hätte mir das Buch noch besser gefallen, wären die Abschnitte in der Gegenwart weniger dialoglastig und dafür stilistisch anspruchsvoller gewesen. Eindeutig besser geschrieben sind die spannenden Rückblenden in Frances‘ Vergangenheit und die Schilderungen der rauen Landschaft Neufundlands sowie der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen an der Küste, die gerne auch ausführlicher hätten sein dürfen. Dem Blick der Psychiaterin sind die genauen Charakterzeichnungen und die eingestreuten Informationen zum Procedere der Sterbehilfe in Kanada zu verdanken.
Die guten Frauen von Safe Harbour ist ein Plädoyer für das Leben, Versöhnung und das Recht auf Selbstbestimmung, eine Ode an die Freundschaft und ein überraschend humorvoller, optimistischer, selten kitschiger Unterhaltungsroman darüber, was im Angesicht des Todes noch möglich ist.
Bobbi French: Die guten Frauen von Safe Harbour. Aus dem Englischen von Carina Tessari. Diederichs 2022
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