Charles Lewinsky: Melnitz

  Mischpoche und Risches

 

Seit 2019 verlegt der Verlag Diogenes die Romane des 1946 geborenen Schweizers Charles Lewinsky. Nun ist dort auch sein ursprünglich 2006 bei Nagel & Kimche erschienenes, mehrfach preisgekröntes Hauptwerk Melnitz erschienen, in einer hochwertigen, trotz der über 900 Seiten gut in der Hand liegenden Ausgabe im typischen Diogenes-Format und auf nicht durchscheinendem, stabilem Dünndruckpapier.

© B. Busch

 

Ein Mehrgenerationenroman
In fünf Teilen, überschrieben mit 1871, 1893, 1913, 1937 und 1945, erzählt Charles Lewinsky vom Leben der schweizerisch-jüdischen Familie Meijer. Der Roman setzt 1871 ein, fünf Jahre nach der Gleichberechtigung jüdischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die fortan nicht mehr an die aargauischen Gemeinden Endingen und Lengnau gebunden waren. Trotzdem leben der solide, ehrliche Viehhändler Salomon Meijer, seine Frau Golde, die kapriziöse Tochter Mimi und die zupackende Pflegetochter Chanele weiter in Endingen. Überraschend kommt der ehemalige Soldat Janki Meijer zu ihnen, entfernte elsässische Mischpoche, der die Schlacht von Sedan zwar nicht miterlebte, aber sein Leben lang darüber fantasieren und eine „Kriegsverletzung“ pflegen wird, die ihm einen Gehstock aufzwingt. Janki wird Tuchhändler im nahen Baden, sein ältester Sohn François eröffnet das erste Warenhaus in Zürich. Er und sein Bruder Arthur, ein Arzt und Wohltäter, sind die letzten „echten“ Meijers.

Ein Wiedergänger
Wie ein roter Faden und als I-Tüpfelchen auf die sonst traditionell erzählte Familiensaga bewegt sich der titelgebende Onkel Melnitz durch den Roman:

Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück. (S. 11 u.a.)

Er ist der Geist und ewige Mahner, der in den Köpfen seiner Mischpoche weiterspukt. Im Nachwort sagt Charles Lewinsky über Melnitz:

Erst nach einiger Zeit habe ich verstanden, welche zentrale Funktion er in dieser Familiensaga erfüllt: Indem er alle Erinnerungen auf Progrome und Verfolgungen auf sich konzentriert, ermöglicht er es den anderen Figuren, ein gewöhnliches Leben zu führen. (S. 923)

Im letzten, sehr kurzen Teil, 1945, reißt Melnitz die Erzählerrolle ganz an sich. Sein Pessimismus hat sich bewahrheitet.

© B. Busch

Jüdischsein in der Schweiz
Da
ich in der Regel kürzere Romane bevorzuge, stand ich der Lektüre dieses opulenten Wälzers zunächst skeptisch gegenüber – völlig grundlos allerdings. Die Verbindung zwischen europäischer Geschichte und Alltagsleben einer jüdischen Familie in der Schweiz, ihren Traditionen, Gebräuchen, Festen, und dem stets lauernden „Risches“, dem Antisemitismus, ist genial gelungen. Viele Figuren wuchsen mir sehr ans Herz. Zwar nimmt der hintergründige Humor mit zunehmender Nähe zur Katastrophe des 20. Jahrhunderts spürbar ab, doch bleibt Charles Lewinskys Erzählton auch in düsteren Zeiten ohne Pathos und dadurch umso eindrücklicher – sei es beim Massaker an den Juden in Galizien, bei den Anfängen der zionistischen Bewegung, dem Erstarken der Fröntler oder gar beim Holocaust, der nicht direkt, sondern nur in seinen Auswirkungen auf die Familie thematisiert wird.

Obwohl Charles Lewinsky in einem Interview 2016 mit swissinfo.ch die Überzeugung vertrat, die Schweiz sei in Bezug auf Antisemitismus heute fast ein Paradies, war das nicht immer so: 1893 stimmte die Bevölkerung für ein Schächtverbot, was nicht nur die Familie Meijer als antijüdisches Statement verstand. Salomon und Janki kämpften ihr Leben lang um Teilhabe und gegen Ausgrenzung, François änderte vergeblich seinen Namen und ließ sich und seinen Sohn Alfred taufen:

„Aber wissen Sie, lieber Herr Meijer: Auch ein getaufter Jude ist immer noch ein Jude.“ (S. 493)

Ein jüdisches Glossar und ein Stammbaum, den man sich zum Erhalt der Spannung nicht zu früh anschauen sollte, runden diesen großartigen Roman ab, der einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal bekommt.

Charles Lewinsky: Melnitz. Diogenes 2021
www.diogenes.ch

 

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