Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften

  Familiensaga aus dem Bayerischen Wald

Ein Verbrechen und eine Lüge stehen im Mittelpunkt von Christoph Nußbaumeders 670 Seiten umfassendem Debütroman Die Unverhofften, der auf seinem 2010 in Bochum uraufgeführten Drama Eisenstein basiert. 120 Jahre – von 1899 bis 2019 – folgt er dem Schicksal zweier Familien und zeichnet persönliche Schicksale vor dem Hintergrund großer politischer und wirtschaftlicher Umbrüche.

Geografisches Zentrum der Geschichte ist die real existierende niederbayerische Gemeinde Eisenstein am Großen Arber nahe der deutsch-tschechischen Grenze. Wer nicht sein Leben lang hier bleibt, kehrt doch meist spätestens zu seinem Begräbnis zurück.

Das Verbrechen…
1899 ereignet sich in Eisenstein ein Verbrechen, das vier Generationen der Familien Hufnagel und Schatzschneider prägen wird: der „Glasfürst“ Siegmund Hufnagel, Erbe der Glasherrendynastie, vergewaltigt das Stubenmädchen Maria kurz vor ihrer geplanten Auswanderung nach Amerika. Voller Rachgier und Hass auf den Fabrikanten und die verräterischen Dörfler legt die junge Frau am 26.08.1900 das Glasimperium in Schutt und Asche und flieht. Doch anstatt zum Untergang wird die Brandstiftung für die Hufnagels zum Grundstein noch viel größeren Reichtums, denn mit der Versicherungssumme wird die sterbende Glasfabrikation durch ein zukunftsträchtiges Sägewerk ersetzt. Die Glasdynastie wird zur Holzdynastie.

… und die Lüge
1945 kommt die junge Erna Schatzschneider, Tochter Marias und Kriegsflüchtling aus Böhmen, nach Eisenstein. Aus Not schiebt sie ihren im Februar 1946 geborenen Sohn Georg dem amtierenden Chef der Holzfabrik, Josef Hufnagel, unter, was für Georg und Josefs nur zehn Wochen später geborene eheliche Tochter Gerlinde zum lebenslangen Verhängnis wird. Ernas Schweigen und Josefs Unwissenheit stellen die Weichen nicht nur für Georgs und Gerlindes Leben, sie sind Katalysator für berufliche Karriere und märchenhaften Aufstieg ebenso wie für wirtschaftlichen Abstieg, scheiternde Partnerschaften, gestörte Eltern-Kind-Beziehungen und Vereinsamung.

So viele Themen
Christoph Nußbaumeder verfolgt akribisch die Lebenswege unzähliger Figuren und verknüpft sie so konsequent, dass am Ende kein Faden lose bleibt. Allerdings sind nicht wenige Wendungen vorhersehbar und die Dramatik wird unnötigerweise durch einsetzende Gewitter oder klingelnde Telefone gesteigert. Wegen des fast durchgängig chronologischen Aufbaus in sieben Büchern („1899 bis 1900“, „1945 bis 1949“, 1964 bis 1966“, 1973 bis 1975“, „1982 bis 1984“, 1990 bis 1994“ und „2009, 2019, 1900“) – lediglich die letzten Seiten blicken noch einmal zurück auf Marias Leben nach ihrer Flucht – folgt man der Handlung fast zu leicht. Geschickt sind die Schicksale in die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Meilensteine der deutschen Geschichte verwoben, seien es die Anfänge der Gewerkschaften, nationalsozialistische Verbrechen, Vertriebenentragödie, Aufarbeitung der Nazidiktatur, Wiederaufbau, Rassismus, Studentenbewegung oder Terrorismus bis zu den Veränderungen in der Wirtschaft hin vom persönlichen Unternehmertum zum gesichtslosen Investorentum, Globalisierung und Hartz IV.

Hören und sehen
Das leicht gekürzte Hörbuch mit angenehm kurzen Tracks und einer Laufzeit von 1239 Minuten, gelesen von einem souveränen Thomas Loibl und einer etwas zu pathetisch klingenden, in wütenden Szenen brilliernden Wiebke Puls, ist unterhaltsam und leicht zu erfassen. Zwischendurch habe ich mit der Vorhersehbarkeit, Zufällen und schwer nachvollziehbaren charakterlichen Kehrtwendungen gehadert, manchmal gar gefürchtet, dass der Schmöker zur Schmonzette wird, und hätte mir mehr bayerische Urigkeit gewünscht. Aber als die Geschichte am Ende zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrte, konnte ich darüber hinwegsehen, denn im älteren Teil bis in die 1960er-Jahre liegt für mich die Stärke des Romans.

Durch die beim Zuhören entstehenden Bilder erschien mir der Roman wie das Drehbuch zu einem Film. Ich wäre deshalb nicht erstaunt, wenn Die Unverhofften bald im Kino oder Fernsehen zu sehen wären.

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften. Gelesen von Thomas Loibl und Wiebke Puls. Der Hörverlag 2020
www.randomhouse.de

2 Kommentare

  1. Wunderbar, wie du das Buch wieder strukturiert und bewertet hast! Schließlich ist das beim bloßen Hören schwieriger als beim Lesen.
    Inhaltlich bin ich mit dir vollkommen einig. Manchmal klingelten die Schmonzetten-Glöckchen, kamen aber schnell zu Ruhe;)
    Und die Stärke liegt im ersten Teil – auch da sind wir uns einig.
    Schöner Schmöker, aber kein Highlight.

    Viele Grüße!

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