Claire Keegan: Das dritte Licht

  Was sein könnte

 

Nur knapp 100 großzügig bedruckte Seiten umfasst die Erzählung Das dritte Licht der 1968 geborenen Irin Claire Keegan. Die Geschichte erschien erstmals 2009 mit dem Originaltitel Foster (Pflege“) und 2013 im Steidl Verlag auf Deutsch. Das wunderschöne leinengebundene Hardcover der überarbeiteten Ausgabe von 2023 zeigt das Bild eines Mädchens, das exakt meiner Vorstellung von der etwa sieben- bis achtjährigen Protagonistin entspricht.

Zu viele hungrige Mäuler
Die namenlose Ich-Erzählerin wächst in einer armen, kinderreichen Familie im ländlichen Irland auf. Es sind die frühen 1980er-Jahre, in Nordirland sterben IRA-Häftlinge durch Hungerstreik. Der Vater spielt und trinkt, die Mutter ist erneut schwanger und man möchte sich über den Sommer eines Essers entledigen. Kurzerhand liefert der Vater die Tochter bei ihr unbekannten Verwandten an der Ostküste ab.

Ein Empfang mit offenen Armen
Die Trauerweiden vor dem Bauernhaus könnten ein schlechtes Omen sein, aber die hohen, glänzenden Fensterscheiben, die Wärme, Stille und Sauberkeit der Küche, der Blumenstrauß auf dem Tisch und der Kuchengeruch sprechen eine andere Sprache. Freudig wird sie von den Pflegeeltern begrüßt:

»Sie ist hier willkommen.« (S. 16) 

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Steidl

Zuneigung und Vertrauen
Einen Sommer darf die Ich-Erzählerin beim kinderlosen Ehepaar Kinsella verbringen, die ihr eine nie gekannte Zuneigung, Zärtlichkeit und Wertschätzung entgegenbringen. Zunächst wagt sie nicht, ihrem Glück zu vertrauen:

Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet: dass ich in einem nassen Bett aufwache, etwas falsch mache, mir einen richtig groben Schnitzer leiste, etwas zerbreche, aber jeder Tag ist fast so wie der vorhergehende. (S. 43)

Schmerzlich begreift sie durch die Liebe der Pflegeeltern, woran es in ihrem Zuhause fehlt, wie hier, als der Pflegevater ihre Hand ergreift:

Sobald er sie nimmt, merke ich, dass mein Vater kein einziges Mal meine Hand gehalten hat, und ein Teil von mir will, dass Kinsella mich loslässt, damit dieses Gefühl vergeht. (S. 67)

Hin- und hergerissen fühlt sie sich zwischen Loyalität zu ihrer Herkunftsfamilie und Sehnsucht danach, „dieser Ort ohne Scham und Geheimnisse könnte mein Zuhause sein“ (S. 31). Hier wird sie gebadet, umsorgt, neu eingekleidet, vervollkommnet ihr Lesen, findet neue Wörter und hilft der Pflegemutter im Haushalt. Durch den Dorftratsch erfährt sie vom Geheimnis der Kinsellas, das wie eine schattenhafte Trauer über dem Haus hängt. Einfühlsam erklärt ihr der Pflegevater, wann Schweigen besser als Reden ist.

Ein Schatz im Bücherschrank
Das dritte Licht
ist ein umwerfendes, behutsam erzähltes Buch voller vielsagender Auslassungen. Wenig erfahren wir von der Protagonistin über ihre Entbehrungen, vielmehr erahnen wir sie durch die Dinge, die der genauen Beobachterin bei den Kinsellas auffallen. Die einfache Sprache des Kindes mit den knappen Sätzen im Präsens ist völlig unsentimental, aber gerade deshalb entfaltet die Geschichte eine so elementare Wucht und rührte mich immer wieder zu Tränen.

Ein großes kleines Buch und eine dringende Lese-Empfehlung.

Im November 2023 kam die Verfilmung unter dem Titel The Quiet Girl in die deutschen Kinos. Der Film wurde als erste irisch-sprachige Produktion für einen Oscar nominiert.

Claire Keegan: Das dritte Licht. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl 2023
steidl.de

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