Zwischen Jules Verne und Wernher von Braun
Es mag an meiner Ferne zur Physik und zur Raketentechnik liegen, dass ich den Name Hermann Oberth bisher nicht kannte. Dank der Romanbiografie Die Erfindung des Countdowns von Daniel Mellem und sich daraus ergebender eigener Recherchen weiß ich nun um einiges mehr über diesen Raketenpionier, der sich als Jugendlicher von Jules Verne inspirieren ließ und zum Lehrmeister von Wernher von Braun wurde.
Ein Leben für die Raketenforschung
1894 in Siebenbürgen und damit im Kaiserreich Österreich-Ungarn geboren, begeisterte sich Hermann Oberth bereits als Schüler für Raketen, zum Ärger seines Vaters, eines renommierten Mediziners, der den Sohn in seiner Nachfolge sah. Dieser jedoch träumte von einer Expedition zum Mond, skizzierte und berechnete, experimentierte mit Flüssigbrennstoff, steckte Rückschläge weg und ersann schließlich, als er trotz aller Vorbehalte gegen Volksdeutsche endlich in Göttingen Physik studieren durfte, das zweistufige Konstruktionsprinzip. Seiner Zeit voraus fand er weder in Göttingen noch in Heidelberg einen Doktorvater und konnte seinen Ideen nur mit einer Veröffentlichung auf eigene Kosten Gehör verschaffen. Den Traum einer Mondreise tauschte er früh gegen Pläne für Raketenwaffen. Eine Zwischenstation 1928/29 als Berater bei Fritz Langs Film Die Frau im Mond führte ihn mit dem Studenten Wernher von Braun zusammen, der seinen alten Lehrer 1941 zum Bau der Aggregat 4 (später V2 genannt) in die Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf Usedom und 1955 zur Vorgängerorganisation der NASA nach Huntsville/Alabama holte.
Struktur und Stil
In elf Kapitel packt Daniel Mellem fast hundert Jahre und zählt von zehn (Kindheit) rückwärts bis null (Start der Apollo 11 vor Oberths Augen). Sachlich und ohne mich als Laien technisch zu überfordern schildert der promovierte Physiker Mellem ein Leben mit weit mehr Tiefen als Höhen, gleichermaßen im privaten wie im beruflichen oder politischen Feld, in dem Oberth nie der Bau der Rakete gelang.
Umgang mit biografischen Fakten
Trotz Oberths unzweifelhafter Bedeutung für die Raketenforschung gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biografie, was Spielräume für die Romanbiografie bot. Auf knapp 300 Seiten erzählt Mellem Oberths Leben in Episoden. Auch wenn mir diese Beschränkung prinzipiell gut gefiel, störten mich zwei Fehlstellen sehr: Die Studiensemester der Medizin vor und nach dem Ersten Weltkrieg und das Staatsexamen an der rumänischen Universität Klausenburg mit der abgelehnten Dissertation als Diplomarbeit wären für mich zum Verständnis von Bedeutung gewesen.
Ein gescheitertes Leben
Verbaute die siebenbürgische Herkunft Oberth viele Wege, die einem Reichsdeutschen offen gestanden hätten? War er schlicht seiner Zeit voraus? Scheiterte er an seiner Unfähigkeit, sich und seine Ideen zu vermarkten? Lag es an seiner Sturheit, seiner Rechthaberei, seiner Alltagsuntauglichkeit, seiner mangelnden Teamfähigkeit, die auch seine lebenskluge Frau Tilla und die vier Kindern belasteten? Mellem bietet all diese Gründe an, überlässt jedoch die Einschätzung – genau wie die Beurteilung seiner NS-Verstrickungen – uns. Mein Mitgefühl mit dieser eigentlich tragischen Figur schlug spätestens mit seiner persönlichen Anbiederung an Hitler um. Mag der Pakt mit den Nazis aus seiner Besessenheit für die Raketentechnik und dem Beharren auf seinem Deutschtum noch erklärlich sein, so ist seine zeitweilige Mitgliedschaft in der NPD in den 1960er-Jahren aus Opposition gegen die Vergangenheitsbewältigung Adenauers und seine Unterstützung der „Stillen Hilfe“, von der auch NS-Täter profitierten, für mich unverzeihlich. Seinem späten Ruhm mit Auszeichnungen und Ehrungen tat das keinen Abbruch, bei mir bleibt ein bitterer Nachgeschmack.
Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns. dtv 2020
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