Lebenssplitter
Eduardo Halfon, geboren 1971 in Guatemala und 1981 in die USA ausgewandert, lebt heute zwischen beiden Ländern und ist, nachdem er ursprünglich Industrial Engineering studierte, inzwischen Professor für Literatur unter anderem an der University of Iowa. Für mich war Duell die erste Begegnung mit seinem Werk. Was mich am meisten an diesem nur 110 Seiten umfassenden Roman fasziniert hat, sind die Themenfülle, die Herkunfts-Vielfalt seiner jüdischen Familie und die zwischen Realität und Fiktion schwebende Erzählweise.
Familiengeheimnisse
Er hieß Salomon. Er starb, als er fünf war, ertrunken im See von Amatitlán. So bekam ich es als Kind in Guatemala erzählt. Der ältere Bruder meines Vaters, der erstgeborene Sohn meiner Großeltern, mein potentieller Onkel Salomon, sei im See im See von Amatitlán ertrunken, verunglückt, als er so alt war wie ich, und seine Leiche sei nie gefunden worden.
So beginnt der Roman. Das Rätsel um den kleinen Salomon ist der rote Faden in der Geschichte. Es ist nicht das einzige Ereignis, über das die Familie Stillschweigen bewahrt. Doch viel mehr als die ebenso verschwiegene Vergangenheit des Großvaters aus Łódź, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebte und nach einer sechsjährigen Odyssee durch KZs 1946 nach Guatemala kam, beflügelt der Tod des Kindes die Fantasie des Ich-Erzählers Eduardo. Zufällig aufgeschnappte Bemerkungen über Schuld verunsichern ihn. Zwei Urgroßväter Eduardos aus Aleppo beziehungsweise Beirut trugen den Namen des Königs der Israeliten, ebenso der im Ghetto von Łódź verhungerte jüngere Bruder des polnischen Großvaters. Doch nun ist der Name in der Familie tabu.
Obwohl der Vater ihm Jahre spätere, als die Familie wegen der Unruhen in Guatemala längst in Florida lebte, eine ganz andere Version erzählt, verlässt Eduardo der Gedanke an den vermeintlich Ertrunkenen nicht. 40 Jahre später kehrt er zum ehemaligen Landhaus der Großeltern am Amatitlán zurück, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Aber so sehr er auch beim ehemaligen Gärtner der Familie, Don Isidoro, und bei einer Heilerin, Doña Ermelinda, nachforscht, unter den traurigen Geschichten über ertrunkene Kinder existiert keine über Salomon.
Skizzenhafte Erzählweise
Überaus kunstvoll verwebt Eduardo Halfons die Erinnerungsschnipsel aus seiner(?) Familiengeschichte. Ohne Kapitelunterteilung springt er zwischen Zeiten und Ländern und zwingt damit zu großer Konzentration. Manch ein Schicksal eines Familienmitglieds böte Stoff für einen eigenen Roman und sehr gerne hätte ich mehr gelesen. Sollte der Autor jemals ein umfangreicheres Buch schreiben – ich wäre garantiert dabei!
Rätsel gab mir nach der Lektüre der deutsche Titel Duell auf, der sich laut Klappentext auf Erfindung und Wahrheit bezieht. Ich tendiere eher zur anderen Übersetzung des Originaltitels Duelo, der auch „Trauer“ oder „Trauerzug“ bedeuten kann, passend zu den melancholischen Lebenssplittern.
Nicht zuletzt eine Suche nach Identität
Immer wieder fielen mir beim Lesen Parallelen zu Saša Stanišićs Roman Herkunft auf. In beiden Romanen beantwortet ein alter Mann die Frage nach dem Woher in gleicher, einfacher Weise, in Eduardos Fall der Gärtner:
Junger Mann, sagte er, Sie werden immer von hier sein.
Eine sehr lohnende Lektüre, die sich wegen der Leerstellen auch besonders gut für Diskussionen in Lesekreisen eignet.
Eduardo Halfon: Duell. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Carl Hanser 2020
www.hanser-literaturverlage.de