Baskische Kindheitserinnerungen mit zwei Erzählebenen
2018 gehörte der gut 750 Seiten starke Roman Patria von Fernando Aramburu zu meinen Lieblingsbüchern. Nun ist sein im Original bereits 2012 veröffentlichtes, nur 200 Seiten umfassendes Buch Langsame Jahre auf Deutsch erschienen. Obwohl beide Titel sich mit dem Baskenland und der ETA befassen, sind sie doch inhaltlich und erzähltechnisch ganz verschieden. In Patria geht es um zwei Familien, Opfer und Täter. In den kurzen, nicht chronologisch geordneten Kapiteln steht je einer der neun Protagonisten im Mittelpunkt und einzelne Sätze werden aus der Ich-Perspektive erzählt. Langsame Jahre dagegen ist die Erinnerung eines Mannes an seine Kindheit in den Jahren 1968 bis 1971, als er Pflegekind im Haushalt seiner Tante in San Sebastián war. Er erzählt seine Geschichte dem Schriftsteller Fernando Aramburu und mahnt diesen immer wieder zur literarischen Verfremdung und zum Persönlichkeitsschutz. Beide, Erzähler und Romanautor, haben ihre Kindheit vor 40 Jahren im Stadtviertel Ibaeta verbracht. Der erzähltechnische Clou besteht darin, dass Aramburu 39 Einschübe mit Anmerkungen für einen zu schreibenden Roman in die im Original wiedergegebene Ich-Erzählung einfügt. In diesen nummerierten „Notaten“ ergänzt Aramburu eigene Erinnerungen, berichtigt Fehler des Erzählers, spielt mit möglichen Erzählvarianten und entwirft probeweise Dialoge. Durch diesen Blick in die Schreibstube gaukelt er dem Leser Authentizität vor.
Der namenlose Ich-Erzähler, von seinem Cousin Txiki genannt, kommt Anfang 1968 als Achtjähriger aus einem Dorf in Navarra nach San Sebastián. Seine Mutter kann die drei Söhne nach dem Weggang des Vaters nicht ernähren, und so kommt er als jüngster in den Haushalt seiner Tante, die beiden älteren ins Armenhaus nach Pamplona. Onkel, Tante, Cousine und Cousin nehmen ihn einigermaßen liebevoll auf, er verlebt hier insgesamt neun Jahre „ohne all jene Grausamkeiten und Kümmernisse, die sich für die Romanliteratur gewöhnlich als so nutzbringend erweisen“. Der intelligente Junge teilt sein Zimmer mit seinem zehn Jahre älteren Cousin Julen und wird, ohne es richtig zu verstehen, als einziger in der Familie Zeuge von dessen Radikalisierung unter dem Einfluss des örtlichen Priesters. Julen träumt davon, ein Held der baskischen Befreiung zu werden, und muss dafür teuer bezahlen. Die Cousine Mari Nieves führt zum Entsetzen ihrer Mutter ein lasterhaftes Leben und wird schwanger, sodass schnellstmöglich ein Ehemann gefunden werden muss – koste es, was wolle.
Anders als in Patria gibt es in diesem Roman nicht nur Verlierer. Zwar ist die Geschichte nicht ganz so intensiv und einiges bleibt der Interpretation des Lesers überlassen, doch hat mir die Perspektive des Kindes auf den Alltag „einfacher Leute mit wenig Bildung“ im franquistischen Baskenland und die Rekrutierung durch die ETA gefallen. Zusammen mit der originellen Erzählweise, der wertigen Aufmachung und dem sehr gut ausgewählten Cover ist auch dieser ältere Roman des in Deutschland lebenden Basken Fernando Aramburu auf jeden Fall empfehlenswert.
Fernando Aramburu: Langsame Jahre. Rowohlt 2019
www.rowohlt.de