Geetanjali Shree: Mai

  Eine indische Familie zwischen Tradition und Moderne

Nach Schätzungen der UN übernimmt Indien im April 2023 den Titel als bevölkerungsreichstes Land der Erde von China. In beiden Ländern leben derzeit jeweils mehr als 1,4 Milliarden Menschen, allerdings ist die Fruchtbarkeitsrate in den vergangenen Jahren in beiden Ländern rasant gesunken. Dank der Modernisierungen sank sie in Indien von 6 in den 1950er-Jahren auf mittlerweile unter 2,1.

Wie sich dieser Wandel in einer wohlhabenden nordindischen Mittelschichtfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt und die heutige jüngere und mittlere Generation in diesem Milieu aufwuchs, beschreibt die 1957 geborene indische Historikerin, Sozialwissenschaftlerin, Roman- und Bühnenautorin Geetanjali Shree in ihrem Debütroman Mai aus dem Jahr 1993. Er erschien erstmals in deutscher Übersetzung aus dem Hindi von Reinhold Schein im Draupadi Verlag 2010 und nun, nachdem die Autorin 2022 für einen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman mit dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde, erneut im Unionsverlag. Geetanjali Shree lüftet darin den Vorhang zu einer unbekannten Welt.

„Parda“
Den hilfreichen Worterklärungen hinten im Buch ist zu entnehmen, dass „Parda“, Vorhang, für die traditionell zurückgezogene Lebensweise einer Frau aus guter Familie steht. Hinter einem solchen „Parda“ lebt auch Mai, Hindi-Wort für Mutter, die zur mittleren der drei Tiwari-Generationen gehört und im Mittelpunkt des von ihrer Tochter Sunaina erzählen Geschehens steht. Traditionsgemäß bleibt Mai vorwiegend im Haus, weitgehend unsichtbar, still, das Gesicht hinter dem Ende ihres Saris verborgen. Mit ihrem dienenden, unterwürfigen, selbstausbeuterischen Verhalten gegenüber ihrem Mann und den tyrannischen Schwiegereltern, symbolhaft unterstrichen durch ihren gebeugten Rücken, ruft sie Mitleid bei ihrer Tochter und dem Sohn Subodh hervor:

Schon von früher Kindheit an schmerzte uns Mais Fügsamkeit. Allmählich begannen wir, sie vor allen andern zu beschützen: vor Großmutter, vor Papa, vor Großvater. Nur vor ihr selbst konnten wir sie nicht beschützen. (S. 12)

© B. Busch

Niemals will Sunaina werden wie Mai. Wie ihr Bruder besucht sie eine englische Schule, studiert, verlässt ihr Zuhause. Immer mehr wird das Bestreben der Geschwister, Mai aus ihrem „Gefängnis“ zu befreien, zur Obsession. Zwar handeln sie in bester Absicht, doch werden damit auch sie übergriffig. Mit Mais beharrlicher Verweigerung schlägt die anfängliche Euphorie in Frustration, Ärger und Wut um:

Wir hätten heulen können. Wenn sie selbst in ihren Ketten bleiben wollte, was konnten wir dann tun, um sie zu befreien? (S. 133)

Erst in einem nicht näher definierten „Später“ kann Sunaina, die durch ihr Erzählen „Ruhe“ und „Bewegungsfreiheit“ gewinnen möchte, einen differenzierteren Blick auf Mai, auf ihre Mutterbeziehung und das komplizierte Familiengeflecht werfen. Nun erkennt sie mehr als den gebeugten, Wünsche erfüllenden Schatten: eine Frau mit großer Stärke, wenn es um die Bedürfnisse ihrer Kinder ging, die über ein ganz eigenes Feuer verfügte.

Eine authentische Stimme
Die Erzählweise mit den vagen Zeitsprüngen, die Personen- und Ortszeichnungen, die ungewöhnlich sinnliche Beschreibung der Speisen und die atmosphärischen Alltagsschilderungen machen Mai zu einer sehr bereichernden Lektüre. Nur die gar zu oft wiederholten Rettungsabsichten haben mein Lesevergnügen manchmal getrübt, lieber hätte ich stattdessen mehr zum Bildungsweg der Geschwister und Subodhs Übersiedlung nach England erfahren. Trotzdem: Wer sich für indischen Alltag und die sich wandelnde Lebensweise interessiert, dem kann ich diese authentische Stimme sehr empfehlen.

Geetanjali Shree: Mai. Aus dem Hindi von Reinhold Schein. Unionsverlag 2023
www.unionsverlag.com

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert