Ein unbeschreibliches Leseerlebnis
Als der elfjährige Sohn des amerikanischen Präsidenten Lincoln im Februar 1862 an Typhus stirbt, tobt der Sezessionskrieg. Die tiefe Trauer des gramgebeugten Vaters ist der Anknüpfungspunkt für den 2017 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Debütroman des 1958 geborenen US-Amerikaners und Kurzgeschichtenautors George Saunders. Es ist inhaltlich wie formal das ungewöhnlichste, irrwitzigste, innovativste und skurrilste Buch, das ich jemals gelesen habe.
Ein äußerst lebendiger Friedhof
Der Haupterzählstrang spielt in der Nacht nach Willies Begräbnis auf dem Washingtoner Friedhof, wo der Sarg in einer Gruft beigesetzt worden war. Noch befindet sich der Junge in einer Zwischenwelt zum Totenreich, im tibetanischen Buddhismus Bardo genannt. Die Geister der Verstorbenen, die sich dort eingerichtet haben, weil sie nicht loslassen können und ihre Angst vor dem Jenseits übermächtig ist, verursachen ein aberwitziges Stimmengewirr. Kuriose Sterbeanekdoten werden wieder und wieder erzählt, es herrscht Langeweile. Ein Abbild der Gesellschaft hat sich dort versammelt, in prunkvollen Grüften oder Massengräbern, Sklavenhalter, Sklaven, Fabrikanten, Verbrecher, Arme, Reiche, Soldaten, und jedem verleihen Saunders und sein Übersetzer Frank Heibert eine eigene charakteristische Stimme. Nur das Thema Tod ist tabu, denn in allen glimmt Hoffnung auf Rückkehr ins Leben und der Sarg ist eine „Kranken-Kiste“, der Leichenwagen „Kranken-Wagen“, die Gruft „Heimstätte“. Die Vorgänge in dieser ungewöhnlichen Nacht befeuern ihre Sehnsüchte und ihren Selbstbetrug, denn Lincoln kehrt auf den Friedhof zurück, um Willie noch einmal zu liebkosen und zu versprechen, dass er wiederkommen wird – ein Umstand, der den Sohn daran hindert, wie alle Kinder umgehend ins Jenseits überzutreten:
Vater hat mir sein Versprechen gegeben, sagte der Junge. Wie wäre das denn, wenn er zurückkäme und mich nicht mehr anträfe?
Die Katastrophe verhindern
Drei Geister von etwa 15 „unstofflichen Wesen“ stehen im Mittelpunkt des Geschehens: Roger Bevins III, der sich als junger Homosexueller aus Liebeskummer die Pulsadern aufschnitt und dies zu spät bereute, Hans Vollmann, Drucker im fortgeschrittenen Alter, der kurz vor dem lange aufgeschobenen Vollzug seiner Ehe von einem Balken erschlagen wurde und deshalb mit einer Dauererektion im Bardo weilt, und der hochbetagt verstorbene Referend Everly Thomas, der vom Jenseits mehr weiß, als ihm lieb ist. Sie alle möchten Willie zum Verlassen des Bardos überreden, da dessen gegen alle Vorschriften verzögerter Aufenthalt zur Katastrophe führen muss – gespenstische Tragödie wie Komödie zugleich.
Unzuverlässige Quellen
Auch der zweite, weitaus kürzere Handlungsstrang ist kein Fließtext, aber anstatt Geisterstimmen reiht Saunders hier kurze Texte aus historischen Quellen, manche wohl auch fiktiv, aneinander. Sie berichten über die Geschehnisse rund um Willies Tod, das Bankett, während er bereits todkrank war, die Beerdigung, Lincolns Reputation, den Krieg, oft mit widersprüchlichen Aussagen und so genial montiert, dass ich mühelos von einer zur anderen gesprungen bin, fast als wäre es ein fortlaufender Text.
Lincoln im Bardo zu lesen, war Herausforderung und Abenteuer für mich. Ich habe mich an Vokabeln wie „gehschweben“, „trabschweben“, „flitzschweben“ oder dem Übertritt ins Jenseits mit einem „Feuerknall und dem Phänomen der Materienlichtblüte“ erfreut, bin in die Vater-Sohn-Geschichte genauso eingetaucht wie in die politischen Geschehnisse und habe mit Lincoln gelitten.
Was für ein Leseerlebnis!
George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. btb 2019
www.randomhouse.de
Welche wundervolle Rezension!
Ich danke dir!