Gehen oder bleiben?
Lichtungen der 1977 in Siebenbürgen geborenen, im Banat aufgewachsenen und 1985 nach Süddeutschland übersiedelten Autorin Iris Wolff beginnt mit einer Überraschung: Nicht das erste Kapitel eröffnet das Buch, sondern das letzte, neunte. Ausgangspunkt ist das Jahr 1994, als der Protagonist Leonhard, genannt Lev, seine Freundin Kato nach fünf Jahren der Trennung in Zürich wiedertrifft. Beide sind Ende 30, befreundet seit Kindertagen und haben, wie die meisten Landsleute, die Öffnung der Grenze und das Ende der Ceaușescu-Diktatur in ihrer Heimat Rumänien herbeigesehnt. Während der bodenständige, zögerliche Lev jedoch nach der Revolution von 1989 in der Maramuresch, der waldreichen Region im Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine geblieben ist, hat die mutige, freiheitsliebende Kato die erste Gelegenheit ergriffen und ist mit dem deutschen Fahrradtouristen Tom Richtung Westen geradelt. Als Straßenkünstlerin und mit Gelegenheitsjobs hat sie Europa bereist, Lev regelmäßig Postkarten geschickt, zuletzt mit nur einem Satz:
Wann kommst du? (S. 19)
Noch einmal möchte Lev Kato keinesfalls verlieren.
Von neun nach eins
Im Rückwärtsgang und somit in umgekehrter Reihenfolge der Kapitel, die wie Lichtungen den Blick auf Stationen im Leben von Kato und vor allem Lev freigeben, erzählt Iris Wolff von den prägenden Erfahrungen ihrer Figuren. Oftmals wird nur angedeutet oder bleiben Leerstellen, denn Iris Wolff traut ihren Leserinnen und Lesern erfreulich viel zu. Je mehr die Vergangenheit Schicht um Schicht freigelegt wird, umso mehr versteht man, was Lev und Kato zu dem hat werden lassen, was sie sind:
Jeder Augenblick enthält alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn. (S. 34)
Beide haben schwerwiegende Verluste erlitten, die erst allmählich sichtbar werden. Lev wurde durch ein traumatisches Ereignis im Alter von 11 Jahren ans Bett gefesselt, Fluch und Segen gleichermaßen, da die Zeit der Krankheit zum Ausgangspunkt der Freundschaft mit der Außenseiterin Kato wurde. Anders als seine Freundin, die den Blick in die Welt richtet, sucht er, der eine siebenbürgisch-sächsische Mutter, einen früh verstorbenen rumänischen Vater und einen als Österreicher geborenen Großvater hat, nach seiner Identität, verweigert jedoch eine eindeutige Zuordnung.
Ein erstes Highlight 2024
Völlig zurecht hat Iris Wolffs fünftes Buch Lichtungen nur kurz nach seinem Erscheinen Platz eins der SWR-Bestenliste Februar 2024 erklommen. Mit seinen Themen und Charakteren hat mich der Roman begeistert: Die spürbare Zuneigung der Autorin zu ihren zahlreichen, durchweg interessanten Figuren überträgt sich fließend, die Ortsbeschreibungen sind detailliert und ebenso atmosphärisch wie das Spiel mit Licht, Geräuschen und Gerüchen, die rumänische Zeitgeschichte prägt das Leben aller spürbar und der bunte Themenstrauß wie Heimat und Zugehörigkeit, Umgang mit Verlust und Trauer, Sehnsucht nach Freiheit und der Wunsch zu bleiben, Freundschaft und Liebe hat mich durchgehend gefesselt. Herausragend ist wie immer Iris Wolffs Sprache, jedes Wort mit Bedacht gesetzt, einerseits messerscharf und klar, andererseits poetisch, bildreich, melodisch und nie kitschig. Absolut genial aber ist die Form des Rückwärtserzählens, weil sie kein aufgesetztes Stilmittel ist, sondern organisch die Aussage des Textes unterstreicht. Sie funktioniert durchgängig perfekt und macht Lust darauf, den Roman ein zweites Mal zu lesen, vielleicht sogar rückwärts.
Lichtungen wäre zweifellos ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreises 2024. Ich jedenfalls drücke die Daumen!
Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta 2024
www.klett-cotta.de
Weitere Rezension zu einem Roman von Iris Wolff auf diesem Blog: