Stürmische Zeiten
Als im Januar 2016 der schlimmste Schneesturm seit Menschengedenken mit den tiefsten Temperaturen seit 1869 in New York tobt, verweben sich während dreier Tage die Leben von Lucía, Richard und Evelyn unwiderruflich miteinander. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, eine Leiche und einen Lexus verschwinden zu lassen, obwohl sie mit beiden nicht zu tun haben – ein bei diesen Wetterbedingungen schwieriges Unterfangen für bislang unbescholtene Zeitgenossen ohne einschlägige Erfahrungen. An den kalten Abenden erzählen sie sich ihr Leben, so ehrlich, wie sie es bisher nie getan haben.
Lucía Maraz aus Santiago de Chile, 62 Jahre alt, Gastdozentin am Zentrum für Lateinamerika- und Karibikstudien der Universität New York, lebt seit vier Monaten in der ungemütlichen Souterrainwohnung ihres Vorgesetzten Richard Bowmaster in Brooklyn. Diese Figur ist Isabel Allende besonders gut gelungen und ich hatte den Eindruck, dass sie ihr am meisten am Herzen liegt. Die lebenshungrige, starke Frau hat beim Militärputsch in Chile ihren Bruder verloren, die Jahre der Diktatur im Exil verbracht, den Krebs und eine Scheidung überstanden und träumt noch immer vom großen Glück, weil die Liebe für sie immer „halbgar“ geblieben ist.
Ganz anders bei Richard Bowmaster, auf den sie ein Auge geworfen hat. Der 60-Jährige hat die große Liebe erlebt und durch Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn verspielt. Er hat als Ehemann und Vater versagt und große Schuld auf sich geladen. Seine quälenden Erinnerungen bekämpft er mit starren Gewohnheiten, hasst jede Abweichung von der Routine, hat ein melancholisches Naturell und scheint für Flirtversuche unempfänglich.
Die Dritte im Bunde, die aus Guatemala stammende Evelyn Ortega, ist vor der Gewalt einer Gang auf abenteuerlichem Weg über Mexico in die USA geflohen und arbeitet als illegale Einwanderin bei einer New Yorker Familie.
Wie immer schafft es Isabel Allende, eine unglaubliche Vielzahl von Themen anzuschneiden, von der politischen Entwicklung Lateinamerikas über Migration, Krankheit, Scheidung, sexuelle Orientierung, Freundschaft, Liebe, Alter, häusliche Gewalt, Alkoholismus, Rassismus, Behinderung, Menschenhandel und einige andere mehr. Dass ihr dies gelingt, ist ihrem überragenden erzählerischen Talent zu verdanken, weswegen sie schon lange zu meinen Lieblingsautorinnen zählt. Trotzdem gehört Ein unvergänglicher Sommer für mich nicht zu ihren großen Romanen, auch wenn ich ihn gerne gelesen habe. Die Verflechtung der drei Schicksale ist ihr dieses Mal nicht mit der gewohnten Leichtigkeit gelungen, wenngleich jedes für sich genommen einen Roman wert ist. Außerdem war mir das Happyend, sosehr ich es den Protagonisten gönne, etwas zu überstürzt und kitschig.
Und was hat das Ganze mit dem titelgebenden Sommer zu tun? Eigentlich nichts, aber ein vorangestelltes Zitat von Albert Camus passt trotzdem ganz wunderbar zu Richard, Lucía und Evelyn: „Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer ist.“
Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer. Suhrkamp 2018
www.suhrkamp.de