Joanna King: Vier Schwestern

Die Folgen des Verlassens und Verlassenwerdens

Eine junge Frau, gemalt vom amerikanischen Pop Art-Künstler Alex Katz, schmückt das Cover des Debütromans Vier Schwestern der in Neuseeland geborenen Autorin Joanna King. Es scheint die jüngste der vier Schwestern sein, die namenlose, in London lebende Ich-Erzählerin. Ihre Augen sind hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen, ihr Gesichtsausdruck ist ein wenig geheimnisvoll. Aus ihrer Sicht erfahren wir, was sich beim Treffen der vier Schwestern in der malerischen Landschaft der Cinque Terre abgespielt hat. Aber nicht nur das, auch Rückblicke in die Jugend gewährt sie uns und berichtet, wie es nach dem Treffen für sie und die zweitjüngste Schwester Rose weitergegangen ist.

Rose war die Initiatorin des Wiedersehens nach langer Zeit. Sie, die mit ihrem amerikanischen Ehemann in Florenz lebt, hatte die beiden älteren Schwestern Jess und Ngaio aus Neuseeland und – mit einigen Schwierigkeiten – auch die Ich-Erzählerin für zwei Wochen in den Küstenort Corniglia gelockt. Ungeachtet alter Spannungen, die sich aus ihrer Verschiedenheit, aber vor allem auch der Trennung der Eltern und der unterschiedlichen Parteinahme der Schwestern ergab, sollte ein entspanntes Wiedersehen gefeiert werden. Anders als die drei älteren Schwestern bezieht die Ich-Erzählerin aus Vorsicht eine separate Unterkunft und vermeidet von Beginn an, mit Jess und Ngaio alleine Zeit zu verbringen. Rose und sie blieben damals im Alter von 17 bzw. 14 Jahren bei der traumatisierten Mutter zurück, als der Vater nach jahrelangen Auseinandersetzungen die Familie verließ, und sie teilen ihre Geheimnisse. Jess und Ngaio wohnten bei der Trennung der Eltern vor 20 Jahren bereits nicht mehr zuhause und hatten einen anderen Blick auf die Ereignisse. Jess, als erklärter Liebling des Vaters, schlug sich eindeutig auf dessen Seite und gibt der Mutter bis heute die Schuld an der „Vertreibung“ des Vaters.

Eine Woche lang geht alles gut, nach der Wiedersehenseuphorie bleiben Streitereien zunächst aus. Doch dann verschwindet plötzlich Rose. Alles scheint möglich: ein absichtliches Verschwinden, ein Missverständnis, ein Unfall oder sogar Selbstmord. Nicht nur über die Bedeutung und die Gründe für ihr Verschwinden herrscht Uneinigkeit unter den drei Zurückgebliebenen, plötzlich sind alle alten Konfliktpunkte wieder da.

Sosehr es sich anhört, als ob das zentrale Thema dieses teilweise sehr fesselnden Romans die Spannungen unter den Schwestern wäre, für mich standen vielmehr die Themen „Verlassen“ und „Verlassenwerden“ im Mittelpunkt. Jede der vier Protagonistinnen und der Personen in ihrem Umfeld hat solches erlebt, alle haben unterschiedlich darauf reagiert und Verletzungen davongetragen, die nicht verheilt sind.

Gehadert habe ich manchmal mit der strikten Ich-Perspektive, zu gerne hätte ich auch die Sicht von Jess und Ngaio oder die eines neutralen Beobachters erfahren.

Ich kann diesen stilistisch guten Roman, den ich gerne gelesen habe, allen empfehlen, die die pittoreske Landschaft der Cinque Terre erleben, in die Dynamik menschlicher Beziehungen eintauchen und über viele interessante Sätze nachdenken möchten, und die nicht erwarten, dass am Ende jeder Schicksalsfaden abschließend verknüpft ist.

Joanna King: Vier Schwestern. mare 2018
www.mare.de

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