Johan Bargum: Nachsommer

„Nachher sieht alles gleich anders aus“

Das ungleiche Brüderpaar Olof und Carl Axelsson steht im Mittelpunkt des kleinen Romans von Johan Bargum, geboren 1943 und einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren. Mit sparsam gesetzten Worten und in kleinen, einfachen Sätzen erzählt der Ich-Erzähler Olof von der Wiederbegegnung mit Carl am Totenbett der Mutter nach langem Schweigen. In den späten Augusttagen, während die Mutter im Ferienhaus auf Vidarnäs, einer Schäre im Gürtel von Sibbo, dahinsiecht, rekapituliert Olof mit wenigen Strichen  sein ganzes bisheriges Leben. Nach dem frühen Tod des Vaters stand er immer im Schatten seines jüngeren, aber ab der Pubertät größeren, stärkeren, charmanteren und durchsetzungsfähigeren Bruders, der von der Mutter stets bevorzugt wurde. Carl erinnerte sie an ihren Mann, weswegen sie ihn stets gegen Olof verteidigte, ihn über die Maßen beschützte, ihn aber auch mit ihrer Liebe erdrückte und einengte, eine unheilvolle Beziehung. Olof hatte und hat eine Höllenangst vor dem Bruder, ließ sich von ihm den Schneid abkaufen und fasste auch nach dem frühen Weggang aus dem Elternhaus nie richtig Fuß im Leben. Während Carl erfolgreich die Handelshochschule absolvierte, Karriere in der IT-Branche in den USA machte und heiratete, brach Olof sein Studium ab, hatte halbherzige Affären, litt unter den eigenen Schwächen und seinem Phlegma. Nur einmal hätte er seinem Leben vielleicht eine andere Wendung geben können, doch damals, vor dreizehn Jahren, hat er aus Feigheit und Angst gekniffen und Carls Verlobte Klara, mit der er drei unvergessliche Tage und Nächte verbracht hatte, mit dem Bruder in die USA auswandern lassen.

Johan Bargums Roman Nachsommer ist eine der kleinen Perlen des Literaturbetriebs, nach denen ich immer suche, die aber so schwer zu entdecken sind. Wieder einmal ist es ein Buch aus Skandinavien, herausgegeben vom mareverlag, nach Eis der Finnlandschwedin Ulla-Lena Lundberg die zweite Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig, die mich so stark berührt und eine so große Schönheit ausstrahlt. Die melancholische Atmosphäre der spätsommerlichen Schärenlandschaft, die leise Schilderung großer Gefühle in verdichteter Erzählweise mit Raum für eigene Deutungen,  die Aufdeckung von Lügen und das Erkennen eigener Unzulänglichkeiten liefen wie ein Film vor meinen Augen ab.

Erzählt wird nicht, wie es nach diesen Spätsommertagen weitergeht, sondern nur, unter welchen veränderten Vorzeichen es weitergeht. Einige Parameter im Leben der Protagonisten sind andere geworden, aber ob sie etwas daraus machen können, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Johan Bargum: Nachsommer. mare 2018
www.mare.de

4 Kommentare

  1. Zu später Stunde habe ich diesen kleinen, wundervollen Roman beendet und ich war mir sicher, hier bei dir etwas darüber zu finden…
    Wirklich eine Perle des Literaturbetriebes! Ein Highlight, ich bin noch richtig sprachlos, so hallt es in mir nach…. 🙂

    Übrigens gehört „Eis“ auch zu meinen Lieblingsbüchern. Interessant, dass dieses und „Nachsommer“ denselben Übersetzer haben.

    Gute Nacht und Herzliche Grüße!

    1. Liebe Sabine,
      ja, sowohl „Nachsommer“ als auch „Eis“ (aufgrund von diesem Buch haben wir den Sommer 2017 auf den wunderbaren Åland-Inseln verbracht…) sind echte Perlen. Wie schön, dass du das genauso siehst!
      LG Barbara

      1. „Eis“ war für mich eine ganz neue Erfahrung. Zu meinem Mann sagte ich: “ wie kann ein Buch, das fast keine Handlung hat, so fesselnd sein?“
        Ich glaube damals ging ich an, etwas literarischere Bücher zu schätzen. Dieser ruhige Erzählfluss…
        Ich muss unbedingt nochmal Per Pettersons gestohlene Pferde lesen.
        Diese nordischen Erzähler haben einfach was Besonderes

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