Johanna Holmström: Själarans Ö

  Ausgestoßene

Eine Fahrt durch den Schärengarten vor Turku zu den Ålandinseln im Jahr 2017 gehört zu meinen schönsten Reiseerinnerungen. Tausende kleiner und kleinster Inselchen liegen in diesem Gebiet vor der Südwestküste Finnlands, teils bewohnt, teils unberührt. Hindurchzufahren ist ein einzigartiges Erlebnis. Ein Buch, das auf einer solchen Schäre spielt, ist daher für mich fast schon ein Muss. Nach mehreren Krimis im schwedischen Original habe ich mich zum ersten Mal an einen Roman in schwedischer Sprache gewagt, eine große Herausforderung mit Niveau B1/B2 und hinsichtlich des Wortschatzes unvergleichlich anspruchsvoller. Die deutsche Übersetzung unter dem Titel Die Frauen von Själö ist 2019 im Verlag Ullstein erschienen.

Schären vor Turku. © M. Busch

Auf Själö im äußersten Schärengürtel vor Turku gab es bis 1962 eine Nervenheilanstalt für Frauen. Johanna Holmström stieß 2012 durch die Dissertation von Jutta Ahlbeck-Rehn auf das Schicksal dieser Frauen, das sie nicht mehr losließ. Ihre Protagonistinnen haben so nicht existiert, vielmehr hat sie ihre Figuren aus verschiedenen Patientenberichten zusammengesetzt.

Drei Frauen stehen im Mittelpunkt des Romans, die aus ganz unterschiedlichen Gründen auf Själö landen: Kristina, Elli und Sigrid. Kristina Andersson hat im Oktober 1891 in einem Anfall von Verzweiflung ihre beiden Kinder im Fluss Aura ertränkt, heute würde bei ihr vermutlich eine Kindbettdepression diagnostiziert. Ihr Schicksal hat mich besonders berührt. Im Teenageralter vergewaltigt, führt die Geburt einer Tochter zur Ächtung im Dorf, eine zweite Chance will man ihr nicht geben. Ein Pastor mit Doppelmoral sorgt schließlich dafür, dass sie in die Klinik von Själö verlegt wird, die fast immer Endstation ist.

Als Kristina bereits kaum mehr als eine „lebende Tote“ ist, kommt 1934 die 17-jährige Elli Curtén nach Själö, Tochter aus bürgerlichem Haus, von der Mutter stets auf Abstand gehalten und schließlich mit einem jungen Mann durchgebrannt. „Hypersexualität“ lautet eine der Diagnosen. Ihre Weigerung, die Geisteskrankheit zu akzeptieren, wird als fehlende Krankheitseinsicht gedeutet und verschärft ihre Situation. Obwohl sie ursprünglich auf Betreiben ihrer Eltern eingewiesen wurde, setzen diese sich bald für ihre Entlassung ein, doch dafür gibt es Mitte der 1930er-Jahre in Finnland eine neue, unmenschliche Bedingung.

Die dritte Frau im Bunde ist Sigrid Friman, ausgebildete Krankenschwester aus Helsinki und als einzige freiwillig hier. Sie möchte einige Jahre auf Själö arbeiten und dann ihren Verlobten Frans heiraten, doch es kommt anders. Sigrid ist eine reflektierte Frau, die die Grenzen zwischen gesund und krank immer wieder in Frage stellt und sich um das Wohl ihrer Patientinnen sorgt.

Während es im ersten Teil fast nur um Kristina geht, handeln die beiden folgenden, sehr ausführlich geratenen Teile vom Alltagsleben auf Själö, wo nur selten ein Arzt vorbeikommt, von Freundschaften und Intrigen, von Zwangsmaßnahmen wie strikter Isolation, von den penibel geführten Krankheitsdokumentationen, Fluchtversuchen im Winter über das Eis, Todesfällen und fast vollkommener Abschottung von der Außenwelt. Und trotz alledem bietet das Leben auf Själö auch Freiheiten, die es auf dem Festland so für die Frauen nicht gäbe. Die düstere Stimmung des Buches wird lediglich durch die sehr atmosphärische Beschreibung der Jahreszeiten und der Natur unterbrochen, so dass mich das etwas zu positiv geratene Ende überrascht hat.

Själarnas Ö ist ein Roman, der wohl niemanden kaltlässt.

Johanna Holmström: Själarnas Ö. Norstedts 2017
www.norstedts.se

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