Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde

  Fremde Welt Kamtschatka

In Elizabeth Strouts 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnetem Roman Mit Blick aufs Meer und der Fortsetzung Die langen Abende bildet die Protagonistin Olive Kitteridge den roten Faden zwischen den einzelnen, ansonsten unzusammenhängenden Episoden, in Simone Lapperts Der Sprung die Frau auf dem Dach und in Peter Zantinghs Nach Mattias der Tod eines jungen Mannes. Im Roman  Das Verschwinden der Erde der US-Amerikanerin Julia Philipps ist das Verbindende die Entführung zweier Schwestern, der elfjährigen Aljona und der achtjährigen Sofija. An einem Augusttag verschwinden sie in der Hauptstadt Petropawlowsk der im ostasiatischen Teil Russlands gelegenen Halbinsel Kamtschatka spurlos. Eben erzählt Aljona ihrer Schwester noch die Geschichte eines bei einem Tsunami verschwundenen Dorfes, als ein Fremder sie anspricht und mitnimmt.

Potpourri von Frauenstimmen
Während eines Jahres – die Kapitel sind mit den Monatsnamen überschrieben, dazu eines mit „Silvester“, so dass es insgesamt 13 sind – stellt Julia Philipps Menschen vor, die direkt oder als unbeteiligte Beobachter mit diesem Verbrechen verbunden sind.Hilfreich sind dabei das Personenregister und die Landkarte vorn im Buch. Immer wieder kreuzen Figuren aus früheren Kapiteln ihre Wege und wir erfahren en passant, wie deren Leben weitergehen: ob die Hautveränderung der Schulsekretärin Walentina Nikolajewna tatsächlich Krebs ist, Katja trotz Bedenken bei ihrem unzuverlässigen Freund Max bleibt, die Studentin Ksjuscha sich weiterhin ihrem  kontrollsüchtigen Machofreundes Ruslan unterwirft und Nadja zu Tschegga zurückkehrt oder nicht.

Es sind triste Schicksale meist gut ausgebildeter Frauen, deren Träume zerplatzen, deren Ausbruchsversuche scheitern, die beste Freundinnen, Ehemänner, Kinder oder ihren Hund verlieren. Männer bevölkern diese patriarchalische Welt überwiegend als trunksüchtige, machtbesessene, psychische und physische Gewalt ausübende, unzuverlässige Partner. Viele trauern den sicheren Strukturen der untergegangenen Sowjetunion nach, als das neun Flugstunden von Moskau entfernte, nur per Flugzeug oder Schiff erreichbare Kamtschatka abgeriegeltes militärisches Sperrgebiet war, es keine Fremden und kaum Gewaltverbrechen gab.

Nichts dem Zufall überlassen
Mit dem Einstiegskapitel und dem Verschwinden der Mädchen hat mich Julia Phillips sofort gepackt. Die ersten Kapitel las ich mit äußerstem Interesse, das dann allerdings in den Frühlingsmonaten abebbte. Nicht jedes Schicksal war gleichermaßen packend, manche Frauen, wie die junge Mutter Soja, nervten mich sogar. Die Wende kam mit dem Juni-Kapitel, denn nun rückt die Mutter der Entführungsopfer, Marina, in den Mittelpunkt. Ihre Qualen, Schuldgefühle und kraftraubenden Überlebensstrategien sind derart gelungen dargestellt, dass dieses längste Kapitel für mich den Höhepunkt des Romans bildet. Marina, die Russin, trifft bei einem ewenischen Jahresfest die Ureinwohnerin Alla, deren 18-jährige Tochter Lilja vor über drei Jahren ebenfalls verschwand. Ermittlungen fanden wegen Liljas Alters und ihrer indigenen Abstammung nicht statt, obwohl auch Alla von einem Verbrechen ausgeht. Wie Julia Phillips hier verschiedenste Figuren des Romans glaubhaft in einem atemberaubenden Showdown zusammenführt, ist schlichtweg genial. Nicht weniger ergreifend ist das kurze Schlusskapitel, der Juli, in dem die vermutlich titelgebende Geschichte vom Untergang eines Dorfes wiederaufgenommen wird.

Eine lohnende Lektüre
Trotz vorübergehender Ermüdungserscheinungen hat mich der 2019 auf der Shortlist des National Book Award platzierte Debütroman von Julia Phillips, die 2011 mittels eines Stipendiums ein Jahr in Kamtschatka verbrachte und 2015 erneut dorthin reiste, am Ende überzeugt. Der raffinierte Aufbau, die unbekannte Region, das Porträt einer von Rassismus zerrissenen, männlich dominierten Gesellschaft, der eindrückliche Kontrast zu einer fantastischen Natur mit Tundra, Vulkanen, Geysiren, Wäldern, Bergen und Bären sowie der gelungene Spannungsbogen und die glasklare Sprache machen Vom Verschwinden der Erde unbedingt lesenswert.

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde. Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda. dtv 2021
www.dtv.de

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