„Es kann woanders nur besser sein als hier.“
Jedem Bewohner der „Schönen Insel“ wird nach seinem Tod ein „Miroloi“ gesungen, ein Totenlied, nur die sechzehnjährige Ich-Erzählerin hat weder ein Anrecht darauf noch auf einen eigenen Namen. Als Findelkind steht sie ganz unten in der gnadenlosen Hierarchie einer rückständigen Gesellschaft, die von der Außenwelt nahezu abgeschlossen ist. An der Spitze stehen ein Ältestenrat als weltliche und der Bethaus-Vater als religiöse Macht. 30 Gesetze und die heilige „Khorabel“ regeln das Leben der Inselbewohner bis ins kleinste Detail und werden bei Bedarf von den Herrschenden umgeschrieben. Alle anderen Bewohner des einzigen, des „schönen Dorfes“ sind nahezu rechtlos, Frauen stehen deutlich unter den Männern, da sie von jeglicher Form der Bildung ausgeschlossen sind, die Verweigerung von technischem Fortschritt dient als Mittel der Unterdrückung in dieser archaisch anmutenden und doch im Heute angesiedelten Gesellschaft. Häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung und werden geduldet, Regelverstöße werden mit dem Pfahl bestraft, Fluchtversuche wie im Falle der Ich-Erzählerin mit Verstümmelung eines Beines durch den „Angstmann“. Zuneigung und Schutz erhält die Sechzehnjährige lediglich vom Bethaus-Vater, ihrem „Finder“, bei dem sie lebt, und von Mariah, ihrer mütterlichen Freundin.
In 128 Strophen singt die Erzählerin sich ihr eigenes Lied, denn: „Mein Miroloi muss ich mir selber singen“. Darin geht es um das gewaltbasierte Leben in der Gemeinschaft, die Schmähungen gegen sie, den Missbrauch, die harte Arbeit, ihre verbotene Beziehung zu einem Bethaus-Schüler, aber auch darum, wie ihr Gehorsam die ersten Risse bekommt bis hin zum fulminanten Showdown.
Das wunderschöne Cover mit der originellen Klappe über dem seitlichen Schnitt und die Platzierung auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2019 waren die Gründe dafür, dass ich den Debütroman Miroloi von Karen Köhler unbedingt lesen wollte. Parallel zur Bekanntgabe der Shortlist habe ich ihn beendet und war erleichtert, dass er dort nicht mehr auftaucht. Rätselhaft bleibt für mich die Nominierung auf der Longlist, viel eher hätte ich eine Prämierung als Jugendbuch verstanden. Als Teenager hätte mir das Buch wahrscheinlich gefallen, als Erwachsenbuch und mit einer größeren Leseerfahrung war mir die erschaffene Welt zu wenig originell, ein Verschnitt aus Teilen, die man bereits anderswo gelesen hat, die Wiederholungen zu penetrant, die Handlung zu unwahrscheinlich, bisweilen unlogisch und insgesamt vorhersehbar. Die Sprache schwankt zwischen teils originellen Wendungen und Wortschöpfungen wie „bodenblicks“, „tieftintenschwarz“, „taumelflugs“ oder „innere Krone“ für Selbstbewusstsein, aber auch „Scheiße“, „Pisse“ und „kotzen“, zwischen naiver Kindsprache und verblüffender Weitsicht und versucht sich gewollt an poetischen Formulierungen und philosophischen Überlegungen – für mich insgesamt ermüdend und schwer mit einer unter diesen Bedingungen aufgewachsene Protagonistin in Einklang zu bringen. Als jugendliche Leserin hätte mich all dies vermutlich nicht gestört. Wenig gefallen hätte mir aber auch schon damals die Liebesgeschichte, die sich hauptsächlich aus körperlicher Anziehung speist.
Für mich ist Miroloi weniger ein feministischer als ein Roman über das Leben in einer Diktatur, ein Plädoyer für Bildung als Mittel zur Befreiung, eine Warnung vor sich abschottenden Gesellschaftsmodellen und ein akzeptables Buch für Jugendliche ab 16 Jahren.
Karen Köhler: Miroloi. Carl Hanser 2019
www.hanser.de
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