Kirsten Boie: Dunkelnacht

„Wozu, im Guten wie im Schlechten, sind ganz und gar durchschnittliche Menschen fähig?“

Die erschütternden Geschehnisse am 28. und 29. April 1945 in der rund 50 Kilometer südlich von München gelegenen ehemaligen Bergarbeiterstadt Penzberg sind Gegenstand der Jugendnovelle Dunkelnacht von Kirsten Boie. Die historischen Fakten sind akribisch recherchiert und stammen aus dem Archiv der Stadt Penzberg sowie aus den Prozessakten zu diesen sogenannten Endphasenverbrechen. Fiktiv sind jedoch die drei Jugendlichen Schorsch, Marie und Gustl, aus deren Sicht Kirsten Boie über die Verbrechen berichtet, wenn sie sich nicht selbst als auktoriale und emotionale Erzählerin einbringt. Gustl kämpft als „Verräter-Kind“ bei den Werwölfen fanatisch für das Vaterland und seine Ehre, Schorsch wird als Sohn eines Polizeimeisters Zeuge von dessen Aktenvernichtung und Maries Vater saß als „Roter“ eingige Zeit im KZ Dachau.

Die historischen Fakten
Am 28. April 1945 standen die Amerikaner unmittelbar vor der ehemals roten Stadt Penzberg. Die Widerstandsbewegung Freiheitsaktion Bayern hatte den Reichssender München besetzt und rief zum Schutz der Betriebe gegen Sabotage durch die Nazis und zur Übernahme der Ordnungsmacht durch die Bürgermeister aus der Zeit vor 1933 auf. Zusammen mit einigen Getreuen setzte daraufhin das ehemalige Stadtoberhaupt Hans Rummer den Penzberger NS-Bürgermeister ab, verhinderte die Flutung des Bergwerks, befreite die Zwangsarbeiter und bereitete den Einmarsch der Amerikaner ohne Blutvergießen vor. Ein durchziehendes Wehrmachts-Regiment und ein Rudel der Untergrundorganisation Werwölfe sorgten jedoch dafür, dass die Gruppe um Hans Rummer sowie ihrer roten Gesinnung verdächtige Penzberger Bürger als „Volksverräter“ hingerichtet wurden. Am Nachmittag des 28 April 1945 wurden acht Männer von einem Vollstreckungskommando erschossen, in der darauffolgenden Nacht sechs Männer und zwei Frauen erhängt: „Die Wehrmacht schießt, der Werwolf hängt.“ (S. 100) 

Schnelle Szenenwechsel
Wie ein Protokoll ist der schmale Roman aufgebaut mit exakten Zeitangaben als Kapitelüberschiften. Die Unterkapitel sind mit den handelnden Personen überschrieben. Die Kürze dieser Abschnitte steigert die unheilvolle Dramatik und die Spannung, obwohl nie ein Zweifel am düsteren Ausgang dieser Stunden besteht. Die Schilderung der Morde durch die Augen der Jugendlichen ist äußerst knapp, aber gerade darum besonders eindrücklich. Das gelungene Layout mit dem grau-schwarz angesengten oberen Rand verstärkt die zutiefst beklemmende Szenerie.

Gedenken und Mahnung
Kirsten Boie stieß bei der Lektüre des Sachbuchs Wolfszeit von Harald Jähner auf die Verbrechen von Penzdorf. Einerseits hält sie mit Dunkelnacht die Geschichte der Opfer lebendig und setzt ihnen mit einer Namensliste im Anhang ein Denkmal. Andererseits erzählt sie diesen Teil der deutschen Geschichte heutigen Jugendlichen bewusst, um den Gefahren von rechtsnationalem Gedankengut etwas entgegenzusetzen. Der Blickwinkel der jugendlichen Protagonisten erleichtert die Identifikation und die Auseinandersetzung mit Themen wie Angst und Misstrauen, Ehre, Pflichtgehorsam und Mitläufertum, Hass und Verrohung, aber auch Mut und Menschlichkeit.

Im ebenfalls sehr lesenswerten Nachwort beschreibt Kirsten Boie die beschämende gerichtliche Aufarbeitung der Verbrechen im Nachkriegsdeutschland und das zurückhaltende Gedenken in der Stadt.

Ich wünsche mir, dass viele Jugendliche ab etwa 15 Jahren Dunkelnacht lesen, am besten als Schullektüre. Anregungen für aktuelle Diskussionen bietet der Roman mehr als genug, denn:

Penzberg zeigt: Eine unmenschliche Politik betrifft am Ende selbst diejenigen, die glaubten, unbeteiligt bleiben zu können. (Nachwort, S. 116)

Kirsten Boie: Dunkelnacht. Oetinger 2021
https://www.oetinger.de

 

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