Knut Hamsun: Hunger

  Ein Schrei nach Brot und Anerkennung

70 Jahre nach seinem Tod sind die Werke des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun (1859 – 1952) seit dem Jahresbeginn 2023 gemeinfrei. In einer Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg erschien pünktlich dazu sein Debütroman Hunger, basierend auf der Urfassung von 1890, bevor Knut Hamsun ihn unter dem Einfluss der in späteren Jahren von ihm bedingungslos bewunderten und verinnerlichten Nazi-Ideologie mehrfach überarbeitete. Trotz meiner Liebe zur norwegischen Literatur hatte ich aus diesem Grund bisher Berührungsängste zu seinem Werk. Die wunderschöne Neuausgabe mit dem schlichten Cover in Schleifpapiermanier und der schmucklosen, plakativen Schrift sowie das Wissen um die große Bedeutung seines Werks für spätere Autoren haben mich nun doch bewogen, Hunger zu lesen, das ihm den literarischen Durchbruch bescherte.

Gezeichnet von einer Stadt
In vier mit „Stück“  überschriebenen Kapiteln folgen wir einem mittellosen, hungernden Journalisten und Schriftsteller durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo:

Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist. (1. Satz, S. 5)

© B. Busch

Jedes „Stück“ markiert einen neuen Tiefpunkt, während die positiven Momente, in denen der namenlose Ich-Erzähler zu etwas Geld kommt, ausgespart bleiben. Zunehmend zerlumpt, ohne Besitztümer und in immer prekäreren Quartieren hausend kommt er mit jeder Episode dem Wahnsinn wie dem Tod näher. Dabei ist er unfähig, sein Schicksal zu wenden, gibt das wenige Geld, an das er gelegentlich kommt, aus Gründen der Ehre und um über seine Not hinwegzutäuschen verschwenderisch ab und schwankt zwischen Größenwahn und schamhafter Unterwürfigkeit. Nur selten wird der innere Monolog für die wilden Lügengeschichten unterbrochen, die er bei seinen zufälligen Begegnungen erzählt. Nicht immer ist klar, ob diese Zusammentreffen in der Realität oder in seiner Fantasie stattfinden, weshalb das Werk manchen als Vorstufe des absurden Theaters gilt.

Ein Roman ohne Plot
Nicht nur an Brot mangelt es dem Hungerhelden, auch wenn der tagelange Nahrungsentzug ihm immer mehr zusetzt. Gleichzeitig dürstet er nach Wahrnehmung seiner Person, nach Anteilnahme, Anerkennung und Zuwendung. Selten habe ich Einsamkeit in einem Roman so greifbar beschrieben gefunden. Es ist mir deshalb ein Rätsel, warum Astrid Lindgren, wie Felicitas Hoppe im Nachwort ausführt, ihn als „hinreißend lustiges Buch über den Hunger“ beschreibt und beim Lesen vor Lachen „wimmerte“. Treffender wären für mich die Bezeichnungen „skurril“ und „aberwitzig“ für die Fantasiegeschichten, Worterfindungen, Gefühlsschwankungen und die Tatsache, dass der Ich-Erzähler am Ende auf einem Schiff nach Leeds anheuert, einer Stadt ohne Hafen. Ein Lachen wäre mir jedenfalls im Halse stecken geblieben. Eher schon hat mich der Hungerheld mit seinem deplatzierten Stolz, der ruinösen Ehrsucht und dem mangelnden Überlebensinstinkt zur Verzweiflung gebracht.

Ich staune selbst, dass der fehlende Plot, zahlreiche Wiederholungen, der Verzicht auf die Schilderung der gesellschaftlichen Umstände und von Sozialkritik, das Schweigen über die Vergangenheit des Protagonisten und seine geringe Weiterentwicklung mich kaum gestört haben. Vielleicht liegt es daran, dass Knut Hamsuns eigene Erfahrungen so authentisch spürbar sind und dass seine minutiöse Beobachtungsgabe, die geschärfte Wahrnehmung sowie die sprachliche Virtuosität, an der auch der Übersetzer großen Anteil hat, mich bei diesem Klassiker überzeugen

Knut Hamsun: Hunger. Nach der Erstausgabe von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Felicitas Hoppe. Manesse 2023
www.penguinrandomhouse.de

 

Rezensionen zu Romanen von Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern auf diesem Blog:

1909
1926
1932
1954
2017
2021

 

 

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