Margarita Liberaki: Drei Sommer

  Weibliche Möglichkeiten

Die Griechin Margarita Liberaki (1919 – 2001), die als Scheidungskind bei ihren Großeltern aufwuchs und später lange Zeit in Frankreich lebte, gehört in ihrem Heimatland zu den bekanntesten Autorinnen, genau wie ihre 1946 geborene Tochter Margarita Karapanou. Der Roman Drei Sommer von 1946 wurde auf Betreiben von Albert Camus 1950 ins Französische übersetzt, 1995 ins Englische und erscheint jetzt erstmals im Arche Verlag mit wunderschönem Cover auf Deutsch. Was mich am meisten überrascht: Es gibt keinen zeitgeschichtlichen Bezug, der Zweite Weltkrieg, die Besatzung, die große Hungersnot und der Bürgerkrieg spielen keine Rolle, obwohl der Roman laut der einzigen Jahreszahl, die ich entdecken konnte, nach 1935 spielt (S. 282).

Was Strohhüte und Gärten verraten
Vordergründig ist es eine rein private Geschichte, in deren Mittelpunkt drei Schwestern in drei aufeinanderfolgenden Sommern stehen: Maria, zu Beginn fast 20, Infanta, fast 18, und Katerina, 16 Jahre alt. Sie sind so unterschiedlich wie ihre in der griechischen Originalfassung titelgebenden Strohhüte zu Beginn:

In jenem Sommer kauften wir große Strohhüte, der von Maria hatte eine Kirschenbordüre, der von Infanta blaue Vergissmeinnicht und meiner feuerrote Mohnblumen. Wenn wir auf der Heuwiese lagen, verschmolzen wir mit dem Himmel und den Feldblumen. (S. 9)

Ebenso verschieden sind ihre Augenfarben und ihre Beete im Garten des Landhauses unweit von Athen, wo sie zusammen mit dem Großvater, der Mutter Anna und deren älterer Schwester Teresa nach der Scheidung der Eltern leben. Auch die Beete spiegeln ihre unterschiedlichen Charaktere wider: Maria hegt einen sorgsam angelegten Gemüsegarten, Infanta hat sich für pflegeleichte wilde Mandelbäume entschieden und Katerina liebt Überraschungen, weshalb sie planlos Blumensamen ausstreut.

Unter der Oberfläche
Das Landleben als Reigen von Festen, Einladungen, Spaziergängen und gemeinsamen Mahlzeiten mutet auf den ersten Blick wie eine Idylle an. Bei genauerer Betrachtung sieht man jedoch die schmerzvolle Trennung der Eltern, Terezas lange zurückliegende Vergewaltigung, das Drama der polnischen Großmutter, die einst für einen durchziehenden Musiker den Großvater und die kleinen Töchter verließ, oder einen tödlichen Streit im Dorf. Neugierig spürt Katerina großen und kleinen Geheimnissen nach: dem Verhältnis der geschiedenen Eltern, dem Werben eines Nachbarn um die Mutter, aber vor allem dem tabuisierten Verschwinden der Großmutter, das ihre romantische Fantasie und die Opposition zur distanzierten Mutter befeuert:

Ihr alle hier hasst sie. Ich bin die Einzige, die sie mag. Weil sie schön war, weil sie anders Musik gespielt hat als du, weil sie querfeldein galoppiert ist. (S. 36).

Ein weiblicher Entwicklungsroman
Im Laufe der drei beschriebenen Sommer müssen die Schwestern ihren Platz im Leben finden. Bald liegen sie nicht mehr zusammen auf der Heuwiese, denn die kokette, freizügige Maria entscheidet sich für Ehe, Mutterschaft und ein Haus auf dem Grundstück der Familie:

Mutig ist, wer bleibt. (S. 13)

Die unnahbare Infanta steht zwischen einem Bewerber und den platonischen Idealen ihrer Tante Tereza, reitet halsbrecherisch ihr geliebtes Pferd Romeo und widmet sich der Stickerei. Katerina ist ebenso wild wie romantisch und schwankt zwischen Liebe und Abenteuer, Häuslichkeit und Schriftstellerei, Bleiben und Fernweh:

„Am liebsten hättest du wohl zwei Leben“, sagte Maria irgendwann zu mir, „das steht dir auf der Stirn geschrieben.“

„Nicht nur zwei Maria, sondern tausend! Oder eins, das so ist wie tausend!“ (S. 254)

Interessant ist die Vermischung der Perspektiven: Meist erzählt die geschichtenverliebte, fantasiebegabte und sicher nicht immer zuverlässige Katerina in verträumter, farbiger Sprache, manches geht jedoch über das Wissen der Ich-Erzählerin hinaus. Daneben gibt es vereinzelt Tagebucheinträge einer weiteren, selbstverständlich ebenfalls weiblichen Person.

75 Jahre alt und keineswegs verstaubt
Ich habe Drei Sommer als erstaunlich modernen Klassiker über weibliche Möglichkeiten mit Vergnügen gelesen, bezaubert von der Atmosphäre griechischer Sommer und angesteckt von Katerinas Neugier.

Margarita Liberaki: Drei Sommer. Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger. Arche 2021
www.w1-media.de

2 Kommentare

  1. Hallo Barbara,
    da ich weiß, dass du deinen 5ten Stern niemals verschenkst, muss ich dieses Buch lesen. Ich habe mir jüngst vier männliche Entwicklungsromane zu Gemüte geführt – dieses riecht nach einem weiblichen Ausgleich…
    Dazu passend habe ich noch eine Verlosung entdeckt;)
    Drück mir mal die Daumen, vielleicht klappt es ja.
    Herzlichst, Sabine

    1. Liebe Sabine,
      ja, es ist in der Tat ein weiblicher Ausgleich! Ich lese in letzter Zeit sehr gerne moderne Klassiker wie diesen, dazu an einem fernen Ort… Hoffentlich klappt es!
      LG, Barbara

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