Maria Borrély: Mistral

  Allen Winden preisgegeben

Die Entdeckung eines Romans, der an einem liebgewordenen Urlaubsort nicht nur verfasst wurde, sondern dort auch spielt, weckt Emotionen. Der Übersetzerin Amelie Thoma, die ich für die Übertragung der Bücher von Leїla Slimani sehr schätze, erging es so mit dem 1929 verfassten schmalen Debütroman Sous le vent von Maria Borrély (1890 – 1963), der in deutscher Übersetzung von Walter Gerull-Kardas erstmals 1939 unter dem Titel Mistral erschien. Im informativen, ausführlichen Nachwort zu ihrer enger an den Originaltext angelehnten Neuübersetzung im Kanon Verlag berichtet Amelie Thoma, wie das 2009 vom südfranzösischen Kleinverlag Éditions Parole wiederaufgelegte Büchlein ihr in ihrem langjährigen Urlaubsort Puimoisson im Département Alpes-de-Haute-Provence zufällig in die Hände fiel, sie zunächst kaum Erwartungen hegte und dann überrascht war, ein echtes literarisches Kleinod zu finden. Ebenso begeistert waren lang vor ihr der mit dem Ehepaar Borrély befreundete provenzalische Schriftsteller Jean Giono und der spätere Literaturnobelpreisträger André Gide, die bei der Erstveröffentlichung 1930 im renommierten Verlag Gallimard unterstützten.

Puimoisson

Das Dorf breitet unter dem gleichförmigen Himmel die Blöße seiner rotblonden Dächer aus, lehnt sich zwischen Oliventerrassen, schmiegt sich an die vom Plateau abfallende Sonnenflanke.
Seine Füße baden in Wiesen und blühenden Obstgärten. (S. 13)

Winde aller Art, die Montagnère, der Levante, der Westwind mit Schönwetterwolken, der heiße Südwind, der regenbringende Zugwind, der Nordwind, aber vor allem der titelgebende Mistral, „wehen“, „heulen“, „rasen“, „wüten“, „zerren“, „brüllen“, „pfeifen“, „wummern“, „röcheln heißer“ und „beißen“ auf nahezu jeder der gut 100 Romanseiten. Sie fahren der jungen Marie Maurel, einem fröhlichen, hübschen jungen Bauernmädchen, „Glückskind“ und Stütze ihrer Eltern bei der Oliven-, Mandel- und Lavendelernte, beim Kochen und Nähen in die unbändigen, glänzenden Kraushaare und verwehen sogar die Schrift auf dem Cover des Buches. Manche Dörflerin treiben sie gar in den Wahnsinn:

Hier hat es immer mehr Frauen gegeben als anderswo, die im kritischen Alter den Verstand verlieren, die sich zu ihren Zeiten herumtreiben und sich aufführen.
Das ist der Wind. (S. 19)

© B. Busch

Liebesleid
Dass der Roman bei so viel bedrohlichem Szenario und bösen Vorzeichen kein gutes Ende nimmt, ist schnell zu erahnen. Ein unüberwindbarer Liebesschmerz macht das lebensfrohe, leidenschaftliche Mädchen zur menschenscheuen jungen Frau, die an ihren Zukunftsaussichten verzweifelt:

Die Arbeit der Frauen endet nie. Nichts Undankbareres als den Haushalt zu besorgen. Was man tut, bleibt unsichtbar. (S. 101)

Ansteckende Begeisterung
Außergewöhnlich macht Mistral nicht in erster Linie die von einer wahren Begebenheit inspirierte Handlung, sondern wie Maria Borrély sie in das dörfliche Leben, den arbeitsintensiven bäuerlichen Alltag, die launische Natur, die Wetterkapriolen und die Jahreszeiten einbettet. Die mal lakonisch knappe, mal ungewöhnlich üppige Sprache mit den Artikeln vor Personennamen ist sehr besonders, bedarf einer gewissen Gewöhnung und hätte mich bei einem umfangreicheren Buch vermutlich irgendwann genervt, so aber passt sie ganz vorzüglich. Maria Borrélys Welt erinnert in mancherlei Hinsicht an die des francophonen Schweizers Charles Ferdinand Ramuz (1878 – 1947) und seinen 1934 veröffentlichten Roman Derborence.

Angesteckt von Amelie Thomas Begeisterung hoffe ich nun auf weitere Neuübersetzungen der insgesamt fünf Romane von Maria Borrély. Es hat mir viel Freude gemacht, dieses Buch einer interessanten Frau, Reformpädagogin, Feministin, Kommunistin bzw. Sozialistin, Résistance-Kämpferin, Naturschützerin, Klimavisionärin und Literatin kennenzulernen.

Maria Borrély: Mistral. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma. Kanon 2023
kanon-verlag.de

2 Kommentare

  1. Wie schön, dass mich deine wunderbare Rezension davon überzeugt hat, das Buch lesen zu wollen. Ich war am Ende dann doch ebenfalls restlos begeistert davon.

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