Wider ein Tabu
Neige Sinno, die in ihrem autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger von ihrem Leben als Missbrauchsopfer berichtet, reflektiert darin eine interessante Frage: Ist man als Schriftsteller verpflichtet, über gewisse Erlebnisse zu schreiben? Muss der Auschwitz-Überlebende also über Auschwitz schreiben? Sie zitiert dazu eine amerikanische Kollegin:
Aber wenn man so was schon mal bei der Hand hat, wie Mary Karr über ihre eigene dysfunktionale Familie sagt, wäre es schade, nicht über dieses Thema zu schreiben. (S. 262)
Neige Sinno bestreitet jedoch die Funktion von Literatur als Therapie:
Sobald man über das Trauma reden kann, ist man bereits ein wenig gerettet. (S. 93)
Für die Überlebenden
Beide Zitate sind wie gemacht für den autofiktionalen Roman Von dem, der bleibt des 1966 geborenen Italieners Matteo B. Bianchi. Nur, weil er 1998 den Selbstmord seines Ex-Partners und das nie endende Danach erlebte, konnte ein Text mit einer so brennenden Intensität und der Trauer als Protagonist entstehen. 25 Jahre arbeitete er an diesem Roman, zunächst nur in Gedanken, später auf Papier, bis er bereit war, ihn 2023 in Italien zu veröffentlichen. Obwohl es, wie bei Neige Sinno, kein Happy End im üblichen Sinne geben kann, war sein Weg zur Rettung zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Abzulesen ist die Entwicklung an der plötzlichen sachlichen Distanz zu dem dramatischen Ereignis im letzten Fünftel des Romans, nachdem Matteo B. Bianchi seine Leserinnen und Leser zuvor so dicht wie nur irgend vorstellbar an seinen Schmerz herangelassen hat. Seine Motivation zur Veröffentlichung beschreibt er so:
Ich schreibe dieses Buch unter anderem, weil ich damals so ein Buch hätte lesen wollen, eines über den Schmerz derer, die zurückbleiben. (S. 124)
Ein Labyrinth aus Schmerz
Nur drei Monate nach dem Ende der siebenjährigen Beziehung zwischen den in jeder Hinsicht ungleichen Männern nahm sich A. im November 1998 das Leben. Fünf helle, zwei dunkle Jahre und eine unschöne Trennung lagen hinter ihnen. Als A. angeblich seine Besitztümer aus der ehemals gemeinsamen Wohnung holte, nahm er sich dort, wo jetzt nur noch der Autor wohnte, das Leben. Niemand hatte den Warnzeichen zuvor die nötige Beachtung geschenkt.
Matteo B. Bianchi zeigt den Schmerz in all seinen Facetten: Schock, Fassungslosigkeit, Zweifel, Verwirrung, Wut, Schuldgefühle, totale Vernichtung, Scham, grenzenlose Einsamkeit und Hilflosigkeit rundherum. Nichts, was er in seiner Verzweiflung versuchte, verschaffte ihm Erleichterung:
Es ist wie ein ständig brennendes Neonlicht. Die anderen können es ausschalten, du nicht. (S. 263)
Bis er eines Tages durch Willensstärke zurück ins Licht fand:
Der Moment war gekommen. Jetzt oder nie. Der Moment, mich zu retten. (S. 277)
„Ich setze dieses Buch aus Fragmenten zusammen, weil ich nichts anderes zur Verfügung habe.“ (S. 165)
Matteo B. Bianchi will nicht Chronist sein, sondern Literat, mit der Freiheit, Details zu verändern. Aus „Scherben“ setzt er die Zeit vor und nach dem Suizid zusammen, reflektiert aber auch den Prozess seines Schreibens.
Mich hat Von dem, der bleibt tief beeindruckt und bewegt: durch seine umwerfende Ehrlichkeit frei von Pathos und Effekthascherei und die Kraft seiner Sprache und Bilder, die Amelie Thoma perfekt ins Deutsche übertragen hat. Auch wenn Matteo B. Bianchi in erster Linie für andere Überlebende schreibt, geht das Thema bei über 10.000 Selbstmorden 2023 allein in Deutschland doch alle an. Ein echtes Lese-Highlight!
Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt. Aus dem Italienischen von Amelie Thoma. dtv 2024
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