Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Bittere Kinderschicksale

Das Mädchen mit dem Fingerhut macht bereits die Zuordnung zu einer literarischen Gattung schwer: ein kurzer Roman, eine Novelle, ein Märchen?

In Michael Köhlmeier neuestem Werk begleiten wir ein sechsjähriges, offensichtlich elternloses Mädchen, vielleicht ein unbegleitetes Flüchtlingskind, durch irgendeine Stadt in Westeuropa, vielleicht sogar zwei verschiedene. Zu Beginn hat es noch einen „Onkel“, der es jeden Morgen auf dem Markt absetzt und abends wieder abholt, doch eines Tages ist er verschwunden. Das Mädchen, das die Landessprache nicht spricht und so zur Sprachlosigkeit verurteilt ist, irrt durch die Stadt, wird in ein Heim gebracht und büxt von dort mit zwei älteren Jungen aus, von denen immerhin einer ihre Sprache spricht. Die Odyssee der drei Kinder ist ein nackter Kampf ums Überleben, gezeichnet von Hunger, Kälte, Krankheit, Regen, Schnee und Armut – direkt unter den Augen einer wohlhabenden Großstadtbevölkerung. Doch sobald die Kinder den Kopf gesenkt halten, sieht man durch sie hindurch. Dabei hat die Kleine, die nach einiger Zeit behauptet, Yiza zu heißen, noch einen Vorteil durch ihre Kindlichkeit und das hübsche, niedliche Aussehen. Man schenkt ihr einen Mantel, Handschuhe, eine Mütze, doch tragen das so ungleich verteilte Mitleid und die Hilfsbereitschaft stets Anzeichen von Egoismus des Gebenden und sind unweigerlich verbunden mit dem Verlust ihrer Freiheit.

Der auktoriale Erzähler bedient sich, passend zur Sprachlosigkeit der Kinder, eines einfachen Satzbaus, doch ist auch in dieser Beschränkung die Brillanz des Autors spürbar.

Die bittere Geschichte über Kinderschicksale ohne Perspektive hält uns einen Spiegel vor, ruft zum genaueren Hinschauen auf und lässt mich doch auch ratlos zurück.

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Hanser 2016
www.hanser-literaturverlage.de

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