Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

  Das Elimane-Puzzle

1968 gewann Yambo Ouologuem (1940 – 2017) aus Mali den Prix Renaudot für seinen Debütroman Le Devoir de violence und verschwand nach Plagiatsvorwürfen von der Bildfläche. Dieses Ereignis lieferte dem 1990 im Senegal geborenen Mohamed Mbougar Sarr die Anregung für seinen 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten vierten Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen.

Ein Kultbuch aus dem Nichts
Elimane Madag Diouf
, ein 1935 geborener Senegalese, kommt 1935 zum Studium nach Frankreich. 1938 veröffentlicht er unter dem Namen T.C. Elimane Das Labyrinth des Unmenschlichen, ein Kultbuch, das jedoch sowohl in den positiven als auch den negativen Pressestimmen auf die Herkunft und Hautfarbe des Autors reduziert wird. Als ein rassistischer Afrika-Ethnologe zudem Lügen verbreitet und ein Kritiker Plagiatsvorwürfe erhebt, verschwindet das Buch komplett vom Markt, der Verlag geht Pleite, Elimane verstummt und wird zur Legende.

Suche nach einem Fantom
2018
spielt der Zufall in Paris ein verbliebenes Exemplar in die Hände eines weiteren literarisch ambitionierten Senegalesen: Diégane Latyr Faye. Von nun an ist er von der Idee besessen, Elimanes weiteren Lebensweg zu rekonstruieren und das Rätsel um sein Schweigen zu lösen. Beharrlich sammelt er Puzzlesteine, zunächst im Pressearchiv, dann hauptsächlich mit Hilfe von Frauen aus Elimanes Umfeld: seiner Verwandten und ebenfalls senegalesischen Schriftstellerin Marème Siga D., seiner ehemaligen Verlegerin Thérèse Jacob, der Journalistin Brigitte Bollème und einer namenlosen haitianischen Dichterin.

© B. Busch

Keine Nebenbei-Lektüre
Mohamed Mbougar Sarr macht es seinem Publikum nicht leicht und verlangt durch die sprunghaften Erzählerwechsel, verschiedene Zeitebenen und Wechsel zwischen Kontinenten ein Höchstmaß an Konzentration. Im ersten Viertel des Romans hätte ich fast aufgegeben, so unübersichtlich schien mir die Polyphonie, so extravagant die Fremdwörter, deren Sinn sich mir manchmal nicht einmal beim Nachschlagen erschloss. Doch Durchhaltevermögen wird hier belohnt und das scheinbare Durcheinander zunehmend beherrschbarer. Die Identifikation der Stimmen und die Vielzahl der Nebenhandlungen und Einzelgeschichten machten mir zunehmend Spaß und die Tatsache, dass man kaum etwas über Das Labyrinth des Unmenschlichen erfährt, stattdessen nur über die ungeheure Wirkung auf die Leserinnen und Leser staunt, hat mich immer weniger gestört. Akzeptieren musste ich jedoch, dass mir garantiert viele Anspielungen und ironische Details verborgen blieben.

Gedanken, die über die Lektüre hinaus wirken
Außergewöhnlich an diesem Roman sind einerseits die deutlich unterscheidbaren Stimmen und das Feuerwerk aus unterschiedlichsten Textsorten wie Berichten, Tagebüchern, Pressemeldungen, Gesprächen, Briefen und mit „Biographem“ überschriebenen Abschnitten, andererseits der teils satirische Blick auf die Literaturwelt, die Darstellung des durch die Kolonisation zerrissenen Senegals und die Gedanken über die ganz besonderen Herausforderungen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem frankophonen Afrika. Das Dilemma beschreibt ein kongolesischer Kollege Diéganes so:

Er [Elimane] bewies, dass sein kulturelles Wissen alles umfasste, um als Weißer zu gelten; doch man hat ihn nur umso nachdrücklicher daran erinnert, dass er ein Schwarzer war. […] Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischster Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört. Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung. (S. 406)

Ein würdiger Preisträger, der das Handwerk des Erzählens ohne Frage beherrscht.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser 2022
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romanen auf diesem Blog:

2019
2016

 

 

 

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