Philipp Tingler: Schöne Seelen

„…denn wir sind nie, was wir scheinen.“

Ich muss zugeben, dass mir noch nie eine Rezension so schwergefallen ist
wie bei diesem Buch, da ich mich dem Text oft nicht gewachsen fühlte. Ob
das an meinem Intellekt oder am einfach völlig überzogenen Schreibstil
des Autors liegt, mögen andere beurteilen. Doch während mich der Roman
insgesamt einfach nicht fesseln konnte, war ich gleichzeitig versucht,
unzählige wirklich großartige, oft sehr humorvolle Sätze und Passagen
anzustreichen oder laut vorzulesen. Ich kann mir gut vorstellen, dass
Philipp Tingler ein hervorragender Kolumnist ist und ich seine Kolumnen
mit Freude lesen würde, aber für einen ganzen Roman war es mir einfach
zu viel.

Am besten hat mir das Anfangskapitel mit den letzten Stunden der
Millvina Van Runkle gefallen, die in einer Schweizer  Schönheitsklinik in
Anwesenheit des Schriftstellers Oskar Canow und einer unerträglichen
„Freundin“ wortreich ihr Leben aushaucht. Die bösartige Beschreibung
einer Gesellschaftsschicht, in der alle dieselben Anwälte, Friseure,
Psychotherapeuten und Dekorateure haben, alle das gleiche „alterslose,
leicht amorphe Einheitsgesicht“, das vom Schönheitschirurgen „kunstvoll
gelähmt“ wurde, und niemand ist, was er scheint, ist einfach herrlich zu
lesen. Auch die folgende Beerdigung, kunstvoll und bis ins Detail von
der Verstorbenen beim angesagtesten Dekorateur in Auftrag gegeben, bei
der man eine Unzahl von Angehörigen dieser Gesellschaftssphäre näher
kennenlernt, hat mich noch amüsiert. Die bösartige Vorstellung dieser
wie auf einer Theaterbühne nacheinander aufmarschierenden Figuren ist
äußerst unterhaltsam. Danach wurde es für mich jedoch immer zäher,
obwohl die Idee der Psychotherapie i. V., die der etwas inspirationslose
Schriftsteller Oskar Canow stellvertretend für seinen zu beschäftigten
Freund und Schwiegersohn Millvinas, Viktor Hasenclever, antritt,
eigentlich gut ist. Trotzdem habe ich mich durch das zweite Drittel des
Buches nur gequält. Erst der letzte Teil, in dem der Schwindel auffliegt
und der Psychotherapeut doch noch seine Qualitäten zeigen kann, war für
mich wieder ansprechender.

In einem auf dem hinteren Umschlag abgedruckten Zitat lobt der WDR
Philipp Tinglers „Ohr für Phrasen und hohles Geschwätz“ und seine
umwerfend rasanten und komischen Dialoge. Ich möchte da nicht
widersprechen, aber für mich sind 333 Seiten davon entschieden zu
viel…

Ein Lob geht aber wie immer an den Kein & Aber Verlag für die
hochwertige Ausstattung und Gestaltung dieses sehr gut in der Hand
liegenden Buches. Es ist schön, dass es mutige Verlage gibt, die Romane
abseits des Mainstreams in ihr Programm nehmen. Ich bin sicher, dass
es auch für dieses Buch ein Publikum gibt, nur gehöre ich eben nicht
dazu.

Philipp Tingler: Schöne Seelen. Kein & Aber 2015
keinundaber.ch

Chantal Schreiber: Plötzlich in Peru

 Nicht alles ist planbar

Elena hat genaue Pläne für ihr Leben nach dem Abitur, doch ihr Freund durchkreuzt sie. Aus Trotz handelt sie erstmals spontan und reist für drei Monate zu Sprachkurs, Sightseeing und Arbeit im Waisenhaus nach Peru.

Mit gemischten Gefühlen fliegt sie ab, verändert kehrt sie nach Wien heim. Nicht alle Eindrücke sind positiv, aber sie hat gelernt, dass nicht alles planbar ist, einen Freund fürs Leben und eine neue Liebe gefunden, im Waisenhaus viel Zuneigung erfahren und ein atemberaubendes Land kennen gelernt.

Für Mädchen ab 13 Jahre, die sich für fremde Länder und Kulturen interessieren.

Chantal Schreiber: Plötzlich in Peru. Planet girl 2011
www.thienemann-esslinger.de/planet

Mirjam Pressler: Wundertütentage

Offen sein für Neues

Der neunjährige Samuel ist ein zurückhaltender Junge, seiner Meinung nach in allem durchschnittlich. Er zieht sich ganz in seine Leidenschaft für das Käfersammeln zurück.

Als die Familie umzieht und die Mutter vorübergehend die Familie verlässt, gerät er aus dem Gleichgewicht. Doch die Schwester macht ihm Mut: „Manchmal ist ein Neubeginn wie eine  Wundertüte. Man weiß nicht, was drin ist.“ Langsam sucht Samuel den Weg aus seinem Eigenbrödlerdasein und findet Freunde.

Mirjam Pressler hat ein ungewöhnlich einfühlsames, ruhiges Kinderbuch geschrieben, das Kindern ab ca. neun Jahren Mut macht.

Mirjam Pressler: Wundertütentage. Beltz & Gelberg 2005
www.beltz.de

Gina Kaus: Die Schwestern Kleh

  Ein wiederentdeckter Klassiker

Heute zu Unrecht fast vergessen, war Gina Kaus in den 1920er-Jahren eine der meistgelesenen deutschsprachigen Autorinnen. Mit der Neuauflage ihres autobiografisch inspirierten Romans Die Schwestern Kleh in der leinengebundenen Reihe der edition fünf hat sich das geändert.

Geboren in Wien 1893 als Kind armer jüdischer Eltern, heiratete Gina Kaus jung in eine reiche Juweliersfamilie ein, wurde aber bereits im Ersten Weltkrieg Witwe. Während der 1920er-Jahre führte sie das verwegene Leben der „neuen Frau“, bezahlte dies jedoch mit einer lebenslangen Schlafmittelabhängigkeit. Die Schwestern Kleh musste 1933 bereits in Amsterdam erscheinen, da ihre Bücher in Deutschland verbrannt worden waren. 1938 floh sie vor den Nazis nach Hollywood, wo sie sich als Drehbuchautorin etablierte und 1985 starb.

Die Geschichte der sehr unterschiedlichen Schwestern Irene und Lotte Kleh aus einer Wiener Juweliersfamilie wird von der Gouvernante erzählt, die nach dem frühen Tod der Mutter ins Haus kommt. Während Irene eher still und unscheinbar ist und eine klassische Versorgungsehe anstrebt, ist die zwei Jahre jüngere Lotte hübsch, quirlig und unkonventionell und möchte Schauspielerin werden. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Irenes Bräutigam und Lotte sich bei der ersten Begegnung unhaltbar ineinander verlieben…

Dieser sehr empfehlenswerte, leicht zu lesende Klassiker ist einerseits ein elegant erzähltes, berührendes Liebesdrama, andererseits ein Panorama der Gesellschaft von der Jahrhundertwende bis zur Weltwirtschaftskrise.

Gina Kaus: Die Schwestern Kleh. Edition fünf 2013
www.editionfuenf.de

Gerd Ruge: Unterwegs

Erfreulich uneitle Erinnerungen

Abgesehen vom ersten Kapitel über seine Jugend im Dritten Reich beschränkt sich der bedeutende Journalist und Auslandskorrespondent Gerd Ruge auf politische Erinnerungen.

Diese aber umfassen die gesamte Weltgeschichte nach 1945, denn Ruge hatte, ausgestattet mit „Neugier und gesunden Beinen“, einen untrüglichen Riecher dafür, wo auf der Welt sich etwas tat, und war vor Ort. Er berichtete 1950 aus Jugoslawien, 1953/54 aus Korea, war in Moskau während Adenauers ersten Besuchs, in den USA als die Kennedys und Martin Luther King ermordet wurden, erlebte in China den Umbruch nach Maos Tod und wieder in Moskau den Wechsel zu Gorbatschow und dessen Entmachtung.

Über all das berichtet er so engagiert, anschaulich und uneitel, dass die Lektüre für Zeitzeugen wie Nachgeborene zu einer packenden Reise durch die Welt des kalten Krieges wird.

Gerd Ruge: Unterwegs. Hanser Berlin 2013
www.hanser-literaturverlage.de

Carl Oskar Renner: Der Müllner-Peter von Sachrang

 Ein moderner Klassiker

Beim Lesen hat man den Eindruck, Carl Oskar Renners bekanntester Roman könnte vor 100 Jahren geschrieben sein, doch mit seinen gerade einmal gut 40 Jahren ist er »nur« ein moderner Klassiker.

Der historische Müllner-Peter lebte von 1766 bis 1843 und war seiner Begabungen wegen zunächst für die Priesterausbildung vorgesehen. Diese brach er jedoch ab und kehrte als Müller in sein Heimatdorf Sachrang zurück. Nach anfänglichem Misstrauen der Mitbürger wurde er als Chirurg, Apotheker, Gemeindevorsteher und vor allem als Kirchenmusiker und Komponist ein hochgeachteter Mann.

Der Müllner-Peter von Sachrang ist ein Heimatroman im besten Sinn, der nicht nur die Biografie dieses interessanten Mannes aufgreift, sondern auch das Dorfleben im Chiemgau in der Zeit um die napoleonischen Kriege anschaulich schildert.

Carl Oskar Renner: Der Müllner-Peter von Sachrang. Rosenheimer Verlagshaus 2013
www.rosenheimer.com

Iwan Turgenjew: Erste Liebe

 Eine zeitlose Erzählung über die Verwirrung jugendlicher Gefühle

Iwan S. Turgenjew (1818 – 1883) entstammte einer russischen Adelsfamilie und gehörte zum Kreis der russischen Realisten. Ab 1855 lebte er vorwiegend im Ausland und war mit Flaubert, Mérimée und Storm befreundet. Während er in seinen Romanen ein Bild der zeitgenössischen Gesellschaft Russlands zeichnete (z. B. Väter und Söhne), wandte er sich in seinen Novellen allgemein menschlichen Themen zu.

In seiner 1860 entstandenen Novelle Erste Liebe  sitzen drei ältere Herren nach Mitternacht gemütlich beieinander. Jeder soll von seiner ersten Liebe berichten, doch nur einer hat wirklich etwas zu erzählen. Als 16-Jähriger, soeben dem letzten Erzieher entronnen, lernt Wladimir die fünf Jahre ältere Sinaida kennen, Tochter einer verarmten, heruntergekommenen Fürstin. Das schöne, kokette Mädchen umgibt sich mit einem Kreis unterschiedlichster Bewunderer, treibt mit jedem ihr Spiel, so auch mit ihm. Er durchleidet alle Seelenqualen, erlebt ein Wechselbad aus Verzweiflung und Glückseligkeit, bis er an Sinaidas verändertem Verhalten spürt, dass diese sich nun wirklich verliebt hat. Als er ihr nachspioniert, macht er eine schockierende Entdeckung …

Mit wenigen Worten und mit großer sprachlicher Meisterschaft skizziert Turgenjew seine Figuren und die Gefühlswelt eines Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden.

Iwan Turgenjew: Erste Liebe. Insel 2005
www.suhrkamp.de

Ingke Brodersen & Rüdiger Dammann: Mahlzeit

Gerichte als Geschichte

Sicherlich leuchtet Ihnen der Zusammenhang zwischen Gastarbeitern und Speiseeis oder Hamburgern und Übergewicht ein, aber wissen Sie auch, was Ravioli und die Emanzipation, Gummibärchen und das Godesberger Programm oder Makkaroni und alternative Kinderläden verbindet?

Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann ziehen in 60 Kapiteln zu 60 Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland je ein Gericht als „Zeitzeugen“ heran und vermitteln kenntnisreich und humorvoll Zeitskizzen und Hintergründe im hochwertigen Layout.

Ein etwas anderes Geschichtsbuch, das endgültig beweist, dass Essen und Trinken keineswegs nur der Nährstoffaufnahme dienen.

Ingke Brodersen & Rüdiger Dammann: Mahlzeit. DuMont 2009
www.dumont-buchverlag.de

Greta Hansen: Die Jahre ohne dich

 Flucht und Nachkriegsjahre in Deutschland

Das wird sich die Autorin Greta Hansen sicher nicht so vorgestellt haben, dass ihr Buch Die Jahre ohne dich, in dem es um die Spätfolgen von Flucht und Vertreibung nach dem Ende des 2. Weltkriegs geht, beim Erscheinen durch die aktuelle Flüchtlingswelle eine solche Aktualität bekommen würde! Und natürlich fragt man sich, wie viele ähnliche Schicksale sich im Moment abspielen.

Über den Inhalt des Buches kann man schwer erzählen, ohne bereits zu viel zu verraten. In den zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen stehen jeweils junge Frauen und ihr Lebensweg zwischen dem fünften und fünfundzwanzigsten Lebensjahr im Mittelpunkt.

Da ist einmal Elisabeth, die nach dem Krieg als Flüchtlingskind mit ihrer Mutter Marietta nach Hamburg gekommen ist. Obwohl die beiden eigentlich Glück haben und in Nikolaus Michelsen einen verständnisvollen Ehemann und Vater mit einem liebevollen Zuhause finden, erholt Marietta sich nie vom Trauma der Flucht und bleibt verschlossen und depressiv. Für Elisabeth dagegen ist Hamburg Heimat, Nikolaus Michelsen der Vater und sein Sägewerk am Elbufer ihr Lebensinhalt.

Ganz anders verläuft das Leben von Louise Fobienke. Kinderheime in Polen und dann in der DDR stehen für eine lieblose Kindheit, bis sie als Jugendliche doch noch verständnisvolle Pflegeeltern in West-Berlin findet.

Beide junge Frauen streben nach einem selbstbestimmten Leben, stoßen dabei aber immer wieder an die engen Grenzen, die Frauen in den 1960er-Jahren gesetzt waren. Gleichzeitig sind beide aber auch auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Und natürlich darf die Liebe nicht zu kurz kommen…

Mit Das Jahr ohne dich hat Greta Hansen einen weiteren gut recherchierten und zeitgeschichtlich hochinteressanten Roman geschrieben. Die Themen „Flucht“, „1950er- und 1960er-Jahre“ und „Emanzipation“ sind unterhaltsam in eine gut geschriebene, immer spannender werdende Geschichte verpackt und die Atmosphäre der Hafenstadt Hamburg ist sehr gut getroffen. Das Buch ist gleichermaßen zu empfehlen für die ältere Generation, die diese Zeit miterlebt hat, und für jüngere Leserinnen als Reise in die nahe Vergangenheit.

Greta Hansen: Die Jahre ohne dich. Piper 2015
www.piper.de

François Gantheret: Das Gedächtnis des Wassers

Eine Jugendliebe, ein Verbrechen und die Macht der Erinnerung

Dreißig Jahre sind vergangen, seit Pauls Jugendliebe Claire in seinem Heimatdorf in den Savoyer Alpen ermordet wurde. Die Dorfbewohner haben damals den Mantel des Schweigens über das Verbrechen gelegt.

Nun kehrt Paul, inzwischen Psychoanalytiker in Paris, in sein Heimatdorf zurück, um den elterlichen Hof zu verkaufen. Durch Zufall erfährt er, dass das Chalet von Claires Eltern ebenfalls verkauft werden soll und kann nicht widerstehen. Dort begegnet er Claires jüngerer Schwester, der Konzertpianistin Béatrice, die erst nach dem Verbrechen geboren wurde. Alle leiden auf ihre Art unter dem nie aufgeklärten Mord.

Das Gedächtnis des Wassers ist kein Krimi, sondern ein sehr dicht und poetisch erzählter kleiner Roman, bei dem jedes Wort richtig gewählt ist. Sehr eindringlich erzählt der Psychoanalytiker Gantheret, der in Frankreich  mit dem Prix Ulysse ausgezeichnet wurde, von Liebe und Tod, Schweigen und Verdrängen und der Macht der Erinnerung vor dem Hintergrund der alles beherrschenden Alpenlandschaft.

François Gantheret: Das Gedächtnis des Wassers. dtv 2012
www.dtv.de