Peter Härtling: Krücke

Die Geschichte einer großen Freundschaft

Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Wie viele andere Kinder hat auch der zwölfjährige Thomas beim Transport aus der Tschechoslowakei seine Mutter aus den Augen verloren. Bei Tante Wanda in Wien wollten sie sich wiedertreffen, aber als Thomas dort ankommt, gibt es das Haus Hellergasse 9 nicht mehr.

Zum Glück trifft Thomas Krücke, einen Kriegsinvaliden, der ihm Sicherheit gibt. Bei ihm und seiner jüdischen Freundin Bronka findet er für den Übergang ein neues Zuhause. Er lernt wieder lachen.

Doch dann heißt es Abschied nehmen von Bronka, Krücke fährt mit ihm nach Deutschland. Auf dem langen Transport im Güterwagen erleben sie ein Stück jener wirren Nachkriegszeit, in der es nur ums Überleben ging.

In Deutschland angekommen, müssen sie viermal innerhalb von acht Monaten ihr Quartier wechseln. Thomas ist glücklich bei Krücke, trotzdem vermisst er die Mutter schmerzlich. Aber eines Tages gelingt es Krücke, die Mutter zu finden, und nun heißt es wieder Abschied nehmen…

Krücke ist ein warmherziges und sehr einfühlsames Buch für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahre über eine große Freundschaft in einer schwierigen Zeit und angesichts der Flüchtlingsströme 2015 von großer Aktualität.

Peter Härtling: Krücke. Gulliver 2016
www.beltz.de

Susan Vreeland: Mädchen in Hyazinthblau

Die Zeitlosigkeit der Kunst

Acht Kapitel, acht Geschichten um ein fiktives Gemälde des Delfter Malers Vermeer, die man wahlweise auch in umgekehrter Reihenfolge lesen kann!

Susan Vreeland zeichnet die Geschichte des Bildes, das die Tochter des Malers im hyazinthblauen Kleid zeigt, und das Schicksal seiner Besitzer über 350 Jahre sehr lebendig nach. Ausgehend von seinem heutigen Eigentümer, einem New Yorker Mathematiklehrer, bis zu seiner Entstehung im 17. Jahrhundert führt uns jedes Kapitel weiter zurück. Dabei steht die stille Schönheit des Gemäldes, das alle in seinen Bann zieht, in krassem Gegensatz zur Dramatik im Schicksals seiner Besitzer, sei es während einer Deportation im Dritten Reich, während einer Flutkatastrophe oder während eines Hexenprozesses.

Jede Geschichte erzählt von einem Wendepunkt im Leben der Besitzer und immer spielt das Bild eine entscheidende Rolle.

Mich hat dieses kunstvoll komponierte Buch ebenso bezaubert wie das Gemälde über Jahrhunderte seine Betrachter.

Susan Vreeland: Mädchen in Hyazinthblau. Diana 2010
www.randomhouse.de

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band

Freundschaft und Liebe jenseits politischer und sozialer Grenzen

Alma, einziges Kind wohlhabender Eltern in Buenos Aires, besucht eine  katholische Privatschule. Die Wochenenden verbringt die Familie auf einer Insel außerhalb der Stadt. Dort lernt Alma die Geschwister Carmen und Marito kennen, die aus armen Verhältnissen stammen und ihre besten
Freunde werden. Doch je älter Alma wird, desto schwerer wird der Spagat zwischen den beiden Welten und schließlich begeht sie bei ihrer Geburtstagsfeier einen so großen Verrat an Carmen, dass sie ihre beste Freundin verliert. Auch Marito, in den sie sich inzwischen verliebt hat, sieht sie ein Jahr nicht wieder.

Als die beiden schließlich zueinander finden, versuchen ihre Eltern, die Beziehung zu verbieten. Doch was ihnen nicht gelingt, schafft schließlich die Politik, denn inzwischen herrschen in Argentinien die Militärs und Marito steht auf der anderen Seite.

Ein wunderbar poetisches, trauriges Buch für Mädchen ab 14 Jahren über Klassenunterschiede, wahre Freundschaft, erste Liebe und Erwachsenwerden im Schatten von Ungerechtigkeit, Feindseligkeit und Angst.

Für Jugendliche, die nichts über die argentinische Militärdiktatur wissen, sicher eine komplizierte Lektüre.

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band. Fischer 2013
www.fischerverlage.de

W. Somerset Maugham: Liza von Lambeth

Ein wacher Blick auf die Schattenseiten der Industrialisierung

Liza von Lambeth war William Somerset Maughams (1874 – 1965) erster Roman und der bescheidene Erfolg veranlasste ihn, seinen Beruf als Armenarzt in London im Alter von nur 23 Jahren aufzugeben, um sich fortan ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen.

Ort der Handlung ist die Londoner Vere-Street im Armen- und Arbeiterviertel Lambeth südlich der Themse, geprägt durch Armut, Gewalt und Alkohol. Dort lebt die 18-jährige Fabrikarbeiterin Liza, ein hübsches, selbstbewusstes und lebenslustiges Mädchen, bei ihrer verwitweten, alkoholabhängigen Mutter. Ihr Verehrer Tom ist ein solider, ehrlicher junger Mann, der ihr ein bescheidenes Leben bieten könnte, doch stattdessen verliebt Liza sich in einen älteren, verheirateten Familienvater aus dem Viertel. Auf eine kurze Phase des heimlichen Glücks folgt eine Tragödie.

W. Somerset Maugham schildert die Verhältnisse in einem Arbeiterslum um 1900 minutiös und unsentimental. Der Roman trug ihm beim Bürgertum viel Kritik ein, weil er einerseits die moralische Wertung dem Leser überließ und es andererseits als unpassend galt, die Welt der Arbeiter so naturalistisch abzubilden.

Ein gut zu lesender Roman, der aber weit von meinem absoluten Lieblingbuch Der bunte Schleier vom gleichen Autor entfernt ist.

W. Somerset Maugham: Liza von Lambeth. Diogenes 2005
www.diogenes.ch

Jürgen-Thomas Ernst: Vor hundert Jahren und einem Sommer

Aus Raum und Zeit gefallen

Würde ich es nicht besser wissen, so hätte ich darauf getippt, dass dieses Buch ein Klassiker ist, geschrieben vor mindestens hundert Jahren. Denn der Stil ist – im besten Sinne – altmodisch, die Sprache so blumig, die Landschafts- und Naturbeschreibungen so märchenhaft, wie ich es aus der aktuellen Literatur nicht kenne.

Wir begleiten Annemie in diesem Roman durch ihr Leben von der Geburt bis zu einem geschätzten Alter von etwa 40 Jahren. Geschätzt deshalb, weil es hier keinerlei Jahresangaben gibt, genauso wenig wie konkrete Ortsangaben, wodurch die Geschichte wie aus Raum und Zeit gefallen erscheint.

„Ein märchenhafter Entwicklungsroman“ schreibt der Verlag, wobei „märchenhaft“ sich eher auf den Stil als auf Annemies Leben bezieht, das für ein lediges Kind wie sie von Verleugnung und Armut geprägt ist. Obwohl sie mit ihren Zieheltern großes Glück hat, ist ihr Leben von Widrigkeiten und Tragödien durchsetzt. Erst als sie nach einer jahrelangen Odyssee ins Haus der Zieheltern zurückkehrt und dort ihren Ziehbruder Jonathan wiederfindet, scheinen ihr Ruhe und Glück beschieden. Beharrlich verfolgen sie ihr großes Projekt einer Kirschernte im Winter, doch der Krieg macht alle Pläne zunichte. Und trotzdem bleibt der Autor auch am Ende dem Märchenstil treu: Und wenn sie nicht gestorben sind…

Obwohl ich mir an einigen Stellen eine Straffung des Textes gewünscht hätte, da der Stil bei mir eine gewisse Ermüdung erzeugt hat, war die Lektüre dieses Romans ein Gewinn.

Jürgen-Thomas Ernst: Vor hundert Jahren und einem Sommer. Braumüller 2015
www.braumueller.at

Pnina Moet Kass: Echtzeit

Viele Perspektiven zum Nahostkonflikt

Jugendlichen, die sich für das aktuelle Geschehen im Nahen Osten interessieren, möchte ich diesen Roman über einen Terroranschlag empfehlen.

Der Aufbau des Buches ist mosaikartig und schildert den genauen Tagesablauf verschiedener Personen mit exakter Angabe der Uhrzeit.

Da ist zum einen Thomas, 16 Jahre alt und aus Berlin, der sich auf die Reise nach Israel macht, um dort in einem Kibbuz zu arbeiten und nebenbei die
Verstrickungen seines Großvaters in den Holocaust zu erforschen. Vera
Brodsky, eine junge Russin aus Odessa, arbeitet im Kibbuz, nachdem sie
einen Neuanfang in Israel gewagt hat, und macht sich auf den Weg zum
Flughafen, um Thomas abzuholen. Und dann ist da ein palästinensischer
Junge, der illegal bei einem Juden arbeitet und ein Attentat auf eben den Bus
plant, den Vera und Thomas nehmen werden.

Ein spannendes, realistisches, sehr nüchtern und sachlich geschriebenes
Jugendbuch, das den schweren Stoff ausgezeichnet aufarbeitet und für
Jugendliche ab ca. 14 Jahren bestens geeignet ist. Durch die kurzen
Passagen in Echtzeit und die vielen Perspektiven eignet es sich besonders
auch für alle, die eher weniger Romane und dafür lieber Sachbücher lesen.

Pnina Moet Kass: Echtzeit. Bloomsbury 2005
www.piper.de/berlin-verlag

Beryl Fletcher: Pixels Ahnen

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Alice Winter, geboren in den 1920er-Jahren in London als uneheliches Kind eines 15-jährigen Dienstmädchens, wird nach Jahren in einem unmenschlichen christlichen Waisenhaus 1935 als Hausangestellte nach Neuseeland verkauft.

Als alte Frau erzählt sie ihre Geschichte gegen Geld einer Sozialwissenschaftlerin, die solche Lebensberichte für ein angebliches Buchprojekt ihrer Auftraggeberin sammelt.

Nicht nur Alice hat das Leben hart mitgespielt, auch ihre Tochter Joy hadert mit ihrem Schicksal. Nie hat sie verwunden, dass man ihr nach ihrer Teenagerschwangerschaft die Tochter weggenommen hat, und auch nach über 30 Jahren sucht sie noch nach ihr.

Beryl Fletcher ist eine der bekanntesten Autorinnen Neuseelands. In Pixels Ahnen, das vor einigen Jahren schon einmal unter dem Titel So weit war das Land erschien, erzählt sie von der weiblichen Ahnenreihe einer Familie in fünf Generationen. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die Frage von Identität und Herkunft durch diesen spannenden, bewegenden, in der edition fünf wieder einmal wunderbar gestalteten Neuseeland-Roman.

Beryl Fletcher: Pixels Ahnen. Edition fünf 2012
www.editionfuenf.de

Chris Wormell: Drei dicke Freunde

Heute kommt etwas Großes auf mich zu…

Dass etwas Großes auf ihn zukommt, spürt der Lokführer eines Tages, denn es kribbelt in seinen großen Zehen. Und er irrt sich nicht, denn Frau Walross, Herr Bär und Frau Elefant möchten zum Einkaufen mit seinem kleinen Zug in die Stadt fahren.

Trotz seiner Zweifel kommen sie heil in die Stadt und sogar die vollen Einkaufstaschen finden auf dem Rückweg Platz. Fast wäre auch alles gut gegangen, aber dann krabbelt eine Biene in den Rüssel von Frau Elefant und sie muss ganz fürchterlich niesen …

Dieses Pappbilderbuch erzählt eine wunderbar einfache, spannende und lustige Geschichte für Kinder ab ca. 2,5 Jahren. Chris Wormell hat seine Bilder den kurzen, einfachen Texten perfekt angepasst. Alle zittern mit dem armen Lokführer um seinen schönen Zug und leiden mit ihm, bevor am Ende doch noch alles gut wird.

Chris Wormell: Drei dicke Freunde. Moritz 2015
www.moritzverlag.de

Sarah Moss: Wo Licht ist

Ein Frauenschicksal im viktorianischen England

Obwohl ich nicht ganz leicht in dieses Buch hineingekommen bin, hat es mich nach einer Weile immer mehr gefesselt und insgesamt begeistert. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die hervorragende Ausstattung und die besonders passende und gelungene Umschlaggestaltung, die das Buch zu einem echten Blickfang im Meer der Neuerscheinungen  macht.

Angesiedelt ist die Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im viktorianisch geprägten Großbritannien. Im Mittelpunkt steht Ally, älteste Tochter des Malers und Dekorationskünstlers Alfred Moberley und seiner christlich-fundamentalistischen Frau Elisabeth. Während sich deren Engagement zu Beginn des Romans noch auf Wohltätigkeit gegenüber Armen und vor allem Frauen beschränkt, wird sie mit den Jahren politischer, kämpft für die Emanzipation. Doch dieses durchaus zu begrüßende Engagement geht einher mit der Hochmütigkeit einer Besserwisserin, mit Verbissenheit, mit zur Schau gestellter Freudlosigkeit, mit Männerhass, mit einer unvorstellbaren Lieblosigkeit den eigenen Kindern gegenüber und mit der sowohl psychischen wie physischen Misshandlung Allys und ihrer jüngeren Schwester May unter dem Deckmantel der Religion.

Ally, die trotz aller Demütigungen versucht, die Achtung und Liebe ihrer Mutter zu erlangen, möchte auf deren Anregung und schließlich auch auf eigenen Wunsch hin Medizin studieren, ein in England damals nahezu unerreichbares Anliegen. Natürlich hofft man beim Lesen, dass sie ihr großes Ziel erreicht und eine der ersten approbierten Ärztinnen Englands werden kann, doch fast noch mehr habe ich ihr die Ablösung von der kalten, herrischen Mutter gewünscht. Ob sich diese Hoffnungen erfüllen, soll hier nicht verraten werden…

Den einzelnen Kapiteln, die zum Teil in großen Zeitsprüngen aufeinander folgen, sind jeweils sehr anschauliche und detaillierte Bildbeschreibungen von Gemälden Moberleys oder seines Freundes Aubrey West vorangestellt, die einen Vorgeschmack auf den folgenden Text geben.

Die 1975 in Schottland geborene Autorin Sarah Moss ist eine Meisterin der Charakterstudie und der Psychologie. Ihre Figuren wirken nie überzogen, die Entwicklungsschritte sind gut nachvollziehbar und die Schilderungen der historischen Zeitumstände empfand ich als ebenso informativ wie erschreckend.

Für mich ein Lesehighlight 2015.

Sarah Moss: Wo Licht ist. mare 2015
www.mare.de

Philipp Tingler: Schöne Seelen

„…denn wir sind nie, was wir scheinen.“

Ich muss zugeben, dass mir noch nie eine Rezension so schwergefallen ist
wie bei diesem Buch, da ich mich dem Text oft nicht gewachsen fühlte. Ob
das an meinem Intellekt oder am einfach völlig überzogenen Schreibstil
des Autors liegt, mögen andere beurteilen. Doch während mich der Roman
insgesamt einfach nicht fesseln konnte, war ich gleichzeitig versucht,
unzählige wirklich großartige, oft sehr humorvolle Sätze und Passagen
anzustreichen oder laut vorzulesen. Ich kann mir gut vorstellen, dass
Philipp Tingler ein hervorragender Kolumnist ist und ich seine Kolumnen
mit Freude lesen würde, aber für einen ganzen Roman war es mir einfach
zu viel.

Am besten hat mir das Anfangskapitel mit den letzten Stunden der
Millvina Van Runkle gefallen, die in einer Schweizer  Schönheitsklinik in
Anwesenheit des Schriftstellers Oskar Canow und einer unerträglichen
„Freundin“ wortreich ihr Leben aushaucht. Die bösartige Beschreibung
einer Gesellschaftsschicht, in der alle dieselben Anwälte, Friseure,
Psychotherapeuten und Dekorateure haben, alle das gleiche „alterslose,
leicht amorphe Einheitsgesicht“, das vom Schönheitschirurgen „kunstvoll
gelähmt“ wurde, und niemand ist, was er scheint, ist einfach herrlich zu
lesen. Auch die folgende Beerdigung, kunstvoll und bis ins Detail von
der Verstorbenen beim angesagtesten Dekorateur in Auftrag gegeben, bei
der man eine Unzahl von Angehörigen dieser Gesellschaftssphäre näher
kennenlernt, hat mich noch amüsiert. Die bösartige Vorstellung dieser
wie auf einer Theaterbühne nacheinander aufmarschierenden Figuren ist
äußerst unterhaltsam. Danach wurde es für mich jedoch immer zäher,
obwohl die Idee der Psychotherapie i. V., die der etwas inspirationslose
Schriftsteller Oskar Canow stellvertretend für seinen zu beschäftigten
Freund und Schwiegersohn Millvinas, Viktor Hasenclever, antritt,
eigentlich gut ist. Trotzdem habe ich mich durch das zweite Drittel des
Buches nur gequält. Erst der letzte Teil, in dem der Schwindel auffliegt
und der Psychotherapeut doch noch seine Qualitäten zeigen kann, war für
mich wieder ansprechender.

In einem auf dem hinteren Umschlag abgedruckten Zitat lobt der WDR
Philipp Tinglers „Ohr für Phrasen und hohles Geschwätz“ und seine
umwerfend rasanten und komischen Dialoge. Ich möchte da nicht
widersprechen, aber für mich sind 333 Seiten davon entschieden zu
viel…

Ein Lob geht aber wie immer an den Kein & Aber Verlag für die
hochwertige Ausstattung und Gestaltung dieses sehr gut in der Hand
liegenden Buches. Es ist schön, dass es mutige Verlage gibt, die Romane
abseits des Mainstreams in ihr Programm nehmen. Ich bin sicher, dass
es auch für dieses Buch ein Publikum gibt, nur gehöre ich eben nicht
dazu.

Philipp Tingler: Schöne Seelen. Kein & Aber 2015
keinundaber.ch