Aus Raum und Zeit gefallen
Würde ich es nicht besser wissen, so hätte ich darauf getippt, dass dieses Buch ein Klassiker ist, geschrieben vor mindestens hundert Jahren. Denn der Stil ist – im besten Sinne – altmodisch, die Sprache so blumig, die Landschafts- und Naturbeschreibungen so märchenhaft, wie ich es aus der aktuellen Literatur nicht kenne.
Wir begleiten Annemie in diesem Roman durch ihr Leben von der Geburt bis zu einem geschätzten Alter von etwa 40 Jahren. Geschätzt deshalb, weil es hier keinerlei Jahresangaben gibt, genauso wenig wie konkrete Ortsangaben, wodurch die Geschichte wie aus Raum und Zeit gefallen erscheint.
„Ein märchenhafter Entwicklungsroman“ schreibt der Verlag, wobei „märchenhaft“ sich eher auf den Stil als auf Annemies Leben bezieht, das für ein lediges Kind wie sie von Verleugnung und Armut geprägt ist. Obwohl sie mit ihren Zieheltern großes Glück hat, ist ihr Leben von Widrigkeiten und Tragödien durchsetzt. Erst als sie nach einer jahrelangen Odyssee ins Haus der Zieheltern zurückkehrt und dort ihren Ziehbruder Jonathan wiederfindet, scheinen ihr Ruhe und Glück beschieden. Beharrlich verfolgen sie ihr großes Projekt einer Kirschernte im Winter, doch der Krieg macht alle Pläne zunichte. Und trotzdem bleibt der Autor auch am Ende dem Märchenstil treu: Und wenn sie nicht gestorben sind…
Obwohl ich mir an einigen Stellen eine Straffung des Textes gewünscht hätte, da der Stil bei mir eine gewisse Ermüdung erzeugt hat, war die Lektüre dieses Romans ein Gewinn.
Jürgen-Thomas Ernst: Vor hundert Jahren und einem Sommer. Braumüller 2015
www.braumueller.at