Ryan Bartelmay: Voran, voran, immer weiter voran

Super Cover, aber leider enttäuschender Inhalt

Das Cover dieses Buches ist eines der gelungensten und passendsten Cover, die ich kenne. Denn auch wenn das Wort „voran“ drei Mal im Titel vorkommt, in Wirklichkeit geht es hier nicht oder kaum „voran“.

Der US-Amerikaner Ryan Bartelmay begleitet in seinem Debütroman zwei Brüder über fast ein halbes Jahrhundert zwischen 1950 und 1998. Traumatisiert durch den Selbstmord des depressiven Vaters und den Verlust der Mutter, die mit ihrem Liebhaber nach Florida durchgebrannt ist, wollen sie eigentlich beide nur eines: mehr aus ihrem Leben machen, eine intakte Familie gründen, ein Haus. Beide sind getrieben von ihrer Sehnsucht nach Liebe und Verlässlichkeit und gehen frühe Ehen ein. Doch während der ältere, Buddy, nach langen Schwierigkeiten und vielen Irrungen und Wirrungen schließlich sein Glück mit der Familie findet, bleibt Chic ein ewig Suchender, der in seinen schöngeredeten Erinnerungen verharrt. Dabei besteht immer wieder Grund zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Chic, doch das einzige Kind ertrinkt, der Swimmingpool bleibt unvollendet, seine Ehe wird trotz mancher Versuche von beiden Seiten nie erfüllend, die Dichterkarriere endet abrupt und auch seine vermutlich letzte Chance auf Glück lässt er ungenutzt verstreichen.

Nach der Leseprobe hatte ich große Erwartungen an das Buch, die sich dann aber leider nicht erfüllt haben. Obwohl ich Bücher mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln gerne mag, hat mich diese Technik hier nicht überzeugt, u.a. weil die sehr kurzen Kapitel zu wahllos aneinandergereiht waren. Während diese puzzleartige Anordnung sonst Spannung erzeugt und einen Roman belebt, habe ich sie hier als gewollt und nervend empfunden. Auch die Protagonisten sind mir im Laufe der 430 Seiten nicht nahe gekommen, ich habe nicht wirklich mit ihnen gelebt, mich nicht mit ihnen identifiziert oder mit ihnen gelitten, sie sind mir leider fremd und distanziert geblieben.

Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, sind die Vergleiche mit Richard Russo und v.a. John Williams. Weder erreicht Bartelmay Russos feinen Humor, noch gar Williams’ Tiefe.

Ryan Bartelmay: Voran, voran, immer weiter voran. Blessing 2015
www.randomhouse.de

Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod

Was heißt schon „sanft“?

Ein sanfter Tod ist das Protokoll Simone de Beauvoirs zum dreißig Tage währenden Todeskampf ihrer Mutter, aber zugleich auch ein Rückblick auf ihrer beider Leben und die Analyse ihrer Konflikte, die erst angesichts des nahen Todes allmählich aufgehoben werden.

Neben diesen ganz persönlichen Aspekten geht es aber auch um die Frage von Alter und Tod, um die Frage nach der Ehrlichkeit gegenüber dem Sterbenden in Bezug auf die Diagnose und die Grenzen der Medizin.

Die große französische Autorin schrieb das Buch 1964 nach dem Tod ihrer Mutter, um die eigene Erschütterung zu verarbeiten. Entstanden ist ein nach wie vor aktuelles Buch, das den Verfall eines Menschen im letzten Stadium einer Krebserkrankung bis ins kleinste Detail schildert und trotzdem nie peinlich wirkt. Ein Buch, das ich schon mehrmals gelesen habe und das mich immer wieder beeindruckt und berührt.

Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod. Rowohlt 1968
www.rowohlt.de

Tina Zang: Der Karatehamster legt los

Alarm im Hamsterstall

Nicht nur die Charaktere von Menschen, auch die von Hamstern sind sehr verschieden. Und so kracht es nicht nur in der Patchworkfamilie der 12-jährigen Kira zwischen ihr und ihrem „Zwangsbruder“ Heiko, sondern genauso im Hamsterstall. Auch dessen Bewohner leben in einer Zwangsgemeinschaft, trotzdem müssen sich der abenteuerlustige, karatebegeisterte Neo, der verfressene Chang und der philosophierende eingebildete Kranke Lee notgedrungen vertragen, denn sonst droht die Kastration …

Für Abwechslung im Hamsterleben sorgen Kira und ihr Freund Jan. So jagt das Trio u.a. in den verschiedenen Bänden der Reihe einen Brieftaschendieb, nimmt am Hamstercasting für „Nagi sucht den Superhamster“ teil und verliebt sich in die Hamsterdame Mariechen.

Tina Zangs Bücher mit dem Ich-erzählenden Karatehamster in der Hauptrolle stecken voller witziger Einfälle, Humor, Ironie und Spannung. Sie eigenen sich als Vorlesegeschichten ab fünf, zum Selberlesen ab acht Jahren.

Tina Zang: Der Karatehamster legt los. Ars Edition 2007
www.arsedition.de

Rainer Moritz: Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe

Eine Pariser Liebesgeschichte

In einem anonymen Mietshaus am Montmartre wohnen Nathalie, die französische Buchhändlerin mit einem Faible für alte französische Chansons und der deutsche Betriebswirtschaftler Robert, der in der Pariser Dependance einer Reutlinger Korkenfabrik arbeitet und Postkarten von Stillleben sammelt. Beide haben sich nach einer Enttäuschung in ihrem Singledasein eingerichtet, doch spürt man eine uneingestandene Sehnsucht. Trotzdem wären sie wohl nie über ein Kopfnicken hinausgekommen, wäre da nicht der Wasserrohrbruch in Nathalies Appartement, der ein wahres Gefühlschaos heraufbeschwört…

Rainer Moritz’ erster Roman ist eine leichte, bezaubernde Pariser Liebesgeschichte in genau der wunderbaren Sprache, die ich bei diesem Autor so liebe.

Rainer Moritz: Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe. Piper 2013
www.piper.de

Sadie Jones: Jahre wie diese

Ein Roman, der im Verlauf immer besser wird

Bis zur Hälfte des vierten Romans der 1967 geborenen Britin Sadie Jones hätte ich eine Bewertung mit 4 Sternen noch ausgeschlossen, aber dann hat mich das Buch doch noch gepackt und mir immer besser gefallen.

Luke, dessen Vater trinkt und dessen Mutter in einer psychiatrischen Einrichtung lebt, bricht 1972 aus dem Provinzleben und seinem langweiligen Bürojob aus, um in London Dramatiker zu werden. Die schnell gegründete Dreier-WG mit den ebenfalls vom Theater besessenen Freunden Paul und Leigh ordnet dem Traum von der Bühne alles unter. Doch als sich die ersten Erfolge einstellen, lernt Luke Nina kennen, Tochter einer erfolglosen, schwierigen Schauspieler-Mutter und inzwischen selber Schauspielerin, die die Fremdbestimmung durch die Mutter gegen eine unglückliche Ehe mit einem Produzenten eingetauscht hat. Und während Luke bisher eher unstet in seinen Beziehungen war, verfällt er der labilen Nina von einem Moment zum anderen und droht alles aufs Spiel zu setzen, was ihm wichtig ist: Freundschaft, Loyalität, Vertrauen und sogar seine Karriere.

Mit Hilfe von Rückblenden zeigt Sadie Jones, wie ihre Protagonisten durch ihr Elternhaus und ihre Erziehung geprägt wurden und wie dieser familiäre Hintergrund trotz aller äußerlichen Befreiung haften bleibt. Hier liegt für mich eine der Stärken des Romans, auch wenn diese Tatsache desillusioniert. Den größten Pluspunkt stellt für mich jedoch die Schilderung der Londoner Theaterwelt in den 1970er-Jahren dar, die Sadie Jones anschaulich und detaillreich beschreibt. Dagegen empfand ich das  Beziehungskarrussell der Hauptpersonen oft eher als langatmig und nervend, ein Weniger wäre hier mehr gewesen.

Ein Wort noch zur von der DVA gewählten Schrifttype. Bitte verwenden Sie diese nicht mehr für einen Roman. Sie sieht zwar modern aus, liest sich aber extrem schlecht. Ich konnte mich bis zum Schluss nicht daran gewöhnen und die ersten 200 Seiten hat sie mich regelrecht in meiner Konzentration gestört. Ich würde mir kein Buch mit dieser Schrifttype kaufen. Die Buchstaben sind sehr klein, sehr breit und teilweise auch unschön, wie z. B. „Q“.

Sadie Jones: Jahre wie diese. DVA 2015
www.randomhouse.de

Rolf Dobelli: Massimo Marini

Aufstieg und Fall

Als Säugling wird der kleine Massimo von seinen Eltern, Saisonarbeitern aus Süditalien, in die Schweiz eingeschmuggelt. Es dauert Jahre, bis die Familie offiziell als Familie in der Schweiz leben kann. Die Eltern bringen es von rechtlosen Fremdarbeitern zu einem eigenen Tunnelbauunternehmen, aber der Sohn rebelliert. Er beteiligt sich zu ihrem Entsetzen an den gewalttätigen Opernhauskrawallen, die 1980 die Schweiz erschüttern, und an den militanten Atomkraftprotesten in der Bundesrepublik. Erst nach dem Tod des Vaters kehrt Massimo zurück und übernimmt das erfolgreiche Familienunternehmen. Der Auftrag für den Gotthardtunnel und der Durchstich könnten sein größter Triumph sein, doch es wird sein Untergang.

Rolf Dobelli, Schweizer Schriftsteller und Max-Frisch-Verehrer, hat mit Massimo Marini den ersten Roman vorgelegt, der nicht ausschließlich in der ihm vertrauten Businesswelt spielt. Gekonnt verknüpft er die Geschichte der Migranten in der Schweiz, des Gotthardtunnelbaus und Aufstieg und Fall des Massimo Marini zu einem spannenden, temporeichen und leichtfüßig geschriebenen Roman. Definitiv einer meiner Favoriten unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren!

Rolf Dobelli: Massimo Marini. Diogenes 2012
www.diogenes.ch

Uwe Timm: Vogelweide

Wahlverwandtschaften oder Wie konnte es so weit kommen?

Schauplatz von Uwe Timms Roman Vogelweide, der es 2013 auf die Longlist zum deutschen Buchpreis schaffte, ist die kleine Sandinsel Scharnhörn in der Elbemündung, die ausschließlich bei Ebbe per Kutsche zu erreichen ist. Dort lebt nur ein Vogelwart, Christian Eschenbach. Bis vor sechs Jahren gehörte er zum gehobenen Berliner Bürgertum, hatte eine florierende Softwarefirma und eine Luxuswohnung am Zoo, eine polnische Dauerfreundin und eine Geliebte, Anna, die Frau seines Freundes Ewald.

Während Eschenbach auf den überraschend angekündigten Besuch von Anna wartet, die ihn damals zeitgleich mit der Insolvenz seiner Firma verlassen hat, rekapituliert er sein Leben.

Vogelweide ist ein melancholischer Roman um Ehe, Treue, Partnertausch, Begierde und Moral, gekonnt in der Balance gehalten zwischen altmodisch und aktuell und in der für Uwe Timm charakteristischen Puzzlemanier erzählt, die mich als großen Timm-Fan wieder einmal zugleich gefordert und fasziniert hat.

Uwe Timm: Vogelweide. Kiepenheuer & Witsch 2013
www.kiwi-verlag.de

Ulf Nilsson: Herz Schmerz

Unsterblich verliebt

Um große Gefühle ging es schon in seinem Kinderbuch Die besten Beerdigungen der Welt. Mit Herz Schmerz hat Ulf Nilsson zusammen mit der Illustratorin Lena Ellermann ein sensibles Buch zum Thema Liebe geschrieben, in dem die Gefühle des neunjährigen Ich-Erzählers mit allem Auf und Ab und seinen Hoffnungen und Enttäuschungen anrührend geschildert werden.

Der Junge ist in Britta aus der Sommerstraße verliebt, vielleicht schon sehr lange. Da die Auserwählte davon nichts weiß und der beste Freund Bengt zugleich der größte Rivale ist, scheint guter Rat teuer. Was immer er sich ausdenkt misslingt und als er Britta schließlich direkt anspricht, kassiert er eine Absage. Und so beschließen Bengt und er, dass sie der Liebe abschwören und sich für die nächsten 15 Jahre lieber mit Erfindungen beschäftigen wollen.

Ein einfühlsames Buch für Jungen ab ca. sieben Jahren, das aber sicherlich auch manches Mädchen interessieren wird und auf jeden Fall Erwachsenen viel Spaß macht.

Ulf Nilsson: Herz Schmerz. Moritz 2013
www.moritzverlag.de

Wiebke Eden: Die Zeit der roten Früchte

Eine Frau, die sich nicht in ein System pressen lässt

Ein Dorf bei Stettin 1939. Wenn die jüngeren Schwestern der Mutter helfen, sitzt die 20-jährige Greta lieber mit dem Vater vor dem Haus oder hilft ihm mit den Schafen. Der Vater, der schon früh Stellung gegen die neuen Machthaber bezieht, ist ihr Fels in der Brandung. Auch sonst ist Greta anders: Als sie nach einer kurzen Affäre schwanger wird, bringt sie ihr Kind lieber unehelich zur Welt, als einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Sie verliert ihre Anstellung in einem Ausflugslokal und wird hart mit den Zwängen der kleinbürgerlichen Moral konfrontiert. Erst als viele Männer in den Krieg ziehen, findet sie eine Anstellung als Straßenbahnschaffnerin und eine neue Liebe.

Wiebke Eden schreibt in einer reduzierten, kühlen Sprache fast ohne wörtliche Rede über eine Generation, die keine Jugend hatte. Greta bleibt weitgehend sprachlos, wenn es um ihre Gefühle geht, aber sie verfolgt mit einer beeindruckenden Hartnäckigkeit ihren Weg.

Wiebke Eden: Die Zeit der roten Früchte. Knaur 2010
www.droemer-knaur.de

Ian McEwan: Abbitte

Leben mit der Schuld

dengland 1935. Es ist ein unerträglich heißer Tag. Auf dem Landsitz der Familie Tallis beobachtet die 13-jährige, fantasiebegabte und zugleich kindlich überspannte Tochter Briony ihre ältere Schwester Cecilia mit Robbie Turner, dem Sohn einer Hausangestellten, zweimal in für sie unverständlichen Situationen. Schnell hat sie ihr Urteil gefällt: Robbie ist ein Psychopath, vor dem sie Cecilia beschützen muss. Als dann am Abend im Park ein Verbrechen geschieht, ist Briony überzeugt, den Täter nicht nur zu kennen, sondern ihn auch tatsächlich gesehen zu haben. Durch ihre Aussage löst sie eine Katastrophe aus und verändert das Leben aller Beteiligten so dramatisch, dass sie selber ein Leben lang unter ihrer Schuld zu leiden hat.

Für mich ist Abbitte Ian McEwan mit Abstand bester Roman, spannend und berührend, immer wieder mit Gewinn neu zu lesen. Auch die Verfilmung des englischen Regisseurs Joe Wright (Stolz und Vorurteil) mit Keira Knightley als Cecilia aus dem Jahr 2007 hat mir gut gefallen, erreicht aber die Tiefe des Buches bei weitem nicht.

Ian McEwan: Abbitte. Diogenes 2004
www.diogenes.ch