Giulia Caminito: Das große A

  Italien – Afrika und zurück

„Seit vielen Jahren ist Wagenbach der deutschsprachige Verlag mit den meisten Büchern aus und über Italien“, heißt es in der Broschüre, die dem erst 2024 übersetzten Debütroman Das große A von Giulia Caminito aus dem Jahr 2016 beiliegt. Zuvor erschienen von ihr auf Deutsch bereits Ein Tag wird kommen (2020) und Das Wasser des Sees ist niemals süß (2022), alle drei in Italien preisgekrönt. Die 1988 geborene Autorin gehört zur Delegation des Ehrengastlands Italien auf der Frankfurter Buchmesse 2024, das seine Literatur unter dem Motto Verwurzelt in der Zukunft präsentiert.

Giulia Caminito: Das große A. Collage: © B. Busch. Cover: © Wagenbach.

Der Traum von Afrika
Kein Wunder, dass sich die fantasiebegabte, sehr schmächtige Giadina, genannt Giada, während und nach dem Zweiten Weltkrieg weg aus dem Bombenhagel und vom Hunger im lombardischen Provinzstädtchen Legnano nahe Mailand wünscht. Ihre Sehnsucht gilt dem „Großen A“, Afrika, wo ihre Mutter Adele, männlicher Spitzname Adi, lebt, seit sie die Familie verlassen hat. In Assab in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, die seit 1941 Großbritannien untersteht, führt sie die Bar „Da Adi“. Ihre drei Kinder sind bei verschiedenen Familien untergebracht, Giada bei Adis liebloser faschistischer Schwester, die das Kostgeld unterschlägt.

Zum Jahreswechsel 1949/50 geht Giadas Wunsch endlich in Erfüllung: von Venedig aus fährt die inzwischen Siebzehnjährige ans Horn von Afrika:

Giada würde viele Dinge des großen A lieben. (S. 65)

Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert. (S. 67)

Caminito, Giulia: Das große A. Wagenbach 2024. Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Wagenbach.

Vom Mädchen zur Frau
Statt in einem gemütlichen Zimmerchen mit rosa Spitzengardinen für sich allein findet sich Giada in den Hinterzimmern der Bar wieder, in der sie abwechselnd mit der Mutter bedient. Unerträgliche Hitze, jahrelange Trockenheit, salzige Luft, das Nichts der Wüste, Staub, Dreck, Verwahrlosung, stechende Gerüche und kaum geselliges Leben – nichts davon hat sie erwartet. Aber es gibt auch den jungen Hamed, dem sie Lesen und Schreiben beibringt und mit dem sie lacht, ihre geliebte Gazelle Checco, die das Dasein als Haustier nicht lang überlebt, und schließlich den ebenso gutaussehenden wie unzuverlässigen und rastlosen Giacomo Colgada aus wohlhabender Familie in Asmara, der ihr Ehemann wird. An ihm, der nach Belieben auftaucht und verschwindet, und an seinen Eskapaden wächst Giadas Persönlichkeit in den folgenden Jahren, mit ihm geht sie nach Addis Abeba, Äthiopien, wo die Italiener ausgelassen ihr privilegiertes Leben genießen. Nichts hasst sie mehr, als Püppchen und Spielball zu sein, und für ihren Sohn Massi wird sie zur Löwenmutter. 1960, als das goldene Zeitalter für Italiener in Afrika endet, folgt sie ihrer Mutter, ihrem zweiten „Großen A“, ins fremd gewordene Italien nach Ravenna, ohne Gewissheit, ob Giacomo ihnen folgt.

Lesen mit allen Sinnen
Giulia Caminito hat sich bei ihrem Debüt für die Figur der Adele am Leben ihrer Urgroßmutter orientiert. Sie verbindet Themen wie Kolonialwesen, Faschismus, Rassismus, Auswanderung, Heimkehr und Fremdsein mit außergewöhnlich intensiven Naturschilderungen und den Lebenswegen zweier starker, zäher Frauen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten männlichen Machtansprüchen Grenzen setzen. All dies ist sehr gelungen, wenn auch nicht so außergewöhnlich wie die Erzählweise: sprunghaft, oft aufzählend, aneinanderreihend, vieles nur andeutend, schroff, springend, alle Sinne ansprechend – kurz: großartig, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.

Giulia Caminito: Das große A. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach 2024
www.wagenbach.de

Weitere Rezension zu einem Roman von Giulia Caminito auf diesem Blog:

Irma Nelles: Die Gräfin

  Aussteigerin im Watt

Im Wattenmeer vor der nordfriesischen Halbinsel Nordstrand liegt, neben vielen anderen Halligen, die Hallig Südfall. Von 1910 bis zu ihrem Tod 1953 gehörte sie der 1863 geborenen Diana Gräfin von Reventlow-Criminil, die dort als Aussteigerin auf der einzigen Warft zunächst sommers, später ganzjährig mit wenigen Bediensteten und ihren Tieren lebte. Bis heute erinnert man sich in Nordfriesland an die eigenwillige und mutige „Hallig-Gräfin“, die dem Luxus im holsteinischen Schloss Emkendorf und dem Umgang mit dem europäischen Hochadel zugunsten eines schlichten Lebens ohne Strom und fließendem Wasser entsagte. Die 1946 geborene und kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütromans Die Gräfin verstorbene Autorin Irma Nelles stammt von der Insel Nordstrand und ist mit den Erzählungen um die Hallig-Gräfin aufgewachsen.

Ein überraschendes Ereignis
Sechs Tage am Ende des Sommers 1944 umfasst der nur 169 Seiten starke Unterhaltungsroman, in dem die Autorin auf das Leben der inzwischen 80-jährigen Gräfin blickt. Nach der Rückeroberung von Paris durch die Alliierten hoffen Diana und ihre wenigen Vertrauten, die immer wieder Verfolgten zur Flucht verhelfen, auf ein rasches Kriegsende. Doch zuvor findet Diana im Watt einen abgestürzten Officer der Royal Airforce, John Philip Gunter, und dessen einmotoriges Aufklärungsflugzeug. Zusammen mit ihrem Kutscher und Hausmeister Knut Maschmann, ihrer jungen Haustochter Meta Olsen und dem aus Nordstrand herbeigerufenen Ärztepaar Käthe und Carl Braack kümmert sie sich um den Verletzten und versteckt ihn vor der Gestapo und ihren Helfern.

Irma Nelles: Die Gräfin. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Hanserblau

Verschenktes Potential
Das große Plus dieses Romans sind zweifellos die sehr atmosphärischen Beschreibungen der nordfriesischen Natur und des Hallig-Lebens. Da pfeift der Wind zwischen den Seiten, lebt man unter dem Diktat von Ebbe und Flut, blickt ängstlich auf die Sturmflut des Jahres 1936 zurück und sieht den „silbern flirrenden Horizont“ sowie die „nur wenige Zentimeter mit Wasser bedeckte Meeresfläche, in der sich der Himmel spiegelte, als wären sie eins“ (S. 17). Genau wie den plattdeutschen Gesprächsteilen merkt man auch den Einsprengseln über den Heimat- und Rungholt-Forscher Andreas Busch (1883 – 1972) oder den von den Nationalsozialisten als entartet gebrandmarkten Föhrer Maler Gustav Mennicke (1899 – 1988), der zeitweise in Südfall Schutz fand, die Verbundenheit der Autorin mit ihrer Heimat an. Leider erreicht jedoch weder die unspektakuläre Romanhandlung noch die sprachliche Umsetzung diese Qualität und der Einbau des zweifellos interessanten Hintergrundwissens wirkt oft gekünstelt. Besonders die häufig leblosen Dialoge, die weniger der Interaktion der Sprechenden als der Information der Leserinnen und Leser dienen, haben mir nicht gefallen. Immer wieder verliefen Andeutungen im Sand, ergaben sich für mich Lücken in der Logik oder widersprach sich der Text, beispielsweise wenn die Hauptperson zunächst den Pomp auf dem heimatlichen Schloss als Grund für ihren Rückzug anführt, wenig später jedoch die „wundervolle Zeit“ (S. 109) preist. Unglaubhaft auch, dass der vom Arzt ins Gipsbett Verbannte bei der Bergung des Flugzeugs hilft und eine Liebesnacht erlebt. Die Monologe Dianas über ihre Leben konnte ich schwer mit dem Bild der wortkargen Frau in Einklang bringen, auch wenn die unerwartete Begegnung sie sehr bewegt.

Bei einem anderen Finale hätte ich vielleicht über manches hinweggesehen, doch bleibt mir der überaus plötzliche Schluss mit jeder Menge loser Fäden ebenso rätselhaft wie der Prolog. Schade, denn mit dem guten Gespür der Autorin für friesische Atmosphäre und ihrer interessanten Protagonistin wäre mehr möglich gewesen.

Irma Nelles: Die Gräfin. Hanserblau 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanserblau

Ljuba Arnautović: Erste Töchter

  Wie viele Heimaten passen in einen Körper?

 

 

Das Schicksal der Familie Arnautović lässt an ein Schachspiel denken: Zuerst wird der Vater Karl auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte erbarmungslos herumgeschoben, dann degradiert er seine vier Ehefrauen und seine Kinder zu Schachfiguren, die er nach Belieben versetzt.

Schutzbundkinder
1934
wird der neunjährige Karl zusammen mit seinem älteren Bruder Slavko, Söhne österreichischer Sozialisten, als sogenanntes Schutzbundkind ins vermeintlich rettende Exil in die Sowjetunion geschleust. Auf gute Jahre folgen sowjetische Kinderheime, Leben auf der Straße und Jugendgefängnis, nachdem sie als Volksfeinde in Stalins Terrormühle geraten sind. Slavko kommt bereits 1942 um, Karl überlebt zehn Jahre im Gulag. Erst Ende 1955 kehrt er heim, wird nie wieder seine nächtlichen Geister los und kennt nur noch ein Ziel:

Nie wieder Opfer sein! (S. 11)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Foto: © B. Busch. Cover: © Zsolnay

Vier Ehen, sechs Kinder
Dafür wird er, der nur filterlos raucht, bis zu seinem Tod im Jahr 2000 viermal eine zu seinem jeweiligen Lebensabschnitt passende Frau heiraten: Die Russin Nina ist ihm nach der Freilassung aus dem Gulag nützlich und ist die Mutter seiner Töchter Luna und Lara. Erika, Slavkos Ex-Freundin, verhilft ihm in Wien zum Berufseinstieg und betreut die Töchter, die er der in Österreich hilflosen Nina entreißt. Dörte, die dritte und promovierte Ärztin aus gutem Haus, bringt vier Kinder zur Welt und verschafft ihm in München Zutritt in eine höhere Gesellschaftsschicht. Während der Ehe mit ihr nimmt er Luna und Lara zu sich nach München, schickt die rebellierende Lara jedoch bald zurück zu ihrer leiblichen Mutter Nina nach Wien. Ludmila, die späte vierte Ehefrau, ist wiederum Russin.

Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Schwestern Luna und Lara, die auf Karls Geheiß Orte, Schulen, Heime und Mütter wechseln und die er schließlich, als sie dreizehn und zehn Jahre alt sind, auseinanderreißt:

Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen in einem ihrer Lieblingsbücher, sogar ihre Vornamen beginnen mit einem L. […] Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben. (S. 51)

Wie unterschiedlich sich ihrer beider Leben entwickeln, sie sich entfremden und durch äußere Ereignisse schließlich wieder annähern, erzählt die 1954 in Kursk geborene, in Wien lebende Autorin Ljuba Arnautović in kurzen, zeitlich vor- und zurückspringenden Sequenzen. Nicht immer habe ich verstanden, warum über einzelne Ereignisse vergleichsweise ausführlich, über andere, in meinen Augen wichtigere, dagegen sehr verkürzt berichtet wird. Im Hintergrund läuft, soweit es für Lunas politische Entwicklung von Bedeutung ist, die Zeitgeschichte: Studentenunruhen, Konsumverweigerung, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, die RAF.

Dritter Teil einer Familiengeschichte
Erste Töchter
ist ein autofiktionaler Roman, vor allem in der Figur Lara betont die Autorin in ihrer Danksagung ausdrücklich die Fiktion. Leider wusste ich nicht, dass es zwei Vorgängerbände gibt: Im Verborgenen von 2018 über Karls Mutter Eva und Junischnee von 2021 über Karl. Obwohl der nur 155 Seiten starke Roman Erste Töchter in 39 Kapiteln viele biografische Splitter enthält, bleibt doch ohne Kenntnis der anderen Bände manches unklar, tauchen Personen ebenso unvermittelt auf, wie sie wieder verschwinden, was unbefriedigend ist und mir stellenweise unfertig erschien. Trotzdem hat sich für mich die Lektüre dieses sehr emotionslos und berichthaft geschriebenen Buches gelohnt: wegen eines mir bislang unbekannten Puzzleteils der Geschichte und einer Frau, die sich angesichts eines Besuchs bei der Großmutter in Kursk fragt:

Sie hat doch schon zwei Heimaten – wie viele passen in einen Körper? (S. 79)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Zsolnay 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder

  Rauschkind

 

Im oberösterreichischen Rosental, einem fiktiven Dorf nahe Wels, brennen in der Sommerhitze heißgelaufene Mähdrescher und Ballenpressen, fast als stünden die Felder in Flammen. Von den apokalyptischen Bildern bemerkt die Protagonistin Luisa Fischer zunächst nichts, kreisen ihre Gedanken doch beständig nur um eines: sie selbst.

Brennende Felder von Reinhold Kaiser-Mühlecker, 1982 in Oberösterreich geborener Bio-Landwirt und Schriftsteller, ist der dritte Roman um die drei Kinder der Bauernfamilie Fischer. Während der älteste Sohn, Alexander, aus Fremde Seele, dunkler Wald sich von den Eltern abwandte, übernahm der jüngere, Jakob, aus Wilderer den Hof. Luisa floh früh aus der Familie und dem Dorf. Zwei gescheiterte Ehen später, mit einer beachtlichen Liste verflossener Wohnorte, verlassener Liebhaber und zwei bei den Vätern in Göteborg und Kopenhagen zurückgebliebenen Kindern, lebt sie seit kurzem wieder in ihrem Heimatdorf. Neuer Lebenspartner ist ausgerechnet Robert/Bob Fischer, der Mann, den sie für ihren Vater hielt, bis die Mutter ihr bei einem Streit an ihrem fünfzehnten Geburtstag das Wort „Rauschkind“ entgegenschleuderte. Keinen Gedanken verschwendet Luisa an Mutter und Brüder. Erst spät fällt ihr auf, dass sie und Bob mit der riesigen Fensterfront der Villa lebten, „als wären sie die Hauptdarsteller einer sehr speziellen, noch nie dagewesenen und bizarren Realityshow“ (S. 137)

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder. Collage: © B. Busch. Cover: © S. Fischer

Ein wiederkehrendes Schema
Dabei befindet sich ihre Beziehung zu Bob am Beginn des Romans bereits in einer fortgeschrittenen Phase von Luisas Beziehungsschema: Anziehung – Alltagslangeweile – Ausstiegsphantasien – Abbruch – Abscheu. Das Ende ist nur eine Frage der Zeit und ernsthafter Alternativen, da löst sich das Problem auf höchst abenteuerliche Weise von selbst.

Wie immer dauert es nicht lange, bis sie den nächsten Kandidaten aufs Korn nimmt: Ferdinand Goldberger, allseits beliebter Ministerialbeamter im Landwirtschaftsministerium und Hofbesitzer in Rosental mit elfjährigem Sohn. Ein neues Spiel beginnt.

Zwischen Lachen und Weinen
Ich habe mich zu Beginn des Romans mit der mehr als speziellen Protagonistin und ihrer verqueren Selbstwahrnehmung gequält, gar zu überzogen erschienen mir ihr Charakter und die Ausgangslage. Sobald ich beides jedoch akzeptiert hatte, entwickelte Luisas ungebremster Gedankenstrom einen unerwarteten Sog und ließ mich schwanken zwischen Lachen über ihr völlig abstruses Selbstbild und ihre schriftstellerischen Ambitionen und Weinen über die verbrannte Erde, die sie rundherum und besonders bei ihren Kindern hinterlässt. Mag ihr auch unter den unsympathischen Figuren der Literatur ein Spitzenplatz zukommen, als Romanfigur ist sie dank ihrer manischen Selbstüberschätzung, Widersprüchlichkeit, Egomanie, Rücksichtslosigkeit und eingebildeten Opferrolle auf erschreckende Art interessant. Schade nur, dass ich ohne Kenntnis der beiden anderen Bände so gar kein Gefühl für Luisas Familie bekam, vielleicht hätte ich sonst besser verstanden, wie sie zu einer derartigen Person werden konnte. Geholfen haben mir dagegen die sporadisch in den unzuverlässigen Erzählstrom eingestreuten klarsichtigen Momente und die Urteile anderer:

War es nicht ungeheuerlich, dass Hjalmar damals gesagt hatte, sie sei gestört und solle sich in Behandlung begeben? (S. 314)

Brennende Felder ist ein Buch mit Leerstellen, die Raum für Spekulationen (oder einen Folgeband?) lassen. Nur als Randthemen schwingen die aktuelle Situation der Landwirtschaft oder Umweltproblematiken mit, weshalb es für mich kein typischer Dorf- oder Heimatroman ist. Vielmehr ist es die gekonnt geschriebene Geschichte einer krankhaften, sich beharrlich der Realität verweigernden und zunehmend gefährlichen Frau, der ich im wahren Leben niemals begegnen möchte.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder. S. Fischer 2024
www.fischerverlage.de

Interview mit der Übersetzerin Antje Subey-Cramer

Antje Subey-Cramer arbeitet nach einem Studium der Nordistik und Musikwissenschaft als freie Lektorin und Übersetzerin. Zum ersten Mal begegnete mir ihr Name als Übersetzerin des sehr empfehlenswerten Jugendbuchs „Battle“ von Maja Lunde aus dem Norwegischen. Inzwischen schätze ich sie vor allem für ihre hervorragenden Übersetzungen der Bücher des Norwegers Edvard Hoem. Drei Titel von ihm liegen mittlerweile in ihrer Übersetzung im Verlag Urachhaus vor: „Die Hebamme“ (2021), „Der Geigenbauer“ (2022) und „Der Heumacher“ (2024).

Im Herbst 2023 habe ich Antje Subey-Cramer bei einer Lesung von Edvard Hoem in Hamburg kennengelernt. Was sie mir über ihre Arbeit erzählt hat, war so interessant, dass ich sie nun um ein Interview für meinen Blog gebeten habe.

Antje Subey-Cramer. © privat

Liebe Frau Subey-Cramer, mit „Der Heumacher“ ist im Frühjahr 2024 schon der dritte Roman von Edvard Hoem in Ihrer Übersetzung erschienen. Worin liegt für Sie die Besonderheit dieses Autors?

Edvard Hoem verfügt über eine ganz eigene, besondere Sprache – schlicht und ungekünstelt. Dadurch treten die Beschreibungen der Figuren und der Landschaft klar hervor, ohne sprachliche Überfrachtung, trotzdem atmosphärisch dicht. Das verleiht seinen Geschichten eine besondere Authentizität.

In Norwegen gibt es zwei unterschiedliche Schriftsprachen, Nynorsk und Bokmål. Edvard Hoem schreibt im seltener genutzten Nynorsk. Welche Bedeutung hat das für seine Texte?

Nynorsk, eine Schriftsprache, die im Zuge der Nationalromantik Mitte des 19. Jahrhunderts aus den vielen west- und zentralnorwegischen Dialekten gebildet wurde (als Antwort auf das als „unnorwegisch“ und feiner geltende Bokmål, das ans Dänische angelehnt ist), gilt als ungekünstelt, direkt, als „Sprache des Volkes“. Insofern kann man vielleicht sagen, dass Nynorsk die sprachliche Form ist, die Edvard Hoems literarischer Sprache am besten entspricht und mit ihr sehr gut harmoniert. Letztlich liegt Nynorsk Edvard Hoem aber auch schlicht näher als Bokmål, denn dort, wo er aufgewachsen ist, ist Nynorsk die vorherrschende Schriftsprache.

Gibt es Besonderheiten in der norwegischen Sprache, die im Deutschen anders oder gar nicht funktionieren?

Das Gute (und manchmal auch das Gefährliche …) ist, dass die beiden Sprachen sich so ähnlich sind. Oft lese ich einen Satz und habe sofort die (für mein Empfinden!) adäquateste Entsprechung im Ohr. Schwierig zu übersetzen sind endlose Schachtelsätze, die man beim Lesen des norwegischen Originals überhaupt nicht als solche empfindet. Würde man sie aber eins zu eins übersetzen (also zum Beispiel eine lange Reihung von Relativsätzen übernehmen), wird der Zieltext nicht nur unübersichtlich und schwer verständlich, sondern auch schwerfällig und holprig zu lesen. Hier muss man oft eingreifen und die Sätze trennen.

Edvard Hoem nutzt oft ein sehr spezielles, auch älteres Vokabular, ich denke beispielsweise an die Fachbegriffe zum Geigenbau oder zum Heumachen. Nutzen Sie dafür auch speziell alte Wörterbücher? Und wie gehen Sie vor, wenn Sie keine Übersetzung finden?

Ich verwende tatsächlich verschiedene Wörterbücher, und zwar nicht nur norwegisch-deutsche (bzw. Bokmål-Deutsch oder Nynorsk-Deutsch). Wichtig sind für mich auch die Wörterbücher, die die Herkunft und Bedeutung alter Begriffe erklären – sowohl im Norwegischen als auch im Deutschen. Zum Glück gibt es mittlerweile die Möglichkeit, manche dieser Wörterbücher im Internet abzurufen. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“, DWDS (der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute), ist eine große Hilfe, wenn man versucht, Entsprechungen für ein Wort zu finden, das eine Figur in einer bestimmten Zeit gebraucht haben könnte. Da ist meine Frage oft: Kann die Figur dieses Wort schon gekannt haben, oder ist es zu neu? Wenn ich nicht ganz sicher bin, was ich mir unter einem Begriff vorstellen soll (weil er so alt ist und ich keine zufriedenstellende Übersetzung finde), dann lese ich auch gerne im „Store norske leksikon“ nach. Hier findet man hilfreiche Informationen zur Etymologie und zur Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Abgesehen von den Wörterbüchern, die im Internet zur Verfügung gestellt werden, benutze ich im Übrigen auch die Möglichkeit, Bibelübersetzungen aus verschiedenen Zeiten im Internet einzusehen. Das ist besonders bei den Romanen von Edvard Hoem hilfreich, der sich häufig auf Bibelstellen bezieht oder Figuren aus der Bibel zitieren lässt. Wenn der Roman im 19. Jahrhundert spielt, kann ich natürlich nicht die Revision der Lutherbibel von 1984 verwenden …

Haben Sie vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zum Autor?

Ich habe meist gegen Ende der Übersetzung Kontakt zum Autor, wenn sich ein paar Fragen angesammelt haben. Die Besonderheit bei Edvard Hoem ist, dass er selbst sehr gut Deutsch spricht und meinen Text liest, bevor dieser in den Druck geht. In diesem Stadium kommen wir häufig noch einmal über den einen oder anderen Punkt ins Gespräch. Zum Beispiel fragte er mich, warum ich prest nicht mit „Pfarrer“, sondern mit „Pastor“ übersetzt habe. Dass der Begriff „Pastor“ im Deutschen ganz eindeutig auf einen evangelischen Geistlichen hinweist, der Begriff „Pfarrer“ dagegen sowohl für katholische als auch evangelische Geistliche benutzt werden kann, war ihm neu. Und ein-, zweimal sind ihm auch Übersetzungsfehler aufgefallen – dafür war ich dann sehr dankbar.

Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?

Ich lese die Bücher auf jeden Fall vorher und entdecke dabei schon die eine oder andere „Klippe“, die es eventuell zu umschiffen gilt. Dann mache ich mir Notizen am Rand, manchmal schon mit konkreten Lösungsideen. Das Interessante ist, dass ich beim Übersetzen häufig wieder zu ganz anderen Lösungen gelange, die sich erst im Fluss des Übersetzens ergeben und sich viel organischer einfügen als die erste Idee.

Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kultureller Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?

Die von Ihnen beschriebene Balance finde ich letztendlich durch das genaue Hören auf den Text. Für mich ist es immer ein langsames Herantasten an die je eigene Sprache des Buches, die je eigene Sprache des Autors. Es dauert manchmal eine Zeit, bis sich das Gefühl einstellt, dass man den Ton des Buches trifft. Das ist dann allerdings ein großartiges und sehr befriedigendes Erlebnis! Weil sich dieses Gefühl nicht immer sofort einstellt, habe ich Bücher auch schon mal in der Mitte angefangen zu übersetzen, um dann, wenn ich dort wieder angelangt war, noch einmal zu überprüfen, ob der Übergang „passte“. An die Rohübersetzung, also den ersten Durchgang, schließt sich ja dann noch ein zweiter Durchgang an, in dem ich mich sozusagen selbst lektoriere. Da fallen einem dann z.B. die Stellen auf, die sich nicht flüssig lesen lassen.

In Norwegen gibt es zahlreiche bisher noch nicht ins Deutsche übersetzte Romane von Edvard Hoem. Können wir uns auf weitere Übersetzungen von Ihnen freuen? Was plant der Verlag Urachhaus?

Zurzeit arbeite ich an der Übersetzung des Romans „Husjomfru“, also „Die Hausmamsell“. Hauptfigur ist Julie Hoem, die jüngste Tochter des Geigenbauers. Mit diesem Buch über eine seiner Ahninnen nimmt uns Edvard Hoem wieder mit in die Vergangenheit Norwegens. Wir tauchen ein in die Lebenswelt einer privilegierten Hausangestellten in Bergen Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts und lernen dabei ihre Sehnsüchte und Ziele, ihre Gedanken und Träume kennen.

Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?

Mir persönlich genügt es vollkommen, im Innenteil des Buches genannt zu werden. Für mich besteht ein großer Unterschied zwischen der Kreativität literarischen Schreibens und der des literarischen Übersetzens. Als Übersetzerin beziehe ich mich auf einen bereits vorliegenden Text, ich reagiere darauf. Anders der Autor, der vor dem leeren weißen Blatt sitzt und quasi aus dem Nichts bzw. aus sich allein schöpft. Letzteres bewundere ich zutiefst und könnte es mir für mich selbst nicht vorstellen. Trotzdem bin ich manchmal belustigt, wenn sich Leser und Leserinnen so gar keine Gedanken darüber machen, wie eine Übersetzung zustande kommt. Bei unbedarften Lesern herrscht ja nicht selten die Meinung, es gäbe nur „die eine“, sogar „richtige“ Übersetzung (und damit ist dann häufig gemeint: die wörtliche).

In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?

Nein, ich nutze KI nicht, und mir fehlt zurzeit auch die Fantasie, wie qualitativ hochwertiges literarisches Übersetzen durch KI geleistet werden könnte. Ich spreche hier natürlich nicht von qualitativ mittelmäßiges Übertragungen – die kann KI selbstverständlich generieren. Aber wenn ich an die Vielzahl von Synonymen denke, die mir zum Teil bei der Übersetzung eines Begriffs zur Verfügung stehen, und sehe, welche Überlegungen ich zugrunde lege, bevor ich mich für genau eines dieser Synonyme entscheide, weil es in meinen Augen der Sprache des Autors oder dem Lesefluss an dieser Stelle des Textes am gerechtesten wird, dann kann ich mir den Einsatz von KI tatsächlich nicht vorstellen.

Es gibt ja schon Anfragen von Verlagen, ob man als Übersetzer bzw. als Übersetzerin einen KI-generierten Text „überarbeiten“ könne – da wird dann natürlich kein Übersetzerhonorar gezahlt, sondern ein Lektoratshonorar. Ein solches Angebot finde ich unverschämt, und ich würde es in jedem Fall ablehnen.

Im August ist das Buch „Kindermärchen aus aller Welt“ erschienen, ein Vorlesebuch für Kinder ab fünf Jahren im Oetinger Verlag, das Sie herausgeben. Können Sie etwas darüber erzählen? Wie kam es zu der Idee und wie haben Sie die Auswahl getroffen?

Ja, das stimmt, allerdings erscheint dieses Buch bereits in zweiter Auflage – die erste ist aus dem Jahr 2019, insofern freut es mich sehr, dass der Verlag dieses Buch jetzt mit neuem Einband wieder herausbringt. Bevor ich mit dem Übersetzen angefangen habe, war ich als Lektorin tätig – zuerst festangestellt in einem Kinderbuchverlag, danach freiberuflich. Während dieser Zeit bekam ich den Auftrag, eine Märchensammlung zusammenzustellen. Das hat mich sehr gefreut, weil ich als Kind so gerne Märchen gelesen habe. Ich habe dann mithilfe vieler (zum Teil auch sehr alter) Bücher und Märchensammlungen Geschichten ausgesucht, die ich für Kinder geeignet fand und die zudem die vielfältigen Erzähltraditionen widerspiegeln, die es in verschiedenen Ländern gibt. Und meine Lieblingsmärchen sind natürlich dabei, zum Beispiel „Das Feuerzeug“ von H. C. Andersen.

Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!

 

Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Antje Subey-Cramer auf diesem Blog:

    Hoem  

Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer

  Irrungen, Wirrungen

Die Verschickung von Kindern zum Schutz vor gegnerischen Bombenangriff gab es im Zweiten Weltkrieg nicht nur in Nazideutschland. Während aber deutsche Schulkinder und Mütter mit Kleinkindern ab Oktober 1940 lediglich aus den vom Luftkrieg bedrohten Städten in weniger gefährdeten Gebieten im Deutschen Reich untergebracht wurden, schickten britische Eltern bis zu einem deutschen U-Boot-Angriff auf ein Transportschiff am 18. September 1940 mit 77 toten Kindern ihre sogar nach Amerika.

Zwischen zwei Welten
Dies ist die spannende Ausgangssituation im Debütroman Und dahinter das Meer der 1959 geborenen US-Amerikanerin Laura Spence-Ash. Ab dem Sommer 1940 liegt zwischen der elfjährigen Arbeitertochter Beatrix Thompson aus London und ihren Eltern ein Ozean, weil ihr Vater es zu ihrem Schutz so will. In Boston wartet auf die zunächst wütende und verängstigte Beatrix, die künftig Bea genannt wird, ein überaus freundlicher Empfang: Mutter Nancy Gregory hat sich seit langem eine Tochter gewünscht, Vater Ethan ist ihr nach anfänglichen Zweifeln schnell zugetan und für die Söhne William und Gerald, 13 Jahre bzw. 9 Jahre alt, wird sie zur Schwester, die das Leben der Familie positiv verändert. Beatrix selbst fühlt sich im lichtdurchfluteten großen Haus der Gregorys und vor allem auf der Sommerinsel vor der Küste von Maine wie ihr Idol Prinzessin Margret. Da sowohl ihre Eltern als auch sie selbst in ihren Briefen zum Schutz des jeweils anderen nicht die Wahrheit schreiben, wird die Entfremdung schnell größer:

Dieser Ozean, in dem sie jetzt schwimmt, und der sie voneinander trennt, ist während des vergangenen Jahres breiter geworden. (S. 67)

Abendstimmung in Maine. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare

Umso schwerer für alle, als Beatrix pflichtbewusst im August 1945 nach einer Zeit der Ungewissheit überstürzt nach London zurückkehren muss, zumal William und sie inzwischen heimlich mehr als nur Geschwister sind. Schwierig gestaltet sich nach der Rückkehr das Verhältnis zu ihrer Mutter Millie, die nie mit ihrer Trauer über den Verlust der Tochter zurechtkam, immer Neid auf die Gregorys verspürte und nun am liebsten Beatrix‘ Erinnerungen an die fünf Jahre in der Ferne auslöschen würde.

Alles strebt Richtung Happy End
So interessant die Thematik dieses Romans ist, so hätte ich mir, vor allem in der zweiten Hälfte, eine andere Fokussierung gewünscht. Sehr schön erzählt Laura Spence-Ash von Beatrix‘ Ankommen und Auftauen bei den Gregorys und besonders von den Familiensommern auf der Insel. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt zunehmend auf Nebenhandlungen und die Liebesgeschichte, bei der sich meine sehr frühe Ahnung trotz mancher Irrungen und Wirrungen genau bestätigte. Dafür bleiben in der eigentlich gekonnt mit großen Zeitsprüngen von 1940 bis 1977 konzipierten Handlung wichtige Ereignisse wie Beatrix‘ Rückkehr nach London ausgespart. In sehr kurzen, einen Lesesog erzeugenden Abschnitten wird personal aus der Sicht acht verschiedener Akteure erzählt, mit der Folge, dass ich keinem von ihnen richtig nahekam, nicht einmal Beatrix. Schade außerdem, dass Konflikte, Gefühle und Charakteränderungen mehr beschrieben als durch die Handlung gezeigt werden, was sie für mich leider oftmals nicht nachvollziehbar machte.

Auch wenn der Roman bei mir deshalb nicht wie gewünscht funktioniert hat: Für alle, die einen sommerlichen Liebesroman mit viel Wohlfühlatmosphäre suchen, dürfte Und dahinter das Meer eine passende Empfehlung sein.

Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann. mare 2024
www.mare.de

Daniela Krien: Mein drittes Leben

  Der schmale Grat

 

Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenkräder, sogenannte Ghostbikes, am Straßenrand. Hinter jedem Opfer stehen trauernde Angehörige, manche Hinterbliebenenfamilien zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.

Gefangene der Todessekunde
Auch die Ehe der Mittvierzigerin und Ich-Erzählerin Linda hält der unterschiedlich gelebten Trauer nicht Stand. Waren sie und ihr Mann Richard nach dem Unfalltod ihres einzigen gemeinsamen Kindes, der 17-jährigen Sonja, zunächst gleichermaßen „Gefangene jener Todessekunde“ (S. 97), begann Richard sich allmählich zu befreien:

Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb. (S. 14)

Foto: © A. Schütz. Collage: © B. Busch. Cover: © Diogenes

Linda dagegen konnte und wollte den Schmerz nicht loslassen. Nach überstandenem Schilddrüsenkrebs ließ sie ihren fassungslosen Mann in der Leipziger Wohnung zurück und zog etwa zwei Jahre nach Sonjas Tod allein in einen halbverfallenen, 40 Autominuten entfernten Dreiseithof am Rande eines unansehnlichen Straßendorfs, wo es keine „Erinnerungsfallen“ (S. 24) gibt:

Das Niemandsland zwischen Leben und Tod, das ich bewohne, spiegelt sich in der Landschaft wider und verschmilzt mit ihr. Die Schönheit hat hier kein Recht. (S. 82)

Hier lebt die ehemals erfolgreiche Kunstkuratorin und überzeugte Städterin zu Beginn des Romans Mein drittes Leben seit zwei Jahren alleine mit einer Hündin und Hühnern. Nach Abbruch fast aller Brücken besuchen sie nur noch die neue Bekannte Natascha mit ihrer schwerbehinderten Tochter Nine und 14-tägig Richard, den sie trotz allem noch liebt. Doch nun ist dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerbrochen, seine Geduld aufgebraucht. Mit der Schriftstellerin Brida Lichtblau scheint für ihn ein Neubeginn möglich. Natascha erklärt es Linda so:

Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen. (S. 71)

© B. Busch. Cover: © Diogenes

Jedes Wort am richtigen Platz
Mein drittes Leben ist das fünfte Buch der 1975 geborenen, in Leipzig lebenden Autorin Daniela Krien. Während ich zwei ihrer früheren Romane, Die Liebe im Ernstfall und Der Brand, mit kleinen Abstrichen gerne gelesen habe, hat mir dieser neueste sensationell gut gefallen. Wie sie den Absturz ihrer Protagonistin haarscharf beobachtend begleitet, einfühlsam und doch gänzlich ohne Kitsch Worte für das Unsagbare findet, ist überragend. Ebenso gelungen sind die zaghaften Anzeichen der Wende nach überschrittenem Tiefpunkt, über die Linda selbst am meisten staunt:

Das Überraschende daran ist, dass ich überhaupt eine Zukunft sehe. (S. 279)

Mit glasklaren Formulierungen erfasst Daniela Krien alle Zwischentöne dieser vier Jahre währenden Entwicklung, spiegelt sie am Wechsel der Jahreszeiten und in der Natur und macht aus dem schwierigen Stoff ein überraschend gut lesbares Buch, akribisch recherchiert bis in medizinische Details. Viele der Nebenhandlungen haben Potential für weitere Geschichten, bisweilen lassen sich Parallelen zum Leben der Autorin ausmachen. Kein Wunder, wenn man der Schriftstellerin Brida Lichtblau, die schon in Die Liebe im Ernstfall eine tragende Rolle spielte, glaubt:

Alle Schriftsteller tun das. Wir beuten unser eigenes Leben und auch das Leben der anderen aus. (S. 246)

Mein drittes Leben von Daniela Krien war neben Lichtungen von Iris Wolff und Maifliegenzeit von Matthias Jüngler mein Favorit für den Deutschen Buchpreis 2024 und steht nun erfreulicherweise tatsächlich auf der Longlist. Ich drücke fest die Daumen!

Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Daniela Krien auf diesem Blog:

 

Leonardo Padura: Anständige Leute

  In den Straßen von Havanna

Einmal mehr hatte sich bewahrheitet, dass Gerechtigkeit zwar nötig, deshalb aber noch lange nicht gerecht ist. (S. 391)

 

Anständige Leute ist der zehnte (Kriminal-) Roman um den Ex-Polizisten Mario Conde des 1955 geborenen kubanischen Erfolgsautors Leonardo Padura. Nach Band sechs, Die Nebel von gestern, war es für mich die zweite Begegnung mit dieser Serien, deren Bände man problemlos auch unabhängig voneinander mit Genuss lesen und verstehen kann.

Zweigeteilte Handlung
Der inzwischen 62-jährige Mario Conde war nur zehn Jahre Polizist, bevor er vor fast 30 Jahren den Dienst aus moralischen Bedenken quittierte. Trotzdem hat ihn sein kriminalistischer Spürsinn nie verlassen. Als sein ehemaliger Kollege Manuel Palacios ihn 2016 um Hilfe bei Ermittlungen im ebenso spektakulären wie grausamen Mord am ehemals gefürchteten und noch immer verhassten Kunstzensor Reynaldo Quevedo bittet, willigt er ein. Die Polizei ist derweilen mit dem historisch bedeutenden Besuch Barack Obamas und dem ebenso legendären Konzert der Rolling Stones mehr als beschäftigt. Auch Mario Conde hätte eigentlich anderes zu tun. Da sein Handel mit antiquarischen Büchern und Gebrauchtwaren nicht mehr läuft, kam das Angebot seines ehemaligen Buchhandelspartners, in dessen Luxuslokal allabendlich ein Auge auf die Kundschaft zu haben, zur rechten Zeit. Außerdem möchte Conde aus ein paar handgeschriebenen Blättern eines Polizisten namens Arturo Saborit Amargó über Ereignisse in den Jahren 1909 bis 1910 ein Buch machen. Dieser junge Mann geriet in eine gefährliche Nähe zum König der Zuhälter Alberto Yarini y Ponce de León, einer real existierenden Figur, einem Menschenfänger und „reinste[n] Teufel“ (S. 155). Diese Aufzeichnungen bilden den zweiten Handlungsstrang des Romans, dessen erste neun Kapitel jeweils zweigeteilt sind, bevor die beiden Zeitebenen im Schlusskapitel überraschend zusammenfinden.

Gemeinsam sind beiden Zeitebenen Ereignisse, die in Havanna „eine allgemeine Lockerung der Sitten“ (S. 244) bewirken: 1909 die Erwartung des Weltuntergangs durch den Halley’sche Kometen, 2016 die Aussicht auf politischen Veränderung kurz vor dem Tod Fidel Castros durch die prominenten Besucher aus den USA, die der eingefleischte Pessimist Conde jedoch nicht teilt. 1909 wie 2016 ist die Schere zwischen Arm und Reich riesengroß und muss ein grausamer Mordfall aufgeklärt werden, bei dem es im Laufe der Geschichte nicht bleibt. Wie eine Klammer hält zudem ein Thema den Roman in all seinen Haupt- und Nebenhandlungen zusammen: die Frage nach Anstand und Moral in einem durch und durch korrupten Land wie Kuba.

© B. Busch. Cover: © Unionsverlag

Mehr politischer Kuba-Roman als Krimi
Trotz mehrerer Mordfälle ist Anständige Leute kein Krimi im klassischen Sinn, auch wenn Leonardo Padura im Nachwort schreibt, dass er mit diesem Band „dem Genre einmal so richtig auf den Grund gehen“ wollte. Mehr als um die Ermittlungen und die fast nebenbei erfolgenden Auflösungen steht Kuba im Zentrum, tiefgreifende politische und gesellschaftliche Konflikte früher und heute, aber auch überbordende Lebensfreude. Obwohl der Roman bisweilen in seinen Haupt- und Nebenhandlungen etwas zu sehr ausufert, bin ich Mario Conde sehr gerne durch die Straßen Havannas gefolgt, diesem ungewöhnlichen Ermittler und trotz gelegentlich machohafter Züge liebenswerten Philosophen und Zyniker, der so schwer an seiner innigen Zuneigung zu seinem problembehafteten Heimatland leidet, Bücher, Geschichte, Baseball, die Beatles, seine Freunde und seine Partnerin liebt und vor allem stets anständig bleibt.

Eine Empfehlung für alle, die auf unterhaltsame Weise mehr über Kuba früher und heute erfahren möchten.

Leonardo Padura: Anständige Leute. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2024
www.unionsverlag.com

 

Weitere Rezenion zu einem Mario-Conde-Krimi von Leonardo Padura auf diesem Blog:

Bd. 6

Javier Zamora: Solito

  La tercera es la vencida – Aller guten Dinge sind drei

Dieses Buch ist […] für alle, die die Grenze überquert haben, die es versucht haben, die es jetzt im Augenblick tun und weiter versuchen werden. (Schlusssatz S. 472)

Als kleinstes Land Zentralamerikas stellt El Salvador trotzdem die zahlenmäßig zweitgrößte Gruppe nach Mexiko bei der jährlichen illegalen Einwanderung in die USA. Auch die Eltern des 1990 in El Salvador geborenen Autors Javier Zamora flohen vor dem Bürgerkrieg und dessen Folgen: der Vater vor dem zweiten, die Mutter kurz nach dem fünften Geburtstag ihres Sohnes. Javier wuchs arm, aber liebevoll behütet von den Großeltern und einer Tante als Klassenbester einer Nonnenschule auf. Ohne Chance auf eine legale Familienzusammenführung sparten die Eltern für einen Schleuser, der Javier schließlich im Alter von neun Jahren 1999 innerhalb von zwei Wochen zu ihnen nach Kalifornien bringen sollte. Die „Reise“, die am 6. April 1999 begann, dauerte jedoch bis zum 11. Juni 1999 und führte über etwa 3500 Meilen (ca. 5650 Kilometer) durch Guatemala und Mexiko nach „La USA“. Sieben Wochen lang wusste die Familie nichts über Javiers Verbleib, bis der erlösende Anruf kam und die Eltern ihn abholten:

Mein Name dröhnt durch den Raum. Zwei Schatten erscheinen. Endlich. (S. 459)

Danach wurde über die traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Erst eine notwendig gewordene Therapie holte die Erinnerungen zurück, die sich im Debütroman Solito des Lyrikers niederschlagen, einer wahren Geschichte, einem Memoir über die Odyssee eines unbegleiteten Flüchtlings.

© B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch

Abschied und Aufbruch
Am Beginn steht der Abschiedsschmerz, abgemildert durch Vorfreude auf die Eltern und die Verlockungen von „Gringolandia“:

Das Land der Filme, das Land von Popcorn, von Pizza in Schulcafeterien, von Schneeballschlachten, von Swimmingpools, von Toys „R“ Us und McDonald’s. (S. 252)

Familie auf Zeit
Bis Guatemala begleitet ihn der Großvater, dem er in diesen Tagen so nah wie nie zuvor kommt, dann ist Javier allein in seiner kleinen Flüchtlingsgruppe. Schon die Reise zur Grenze zwischen Mexiko und den USA mit Bussen, Lastwagen, Bicitaxis und einem kaum seetauglichen Boot ist lebensgefährlich, immer wieder gibt es Verzögerungen, Planänderungen und Razzien. Wie in einer Perlenkette werden die Flüchtlinge in Gruppen wechselnder Größe von einem „Kojoten“ (Schleuser) zum nächsten und von Versteck zu Versteck weitergereicht. Das alles ist jedoch ein Kinderspiel im Vergleich zum Höllentrip durch die Sonora-Wüste, den Javier dreimal erleidet. Seine Rettung ist die Fürsorge und Menschlichkeit seiner Mitflüchtlinge, dem 19-jährigen Chino und Patricia mit ihrer zwölfjährigen Tochter Carla:

Unsere Schatten sind ganz klein, aber sie berühren einander. Wir sind ein einziger großer Schatten. Unsere eigene Familie. (S. 451)

Perspektive und Stilmittel
Solito ist ein ebenso anrührender wie aufwühlender Roman, der durch die strikte Perspektive des tapferen Neunjährigen komplett auf politische Erklärungen verzichtet und stattdessen von Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen erzählt. Was allerdings zur Verarbeitung seiner Erlebnisse für den Autor wichtig, für mich als Leserin jedoch zumindest in der ersten Hälfte ermüdend war, ist die Detailgenauigkeit, die ein Originalzeitgefühl vermittelt. Diese repetitiven Längen sind ebenso Stilmittel wie die permanenten spanischen Einschübe, deren Nachschlagen in einem kapitelweise geordneten Anhang den Lesefluss ohne Mehrgewinn bremst. Schmerzlich vermisst habe ich außerdem eine Landkarte.

Trotz dieser Kritikpunkte empfehle ich den eindrücklichen Roman als horizonterweiternden Beitrag zur anhaltenden Flüchtlingsdebatte weltweit. Sollte es eine Fortsetzung aus Erwachsenenperspektive ähnlich dem kurzen Nachklapp aus dem April 2021 geben, ich wäre garantiert dabei.

Javier Zamora: Solito. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

Ruth Lillegraven: Dunkler Abgrund

  Wer einmal mit dem Morden anfängt…

Drei lange Jahre musste ich auf die Fortsetzung der Clara-Lofthus-Trilogie der preisgekrönten norwegischen Lyrikerin und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven warten, nun endlich liegt der heiß ersehnte zweite Band Dunkler Abgrund vor. Gewechselt hat der Übersetzer: von Hinrich Schmidt-Henkel zu Günther Frauenlob. Obwohl man Band eins, Tiefer Fjord, nicht unbedingt kennen muss, empfehle ich es trotzdem dringend, denn zahlreiche interessante Details aus Claras Vergangenheit erschließen sich nur durch den Vorgängerband.

Viele Erzählstimmen
Der Aufbau der beiden Bände ist nahezu identisch: ein kurzer Prolog, 75 Kapitel aus verschiedenen Ich-Perspektiven und in Teil zwei zusätzlich ein Epilog.

Dunkler Abgrund beginnt dort, wo Tiefer Fjord endete: kurz nach dem Tod von Clara Lofthus‘ Ehemann, dem Kinderarzt Haavard Fougner, den die trainierte Schwimmerin in die gefährliche Strömung eines Bergsees lockte. Wenig später wird sie zur Justizministerin Norwegens berufen, zeitgleich entdecken Taucher in ihrem tiefen Heimatfjord den Unfallwagen, mit dem die damals Zwölfjährige und Magne, der Partner ihrer Mutter, 1988 verunglückten.

Mehr Ministerin als Mutter
Ohne ihren Mann ist Clara, nach eigenem Bekunden „kein Naturtalent als Mutter“ (S. 102), plötzlich allein verantwortlich für die etwa zehnjährigen Zwillinge Andreas und Nikolai. Die beiden Papakinder leiden sehr unter dem Tod ihres Vaters, den die kühle, zudem meist abwesende Mutter nicht ersetzen kann:

Papa war immer fröhlich und leicht wie ein Sommertag. Mama versucht, Sommer zu sein, ist aber eigentlich Winter. (Andreas, S. 272)

Clara sieht, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ihre Prioritäten im Ministerium. Traumatisiert vom Tod ihres eigenen kleinen Bruders, dem sie als Kind nicht helfen konnte, hat sie sich dem Kampf gegen Kindesmisshandlung verschrieben:

Ich habe eingewilligt, Staatssekretärin und schließlich Ministerin zu werden, um etwas zu erreichen und dafür zu sorgen, dass das, was mit Lars passiert ist, keinem anderen Kind passiert. (Clara, S. 118)

Für dieses Ziel schreckt die intelligente, kontrolliert-distanzierte Frau mit der komplizierten Persönlichkeitsstruktur, in deren früherem und jetzigem Leben es vor Todesfällen und Tragödien nur so wimmelt, vor nichts zurück.

Foto des norwegischen Parlaments in Oslo: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © List

Alles gerät aus den Fugen
Daran gewöhnt, alles selbst zu regeln, lehnt Clara Personenschutz, häusliche Überwachung und professionelle Kinderbetreuung ab. Doch dann geschehen seltsame Dinge, die Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit drohen sie einzuholen und schließlich sind sogar ihre Kinder verschwunden. Die Spur führt nach Westnorwegen ins Dorf ihrer Kindheit. Obwohl sie nur schlecht Hilfe annehmen kann, ist sie nun auf die Unterstützung ihres neuen Chauffeurs Stian angewiesen, der sich als heimlich platzierter Leibwächter und ebenso bedingungsloser wie unkonventioneller Unterstützer entpuppt:

Man muss tun, was richtig ist, auch wenn das Richtige nicht unbedingt den Regeln entspricht. (Stian, S. 252)

Wie Tiefer Fjord hat auch Dunkler Abgrund viel Dynamik, vor allem durch die kurzen Kapitel aus wechselnden Perspektiven. Mit seinen unvorhersehbaren Wendungen und der perfekt konstruierten Handlung, realistisch oder nicht, hat mich der zweite Teil fast ebenso gut unterhalten wie der erste. Die Einblicke in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den die Autorin aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer westnorwegischen Heimat sind für mich die Besonderheiten dieser Mischung aus Psychothriller und Familiendrama, auf deren Abschlussband ich ungeduldig warte.

Ruth Lillegraven: Dunkler Abgrund. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. List 2024
www.ullstein.de/verlage/list

 

Weitere Rezension zu einem Thriller von Ruth Lillegraven auf diesem Blog:

Bd. 1