Ian McEwan: Lektionen

  Was wäre wenn…

Ian McEwan

 

… der in Libyen stationierte britische Captain Robert Baines und seine verzagte Frau Rosalind ihren Sohn Roland nicht mit elf Jahren auf ein Internat in der Heimat geschickt hätten?

… Roland dort nicht an die rätselhafte junge Klavierlehrerin Miriam Cornell geraten wäre, die auf ewig sein „Hirn neu verdrahtet“ (S. 287)?

… die Kubakrise nicht mit Rolands erwachender Sexualität zusammengefallen wäre?

… er nicht die Schule abgebrochen und anschließend ein Jahrzehnt verbummelt hätte?

… er mehr aus seinen Begabungen als Konzertpianist, Tennisspieler oder Dichter gemacht hätte?

… er nicht ausgerechnet Alissa Eberhardt geheiratet hätte, die ihn und den siebenmonatigen Sohn Lawrence für eine Karriere als Schriftstellerin verließ?

… Alissa nicht ihrerseits im Schatten der Enttäuschungen ihrer Mutter aufgewachsen wäre?

© B. Busch

Ein Roman mit vielen Stärken
In seinem gut 700 Seiten umfassenden 17. Roman Lektionen verzichtet Ian McEwan auf experimentelle Elemente wie in Nussschale oder Maschinen wie ich und erzählt stattdessen angenehm traditionell und überwiegend linear vom Leben des 1948 geborenen Roland Baines von den 1960er-Jahren bis über seinen 70. Geburtstag hinaus. Dabei geht es um Missbrauch, Obsessionen, Aufarbeitung, Prägungen, fehlenden Ehrgeiz, geplatzte Träume, väterliche Fürsorge, vielfältige Affären mit meist sehr erfolgreichen Frauen, den Wert von Familienleben und beruflichem Erfolg und die Frage, wann ein Leben als erfolgreich, wann als gescheitert gilt. Rolands Lebensstationen stellt Ian McEwan in den jeweiligen zeithistorischen Kontext: Die Suezkrise, die Kubakrise, der Falklandkrieg, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, Glasnost, Perestoika und Wiedervereinigung, die Thatcher-Ära, New Labour, der Irak-Krieg, der Brexit, der Sturm auf das Kapitol und die Corona-Pandemie sind nur die wichtigsten äußeren Ereignisse. Die besondere Kunst Ian McEwans besteht darin, dass er diese an sich altbekannten sozialen und politischen Entwicklungen mit so leichter Hand in die Handlung verwebt, dass die zweifellos dahinterstehende Konstruktion nie offensichtlich wird. Außerdem bleibt es nicht bei der reinen Nacherzählung der Fakten, vielmehr ruft McEwan Gefühle, Hoffnungen und Ängste ins Gedächtnis, ganz besonders gelungen bei der Euphorie während des Mauerfalls und der in den Jahren danach schleichend eintretenden Ernüchterung durch die „neue Hässlichkeit“ (S. 698).

Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist die große Nähe zu seinen Figuren, allen voran Roland Baines, und die große Toleranz und Nachsicht, mit der Ian McEwan ihnen entgegentritt, wodurch er ihre Beurteilung ganz in das Ermessen seiner Leserinnen und Leser stellt. Roland Baines war mir spätestens nach der Hälfte des Buches so vertraut wie ein langjähriger Bekannter und meine anfänglich spärliche Sympathie für ihn wuchs mit jedem Kapitel.

Nicht zuletzt durchzieht den Roman – trotz mancher Tragik – ein unwiderstehlicher Humor, nicht nur dank Rolands Selbstironie, und die Sprache ist brillant.

Erinnerungen und Erfindungen
Natürlich stellt sich bei Lektionen mehr als bei Ian McEwans anderen Werken die Frage nach dem autobiografischen Bezug, unter anderem wegen des gleichen Geburtsjahres, der Kindheit in Libyen und der Internatszeit. „To milk my own life“ wäre eine Grundlage beim Schreiben von Lektionen gewesen, so McEwan in einem Interview, und trotzdem entspringt die Handlung größtenteils seiner Fantasie, eine Vorgehensweise, wie sie auch die Schriftstellerin Alissa im Roman beschreibt.

„So viele vergessene Lektionen(S. 696), beklagt der 74-jährige Roland bei der Politik. Und was hat er für sich gelernt?

Eine Schande, eine gute Geschichte für eine Lektion zu missbrauchen. (S. 707)

Ian McEwan jedenfalls missbraucht seinen herausragenden Roman nicht dafür.

Ian McEwan: Lektionen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Ian McEwan auf diesem Blog:

   

Andreas Föhr: Herzschuss

  Kreuthner in Bedrängnis

Im Jubiläumsband zehn der kultigen Tegernsee-Reihe um das ungleiche Duo Wallner/Kreuthner lässt der Jurist und Autor Andreas Föhr ausnahmsweise nicht den unkontrollierbaren und unkonventionellen Polizeihauptmeister Leonhardt Kreuthner die Leiche finden, sondern den reflektierten, teamfähigen Kriminalhauptkommissar Clemens Wallner. Jedenfalls ist er zuerst am Fundort, denn beim Skifahren hat ihm ein Unbekannter die Koordinaten in die Hand gedrückt. Doch kurz nach ihm taucht auch Kreuthner in dem Hotelrohbau auf. Warum? Hat er wirklich nur zufällig Wallners Wagen gesehen oder steckt mehr dahinter?

© B. Busch

Ein Mordfall, viele mögliche Motive
Das Opfer, Philipp Gansel, getötet mit mehreren Schüssen, war Mitglied des Bayerischen Landtags mit auffallend steiler Politkarriere in den vergangenen zehn Jahren. Hat er sich mit den falschen Leuten eingelassen oder ist das Motiv eher im privaten Bereich zu suchen? Was hat ein zwei Monate zuvor in der Mangfallmühle, dem übel beleumdeten Lieblingsgasthaus Kreuthners, „wo sich Menschen zusammenfanden, denen die schattigen Niederungen gerade recht waren“ (S. 7), ausgehecktes Femegericht des Polizeihauptmeisters und seiner zwielichtigen Freunde gegen Philipp Gansel damit zu tun? War ihnen die nur halbwegs geglückte Abreibung nicht genug? Nicht lange, und Kreuthner wird zum Haupttatverdächtigen, denn Gansels Frau Philomena war vor langer Zeit seine Freundin, und dass sie in ihrer Ehe häuslicher Gewalt ausgesetzt war, wollte er nicht dulden. Wallner allerdings glaubt nicht so recht an die Schuld des langjährigen kollegialen Freundes und ermittelt in alle Richtungen, auch wenn die Arbeit durch die neue Leiterin der Polizeiinspektion Miesbach, Karla Tiedemann, einem weiteren Alphatier unter den Vorgesetzten, nicht einfacher wird. Der „Profilügner“ (S. 143) Kreuthner manövriert sich derweilen mit seiner ganz eigenen Logik immer tiefer in den Schlamassel. Seine Hoffnungen ruhen einzig auf Wallners Ermittlungsgeschick, denn selbst seine Mangfallmühlenkumpel lassen Solidarität vermissen:

Weißt – ich hab so viel Dusel g’habt bei dem ganzen Scheiß, den ich angestellt hab in meinem Leben. Irgendwer hat mich immer rausgehauen. Oft warst du des. Und vielleicht sperren die mich jetzt für was ein, was ich gar nicht war. So als Ausgleich mal andersrum. (S. 263)

Eine herausstechende Regionalkrimi-Serie
Wie immer in dieser Reihe steht trotz des durchaus vorhandenen, mit Augenmaß dosierten Lokalkolorits und Einblicken in das Privatleben Wallners die klug durchdachte Krimihandlung mit Rückblicken in die nähere und ferne Vergangenheit im Mittelpunkt. Es ist jedes Mal eine große Freude, die beiden bodenständigen Polizisten wieder zu treffen, den grundsoliden Kripobeamten Wallner mit der legendären Abneigung gegen Zugluft und das Urgestein Kreuthner, für den kein Gesetz zu gelten scheint, aber auch Wallners inzwischen 91-jährigen Großvater Manfred. Spritzige Dialoge, unerwartete Wendungen, Spannung bis fast zur letzten Seite, seriöse Ermittlungsarbeit und skurrile Slapstickeinlagen haben mich wieder sehr gut unterhalten, auch wenn der Humor in anderen Bänden der Reihe noch mehr nach meinem Geschmack ausfiel. Auf jeden Fall bin ich jedoch bei Band elf wieder dabei, schon um erfahren, ob der frische Wind in der Polizeiinspektion für den frisch geschiedenen Wallner auch privat weht…

Andreas Föhr: Herzschuss. Knaur 2022
www.droemer-knaur.de

 

Weitere Rezensionen zur Wallner-Kreuthner-Serie von Andreas Föhr auf diesem Blog:

Band 1
Band 2
Föhr
Band 3
Band 4

 

Holger Haase: Aufstieg in den Abgrund

Interessant, aber in Aufbau und Sprache nicht überzeugend

Der Ruhm von Schauspielerinnen und Schauspielern ist vergänglicher als der anderer Kunstschaffender. Selbst eine auf deutschen Bühnen in den 1920er- und 30er-Jahren gefeierte, als Brecht-Darstellerin und für ihren skandalumwitterten Lebenswandel sehr bekannte Bühnengröße wie Carola Neher (1900 – 1942) ist heute nahezu vergessen, trotz ihres dramatischen Lebenslaufs.

Der Journalist und Autor Holger Haase stellt in seiner Romanbiografie Aufstieg in den Abgrund die belegbaren Lebensstationen detailliert dar und überbrückt, wie in diesem Genre üblich und legitim, Lücken mit Hilfe von Fantasie und wenigen erfundenen Nebenfiguren.

Spielball von Diktatoren
Die Handlung setzt im Dezember 1939 ein, als Carola Neher gut drei von zehn Jahren Haft im Wladimir Zentralgefängnis, einem Stalinschen Zuchthaus, verbüßt hatte und überraschend zusammen mit anderen deutschen Gefangenen wie Zenzl Mühsam und Margarete Buber-Neumann in eine Luxuszelle in der Moskauer Butyrka verlegt wurde. Ein Verhörmarathon mit einem NKWD-Leutnant sollte über ihre Auslieferung an Nazi-Deutschland entscheiden, ermöglicht durch den Hitler-Stalin-Pakt, und für die von den Nazis ausgebürgerte Schauspielerin von besonderer Brisanz. Trotzdem setzte sie, angespornt von ihren Zellengenossinnen, alle Hoffnungen auf die Ausweisung:

Du bist Schauspielerin, Carola. Spiel dem Genossen Leutnant die Rolle deines Lebens vor. […] Umgarn ihn, bis er dir zuliebe tut, was in seiner Macht steht. Und dich ausweist. (S. 41)

Unterbrochen werden die stereotyp verlaufenden Verhöre durch weitschweifige Rückblenden in Carola Nehers Leben und Karriere, allerdings nicht aus der Ich-Perspektive, so dass nie ersichtlich wird, was und wie sie dem Leutnant tatsächlich erzählt. Inhaltlich geht es um den kometenhaften Aufstieg der ehrgeizigen Tochter eines Musiklehrers und einer Kneipenwirtin zum gefeierten Bühnenstar, der alles dem Erfolg unterordnete. Die vielen Theaterstationen, Rollen, Kleider, Promibekanntschaften und Liebesbeziehungen führten bei mir zu großer Ermüdung. Mehr als die reinen Aneinanderreihungen und Inhaltsangaben bekannter Bühnenstücke hätten mich Inszenierungskonzepte und Charaktere interessiert.

Eine scheinbar unmotivierte Kehrtwende
Der Bruch in Carola Nehers Leben kam einige Jahre nach der kurzen Ehe mit dem früh verstorbenen Schriftsteller Alfred Henschke, genannt Klabund (1890 – 1928). Für mich völlig unvermittelt entwickelte sie eine Neigung zur KPD, lernte Russisch und warf für Mutterschaft und eine überraschend eingegangene Ehe mit dem jungen Kommunisten Anatol Becker weg, wofür sie zuvor mit allen Mitteln gekämpft hatte: Karriere, Ruhm, Erfolg, Luxus. Zu keiner Zeit war diese Wendung mit dem Weggang in die Sowjetunion, die so gar nicht in der Figur angelegt war, für mich nachvollziehbar.

Die Protagonistin bleibt fremd
Trotz spürbar gründlicher Recherchearbeit konnte mich die Romanbiografie nicht überzeugen, weder in der Struktur mit den Rückblenden, noch sprachlich mit dem Übermaß an Dialogen, die aufgesetzt, belehrend und selten unauthentisch wirkten. Dadurch blieb mir die Protagonistin fremd in ihrem meist naiven, übertrieben einfachen Reden, Denken und Handeln, das so gar nicht zu einer Schauspielerin dieses Kalibers passen will. Schade auch, dass die Fußnote auf Seite 102 die Spannung nimmt, denn ich hatte mich bewusst vorher nicht informiert.

Trotz einer Steigerung im letzten Romandrittel und des zweifellos umwerfenden Stoffs – warm geworden bin ich mit dem bemüht wirkenden Buch bedauerlicherweise nicht.

Holger Haase: Aufstieg in den Abgrund. Carola Neher – Bühnenstar zwischen Berliner Boheme und Stalins Kerkern. Osburg 2022
www.osburg-verlag.de

Edvard Hoem: Der Geigenbauer

  Ein Leben voller Überraschungen

Hoem

Der Geigenbauer ist ein weiterer Teil aus der Familienchronik von Edvard Hoem, von der auf Deutsch bisher Heimatland. Kindheit (Original 1985, übersetzt 2009), Die Geschichte von Mutter und Vater (2005 bzw. 2007) und Die Hebamme (2018 bzw. 2021) vorliegen. In Norwegen sind diese historischen Romane Bestseller, denn sie sind nicht nur Porträt des Verfassers und seiner Vorfahren, sondern zugleich Dokumente zur westnorwegischen bäuerlichen Gesellschaft ihrer Zeit mit unvergesslichen Naturbeschreibungen. Auf mich üben diese Romane eine solch große Faszination aus, dass ich im Sommer 2022 einige der Originalschauplätze nahe Molde besucht habe: den Hof, auf dem Edvard Hoem aufwuchs, und dessen Erbe er zugunsten der Schriftstellerei ausschlug, die Kirche seiner Kindheit, den Friedhof mit dem Grab der Eltern und den Romsdalsfjord. Dass ich mit Kristiansund unwissentlich auch in der Stadt war, die dem Geigenbauer Lars Olsen Hoem zur langjährigen Heimat wurde, hat mich nun besonders gefreut.

Kristiansund heute. © M. Busch

Wahrheit und Fantasie
Der Geigenbauer und Vorfahr Lars Olsen Hoem spielte schon in der Kindheit des kleinen Edvard eine Rolle in den Erzählungen seines Großvaters und wird in Heimatland. Kindheit erwähnt. Im Familiengedächtnis blieb einerseits sein abenteuerlicher Lebenswandel, andererseits sein über 50 Jahre währendes Zerwürfnis mit seinem älteren Halbbruder Pe, an dessen Unschuld beim mysteriösen Verschwinden der Dienstmagd Guri Lars trotz dessen gerichtlichen Freispruchs 1792 immer zweifelte. Fast 40 Jahre nach dem Erscheinen von Heimatland. Kindheit hat Edvard Hoem für Der Geigenbauer Archivmaterial, Kirchenbücher, Nachlassverzeichnisse, Stammrollen, Gefangenverzeichnisse, Zeitungsartikel, Augenzeugenberichte sowie Literatur zum Geigenbau und lokalhistorische Arbeiten aus dem frühen 19. Jahrhundert befragt und Fakten zusammengetragen, die er wie immer mit Fantasie ergänzte, größtmögliche Nähe anstrebend.

© B. Busch

Wenn alles anders kommt
Lars Olsen Hoem wurde 1782 als Bauernsohn an der norwegischen Westküste geboren und träumte als Jugendlicher von einer eigenen Schute. 1801 wurde er einberufen, als Dänemark-Norwegen an der Seite Napoleons gegen England kämpfte, und nach einem 40-tägigen Marsch von Molde nach Schonen in der Seeschlacht von Kopenhagen als Ruderer eingesetzt. 1809 geriet er mit einem Getreideschiff in Höhe des Nordkaps in englische Gefangenschaft und wurde mehr als fünf Jahre auf Gefangenenschiffen festgehalten. Hier begegnete der musikbegeisterte Mann einem französischen Geigenbauer und lernte dessen Handwerk. Als Lars 1814 endlich nach Hause zurückkehrte, heiratet er Gunhild, bekam mit ihr sieben Töchter, lebte ab 1822 in Smedvika auf Nordlandet in Kristiansund und baute bis zu seinem Tod 1852 über 500 Geigen, von denen etwa 30 erhalten blieben.

„Klippfiskkjerringa“ – Denkmal für die Klippfischfrauen in Kristiansund von Tore Bjørn Skjølsvik. © B. Busch

Ein magischer Erzähler
Niemand beschwört die Vergangenheit ähnlich gut herauf wie der 1949 nahe Molde geborene Schriftsteller, Theaterregisseur und Shakespeare-Übersetzer Edvard Hoem. Er malt ein buntes Bild des 19. Jahrhunderts, lässt Klänge, Gerüche und Farben entstehen und schildert mit viel Zuneigung die tiefgreifenden Auswirkungen der Weltpolitik auf die Menschen an der Westküste und ihr beschwerliches Leben. Herausragend  sind die Abschnitte über den Geigenbau und die beschwerliche, gesundheitsschädliche Tätigkeit der „Klippfischfrauen“, die wie Gunhild auf den Felsen um Kristiansund Trockenfisch zum Export herstellten, außerdem die über die religiöse Strömung um den Erweckungsprediger Hans Nielsen Hauge (1771 – 1824), die in späteren Generationen der Familie Hoem große Bedeutung erlangte.

Eine große Leseempfehlung!

Edvard Hoem: Der Geigenbauer. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2022
www.urachhaus.de

 

Weitere Rezensionen zu familienbiografischen Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:

   

Vigdis Hjorth: Bergljots Familie

  Der Elefant im Zimmer

Hjort

23 Jahre nach der Explosion einer familiären Bombe und 15 Jahre, nachdem die Ich-Erzählerin Bergljot den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hat, stirbt der Vater hochbetagt. Nie hat er den Missbrauch Bergljots als Kind zwischen fünf und sieben Jahren eingestanden, den sie erst in einem „entsetzlichen Erkenntnisdurchbruch“ (S. 117) als geschiedene Frau mit drei Kleinkindern begriff. Es folgte eine jahrelange Psychoanalyse, die Konfrontation der Familie mit ihrer Geschichte und deren beharrliches Negieren. Der um ein Jahr ältere Bruder Bård, selbst unter lebenslanger Missachtung durch den Vater leidend, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Abstand gewonnen. Umso überraschender kam für die beiden ältesten Geschwister das Testament drei Jahre vor dem Tod des Vaters, das allen vier Kindern gleiche Erbanteile zusicherte. Als jedoch die Familienhütten auf Hvaler vorab weit unter Marktwert an die mit den Eltern solidarischen jüngeren Schwestern Astrid und Åsa gehen, will Bård diese weitere Ungerechtigkeit nicht akzeptieren, der Streit eskaliert. Plötzlich ist auch Bergljot wieder mittendrin, das nie bewältigte Trauma kehrt mit Macht zurück. Dabei ist die Ignoranz Bergljots tiefste Verletzung:

Der Elefant im Zimmer wurde nicht erwähnt, der Grund, warum ich aufgehört hatte, Hvaler und den Bråtevei zu besuchen, und dann war es so, als gäbe es diesen Grund nicht, als gäbe es meine Geschichte nicht. (S. 97)

© B. Busch

Ein Skandalbuch
Die 1959 geborene, in Norwegen sehr bekannte Autorin Vigdis Hjorth bezeichnet das Buch, das in ihrem Heimatland für heftige Debatten, in ihrer Familie für einen Eklat sorgte, trotz der autobiografischen Übereinstimmungen als Roman, ohne detailliert Stellung zu beziehen. 2016 erhielt sie dafür den von mir sehr geschätzten Preis der norwegischen Buchhändler  sowie den Kritikerpreis.

Ob es dabei wohl den Jurys genauso erging wie mir, atemlos bezüglich Thematik und Offenheit und trotzdem in einem emotionalen Spagat? Einerseits bewundere ich die rationale, strukturierte Analyse der Ich-Erzählerin bezüglich der eigenen Situation genauso wie hinsichtlich der Beweggründe und Absichten der einzelnen Familienmitglieder. So ist die überraschende gleichmäßige Berücksichtigung aller vier Kinder im Testament keineswegs Wiedergutmachung oder gar Schuldeingeständnis, sondern ein weiterer Schritt der Negierung des Konflikts und ein Versuch, „sich unser Schweigen und unsere Anwesenheit zu erkaufen“ (S. 210). Ausführlich beschäftigt sich Bergljot mit den beständigen Bemühungen Astrids und der Mutter um Normalität, was sie mehr belastet als das Schweigen und die Ablehnung durch den Vater und Åsa. Andererseits war mir immer bewusst, dass Bergljot mich mit ihrer Darstellung auf ihre Seite ziehen möchte und mir Gegenpositionen nur durch ihren Filter präsentiert. Zwar klingen die Schilderungen plausibel und werden vielfach durch Briefe, Mails, SMS und Gespräche mit Familienangehörigen und Freunden untermauert, doch blieb ein kleiner Restzweifel an der Vertrauenswürdigkeit der stark dem Alkohol zusprechenden, in einer Gedankenspirale feststeckenden Protagonistin. Leider ist der „Gegenroman“ von Vigdis‘ Schwester Helga Hjorth unter dem Titel Fri vilje, in dem die Juristin den Inzest abstreitet, nicht auf Deutsch erschienen.

Trotz des unbestreitbaren Sogs von Bergljots Familie, das auch abseits der Missbrauchsthematik äußerst interessante, gekonnt literarisch aufbereitete Einblicke in Familiendynamiken und die Wahrung des äußeren Scheins mit allen Mitteln gewährt – ein wenig Erschrecken über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ saß mir beim Lesen immer im Nacken.

Vigdis Hjorth: Bergljots Familie. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Osburg 2017
www.osburg-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurden:

2003
2014
2015
2018

 

Dörte Hansen: Zur See

  Seelengeld

Die Insel ist ein Chamäleon. Sie passt sich den Erwartungen an und ist vom Mythos bis zum Sehnsuchtsort durch alle Zeiten „nur Spiegelfläche des darauf projizierten Anderen“.
Wir sehen, was wir sehen wollen. (Anne von Canal: Mein Gotland. mare 2020, S. 58)

Weit weg vom Meer lebend, üben Inseln eine große Anziehungskraft auf mich aus. Gut möglich, dass meine Erwartungshaltung oder Projektion das Ihre dazu beiträgt, dass Urlaubstage auf Gotland, Bornholm, Föhr, den Ålandinseln, Schiermonnikoog oder Prince Edward Island meine Sehnsucht nach Erholung, Ruhe, Geborgenheit und Einsamkeit in besonderem Maße erfüllen.

Doch was, fragt die Nordfriesin Dörte Hansen in ihrem dritten Roman Zur See, bedeutet diese Inselbesessenheit für die Einheimischen? Wie wirkt sich der Strukturwandel vom Walfängervolk auf hoher See zum Dienstleistungsunternehmen für Sinn- und Erholungssuchende aus, wie der Ausverkauf von Immobilien, die Fremdaneignung der Inselkultur, der Verlust althergebrachter Strukturen und Traditionen?

Inselurlaub beginnt meist auf einer Fähre, wie hier am Fährhafen Dagebüll. ©M. Busch

Tiefgreifende Veränderungen
Dörte Hansen siedelt Zur See bei den Nachfahren der Grönlandfahrer auf einer namenlosen Nordseeinsel „irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ (S. 7) an. Dass sie sich nicht mehr mit den kargen Böden abzuplagen, auf Fischtrawlern und Krabbenkuttern frieren oder auswandern müssen, verdankten sie zunächst den Sommerfrischlern, heute den Kurztrippern, die „schnell entschleunigen“ (S. 181) möchten, und doch:

Man zahlt ein Seelengeld für dieses Leben. (S. 191)

Fünf Stimmen
Dies gilt auch für Familie Sander, wortkarg, jedes Familienmitglied mit schwerem Gepäck. Mutter Hanne und Vater Jens versuchten sich an einer Ehe nach elterlichem Vorbild, aber weder passten Kinder und Seefahrt zu ihm, noch duldsames Warten zu ihr. Sohn Ryckmer verlor sein Kapitänspatent, fürchtet die unberechenbare See, trinkt und setzt jede Beziehung in den Sand. Tochter Eske hält es auf dem Festland nicht aus, hasst die Fremden und Hanne, die als Gastgeberin das Spiel lange mitgespielt hat. Mit ihrer Ganzkörpertätowierung, der lesbischen Fernbeziehung und ihrer Liebe zu ohrenbetäubendem Heavy Metal frönt sie ihrer Wut, kümmert sich andererseits aber rührend um ihre Seniorenheimpfleglinge und hilft beim Bewahren der Inselsprache. Sohn Henrik schließlich, Nesthäkchen und Sonderling, verdankt sein Leben Hannes erfolglosem Versuch zur Rettung ihrer brüchigen Ehe und blieb stets unter ihrem Radar. Jetzt sind seine Figuren aus Treibgut Kult, er jedoch schert sich um nichts und niemanden. Als einziges Familienmitglied hat er im multiperspektivischen Chor der 14 Kapitel keine eigene Stimme und wir erleben ihn ausschließlich aus fremder Sicht.

Die fünfte Stimme gehört dem smarten langjährigen Inselpastor Matthias Lehmann, den Sanders sehr verbunden, auch er im Umbruch, weil nach seinen Töchtern nun seine Frau aufs Festland zieht. Die Wochenendehe und anonyme Schmähkommentare machen ihm schwer zu schaffen und bescheren ihm eine Glaubens- und Sinnkrise.

Verschwommen
Weggehen und Zurückkommen, familiäre Bande, Tradition und Neubeginn, Anteilnahme und Wegsehen sind nur einige der Themen in Dörte Hansens neuem, vergleichbar starken Roman wie Altes Land und Mittagsstunde. In gewohnt pointierter Sprache mit ultrastarken Bildern, melancholisch und doch mit einer Prise hanseatischem Humor, fast ohne Dialoge stellt sie die See in den Mittelpunkt und mit wenigen Strichen gezeichnete Menschen, die sich wie der gestrandete Wal „verschwommen“ haben.

© B. Busch

Ein Highlight des Literaturherbstes 2022, ein Roman wie ein Film und kein Plädoyer gegen Inselurlaube, sondern ein Appell an die Verantwortung der Gäste.

Dörte Hansen: Zur See. Penguin 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Dörte Hansen auf diesem Blog:

   

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

  Familienpuzzle

Wie viele unserer Gefühle und Verhaltensmuster sind vererbt? Diese Frage war Ausgangspunkt für die Recherchen des 1976 geborenen, in Schweden mittlerweile viel gelesenen Autors Alex Schulman. Seine eigene unkontrollierte Wut, Reizbarkeit und Überreaktion auf Rückschläge gefährdeten seine Familie, an seinen Kindern erkannte er die ihm aus der eigenen Kindheit vertrauten Anzeichen von Angst und vorbeugendem Schutzverhalten. Eine Familienaufstellung ergab Aggressionspotential auf der mütterlichen Seite:

Ich will die Dunkelheit in mir verstehen, die dabei ist, mein Verhältnis zu meiner Familie zu zerstören. Ich bin auf der Jagd nach meiner Wut. (S. 31)

Kindheitserinnerungen an Besuche bei den Großeltern ließen im Großvater Sven Stolpe (1905 – 1996) die Schlüsselfigur vermuten, einem bedeutenden schwedischen Schriftsteller, Übersetzer, Journalisten, Literaturkritiker und tiefgläubigen Christen, verheiratet mit der Übersetzerin Karin Stolpe (1907 – 2003):

Auf unterschiedliche Weise zerstörte Stolpe das Leben seiner Kinder. Und das Gift wirkt über Generationen fort. Wir lernten alle, einander und die Welt zu hassen. (S. 40)

Früh nahm Alex Schulman die große Angst und Unterwürfigkeit der Großmutter vor dem despotischen Großvater wahr, der vernichtende und demütigende Urteile über Familienmitglieder wie Kollegen fällte.

Ein echter Thriller
Was Alex Schulman bei seinen puzzleartigen Recherchen aufdeckte, nimmt es leicht mit einem Thriller auf. Anhand der Bücher und Briefe seines Großvaters, bei Recherchen in Archiven und an Originalschauplätzen, insbesondere jedoch mit dem Tagebuch von Olof Lagercrantz (1911 – 2002), einem ebenfalls bedeutenden Schriftsteller, Kritiker und langjährigen Chefredakteur der Tageszeitung Dagens Nyheter, sowie dessen Korrespondenz mit Karin konnte er aufdecken, was sich hinter Svens Bemerkung verbarg, er wäre im Sommer 1932 „Opfer eines sexuellen Attentats“ (S. 52) geworden, durch das er „den Glauben an die Menschheit verlor“ (S. 50): eine ebenso wahre wie zutiefst bewegende, schließlich lebensgefährliche Liebesgeschichte. Minutiös sind die Tage zwischen dem 20. Juni und dem 9. Juli 1932 rekonstruiert, gebannt bin ich diesem missglückten Ausbruchsversuch aus einer albtraumhaften Ehe mit einem nüchternen Tyrannen und Narzissten gefolgt. Bis an ihr Lebensende träumte Karin vom „Land, das nicht ist“ (S. 261), der Romantiker Olof versteckte seine Sehnsucht nie vor seiner Familie und besang „die Liebe seines Lebens“ (S. 127) bis zuletzt in Büchern und Gedichten.

© B. Busch

Ein wahrer Roman
Aber nicht nur was erzählt wird, auch das Wie ist grandios. Die drei Zeitebenen Sommer 1932, ein Besuch bei den Großeltern 1988 und die Gegenwart sind meisterhaft verwoben, Charaktere stimmig gezeichnet, die Sprache konzentriert und klar. Immer wieder hinterfragt Alex Schulman selbstkritisch seine Motivation und die Auswirkungen auf seine Zukunft. Meine anfängliche Skepsis wegen der Intimität verflog rasch, denn einerseits sind die Geschehnisse so offensichtlich, dass die Literaturwissenschaft sie irgendwann aufgedeckt hätte, andererseits hat die Familie Lagercrantz der Einbindung von Tagebucheinträgen und Briefen zugestimmt und Alex Schulman holt für jedes seiner familienbiografischen Bücher die Zustimmung seiner Brüdern ein. Außerdem ist der Roman, und als solchen bezeichnet ihn Alex Schulman trotz der Quellentreue, kein Vernichtungsbuch, wie es Sven Stolpe beispielsweise über Olof Lagercrantz verfasste; im Gegenteil gibt es zuletzt sogar einen Erklärungsversuch für sein Verhalten.

Habe ich den familienbiografischen Roman Die Überlebenden von Alex Schulman 2021 sehr gern gelesen, so gefiel mir nun das im schwedischen Original schon 2018 erschienene, 2022 verfilmte Verbrenn all meine Briefe sogar noch besser. Ein neuer literarischer Autor, von dem ich mir garantiert kein Buch mehr entgehen lasse!

Alex Schulman bei einem Zoom-Meeting zu Die Überlebenden am 15.08. 2021. © B. Busch

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv 2022    
www.dtv.de   

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Alex Schulman auf diesem Blog:

         

Charles Lewinsky: Sein Sohn

  Unstillbare Sehnsucht

Charles Lewinsky sucht sich nach eigenem Bekunden für seine Romane Stoffe, nicht Epochen. Deswegen ist Sein Sohn mehr noch zeitlose Geschichte vor bunt koloriertem historischem Hintergrund als historischer Roman. Über das real existierende Vorbild für den Protagonisten ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 geboren, in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde, wo sich seine Spur verliert, und wer seine Eltern waren. Damit hatte Charles Lewinsky alle Freiheit, Louis Chabos, wie er ihn nennt, ein ganzes Leben zu schenken mit zahlreichen Ortswechseln, vielen Schicksalsschlägen, aber auch unverhofften Höhen und vor allem mit einer übermächtigen Sehnsucht nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit.

Dramatischer Beginn
Louis Chabos‘ Start ins Leben hätte kaum schwieriger verlaufen können: Zuerst überlebt er nur knapp eine Fußgeburt, dann brennt die Amme durch. Nur der Platz im Waisenhaus ist ihm wegen des für 18 Jahre im Voraus bezahlten Kostgelds garantiert. Von den anderen Kindern geschlagen und gemobbt, lauscht der kleine, zierliche Junge ungläubig dem Märchen vom Waisenknaben, der sich als Königskind entpuppt und – wichtiges Detail – von seinem Vater per Herold gesucht wird.

Nach zwölfjährigem Martyrium wendet sich Louis Chabos‘ Schicksal, als ihn ein verarmter Marchese aufnimmt und ihm beibringt, was er zum Überleben braucht: Manieren, Wehrhaftigkeit, Selbstbewusstsein und den Umgang mit der Angst.

Auf und Ab
Es folgen Jahre als jugendlicher Landstreicher unter anderen Außenseitern und als 15-jähriger Soldat im Elend von Napoleons Russland-Feldzug, die Rückkehr als Versehrter, Hoffnungslosigkeit, aber immer wieder eine helfende Hand und vor allem ein neues Ziel: die Herkunft klären, die Eltern finden. Was ihm zunächst das Leben rettet, wird zur fixen Idee, die Louis Chabos tragischerweise auch nicht aufgeben kann, als er in Ziziers im Kanton Graubünden sein Glück findet. 1830 folgt er einer Spur nach Paris, in die Stadt der Revolution, der Cholera und des neuen Bürgerkönigs Louis-Philippe:

Wenn man auf einem Zusammensetzspiel plötzlich ein Bild erkennt, müssen die Teile in der richtigen Ordnung liegen. (S. 268)

© B. Busch

Spannend und unterhaltsam erzählt
Charles Lewinsky schildert den historischen Hintergrund und das Schicksal eines Mannes auf der Suche nach seinen Wurzeln so fesselnd, lebendig und absolut rund, dass man sich bei der Lektüre mittendrin im Waisenhaus, im Gefängnis, im Krieg, im Hinterzimmer eines Apothekers, in der Psychiatrie oder bei den Pariser Lumpensammlern fühlt. Ich habe mitgefiebert, obwohl das Einstiegskapitel nichts Gutes verheißt, hätte Louis Chabos gern zugerufen, sein Glück nicht für eine Idee aufs Spiel zu setzen, aber nichts und niemand ihn hätte abhalten können.

Sein Sohn ist ein spannender, routiniert erzählter, tragischer und doch oft komischer Roman mit hohem Unterhaltungswert. Die 106 kurzen Kapitel entfalten einen Sog und fliegen geradezu vorbei, die Handlung schreitet temporeich in großen Schritten vorwärts, Geschichte reiht sich an Geschichte und die bis zum Äußersten verknappten Sätze in moderner Sprache sind leicht lesbar. Auch wenn der Roman für mich nicht an Charles Lewinskys herausragendes Buch Melnitz heranreicht und nicht ganz die Originalität von Der Halbbart aufweist, kann ich ihn doch als vergnügliche, garantiert nie langweilige Lektüre für eine breite Leserschaft sehr empfehlen.

Charles Lewinsky: Sein Sohn. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen

  Postkoloniales Marokko

Im ersten Band, Das Land der Anderen, der nach Motiven der eigenen Familiengeschichte von Leїla Slimani verfassten Trilogie steht der Zitrangenbaum symbolisch für die Familie Belhaj. Die Elsässerin Mathilde ist ihrem Mann Amine 1946 in seine Heimat Marokko gefolgt, wo nicht nur sie, sondern auch Amine und ihre Tochter Aїcha sich fremd fühlen. Sie sind wie der Zitrangenbaum mit den ungenießbaren Früchten, der Orangenbaum mit dem eingesetzten  Zitronenzweig.

Tänzer und Zuschauer
Der zweite Band, Schaut, wie wir tanzen, setzt 1968 gut zehn Jahre nach dem Ende des ersten und nach der Befreiung Marokkos aus französischer Kolonialherrschaft ein. Amine hat die ererbte karge Farm dank eiserner Willenskraft, Klugheit und Fleiß zum modernen, erfolgreichen Agrarbetrieb umgestaltet und wird von der neuen Oberschicht Marokkos umworben, die in Bildung und Auftreten den ehemaligen Kolonialherren gleicht. Wieder tanzen nur wenige, die Mehrheit schaut zu.

© B. Busch

Im April 1968 weicht der Zitrangenbaum einem Pool, sichtbares Zeichen des Aufstiegs, dem Amine jedoch misstraut:

Da begriff Mathilde, dass ihr Mann sein ganzes Leben lang Angst haben würde, man könnte ihm wieder entreißen, was er errungen hatte. Für ihn war jedes Glück unerträglich, da er es den anderen gestohlen hatte. (S. 332)

Und noch etwas bedrückt Amine, der, attraktiver denn je, Mathilde betrügt und sie dennoch auf seine Art liebt: Keines seiner Kinder wird die Farm weiterführen. Aїcha, sein Augenstern, studiert zunächst in Straßburg Medizin, heiratet 1972 den aufstrebenden Wirtschaftswissenschaftler Mehdi Daoud, Spitzname Karl Marx, und lebt als Gynäkologin in Rabat, Selim, Liebling Mathildes, ohne Ehrgeiz und vom Vater verachtet, flieht in die internationale Hippiekolonie nach Essaouira und verlässt schließlich Marokko.

Auch die Schicksale anderer bekannter Familienangehöriger verfolgt der Roman weiter: Amines zwangsverheirateter Schwester Selma, ihrer durch einen missglückten Abtreibungsversuch gezeichneten Tochter Sabah, ihrem traumatisierten Mann Mourad und Amines bei der Geheimpolizei tätigem Bruder Omar.

Alle Figuren erleben mehr Enttäuschungen als Glücksmomente und geben doch nicht auf.

Tänzer und Zuschauer
Während im Band eins die ältere Generation im Mittelpunkt stand, ist es nun die jüngere. Sie verkörpern die Widersprüche des postkolonialen Landes mit seinen enormen Unterschieden zwischen Stadt und Land, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten. Amine verehrt Hassan II und geiselt die Landflucht, die intellektuelle städtische Elite kämpft gegen die Bildungsfeindlichkeit des Königs und dessen Unterdrückung der Opposition.

Eine kongeniale Fortsetzung
Die 1981 in Rabat geborene französisch-marokkanische Gewinnerin des Prix Goncourt Leїla Slimani lebt seit Sommer 2021 für die Fertigstellung ihrer Trilogie in Lissabon, zwischen Frankreich und Marokko, um den Ablenkungen und Versuchungen in Paris entfliehen – wie beispielsweise einer Nacht im Museo Punta della Dogana in Venedig, die zu ihrem exzellenten autobiografischen Büchlein Der Duft der Blumen bei Nacht führte, aber für eine Unterbrechung ihrer Arbeit an Band eins sorgte. Dass sich der Rückzug lohnt, beweist Schaut, wie wir tanzen eindrucksvoll. Auf geniale Weise verbindet Leїla Slimani erneut Einzelschicksale und Familienschicksal mit Marokkos Suche nach einer Vision für die postkoloniale Zeit. Glaubhafte, ambivalente, sich weiterentwickelnde Charaktere, starke Frauenfiguren, eine präzise Sprache, Vielstimmigkeit und Unvoreingenommenheit machen auch diesen zweiten Band so wertvoll. Allerspätestens jetzt gehört Leїla Slimani für mich zu den wichtigsten Autorinnen der Gegenwartsliteratur.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Leїla Slimani auf diesem Blog:

   

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke

  Zwischen Wasser und Himmel

Das Heben unbekannter Schätze der nord- und osteuropäischen Literatur ist das Markenzeichen von Sebastian Guggolz und seinem Verlag. Nicht nur wegen der räumlichen Nähe und der ebenso außergewöhnlich schönen Einbandgestaltung erinnert Das Mädchen auf der Himmelsbrücke der finnischen Lyrikerin, Prosaautorin und Übersetzerin Eeva-Liisa Manner (1921 – 1996) an die wundervollen Romane des Norwegers Tarjei Vesaas (1897 – 1979), auch inhaltlich, bezüglich der lyrischen Sprache und der magischen Bilder gibt es Parallelen zu Das Eis-Schloss und Die Vögel. Umso erstaunlicher, dass von Eeva-Liisa Manner, die als Pionierin der literarischen Moderne Finnlands gilt, bisher nur einige Gedichte ins Deutsche übersetzt wurden. Nun liegt ihr Romandebüt von 1951 auf Deutsch vor und wie immer würdigt der Guggolz Verlag den Übersetzer Maximilian Murmann auf dem Einband.

Kein Märchen – trotz märchenhafter Anklänge
Die neunjährige Leena wächst bei ihrer Großmutter auf, einer von Schicksalsschlägen gebeutelten, streng protestantischen, schattenartigen Frau, die „ihre Zärtlichkeit längst aufgebraucht“ (S. 29) hat. Elternlos fühlt Leena eine Einsamkeit in sich, für die sie keine Worte findet. Sie sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, doch wenn das Schicksal ihr einen Zipfel vom Glück zuspielt, entgleitet er ihr. Der Nachbarsjunge mit den abenteuerlichen Spielen und Geschichten ist genauso aus ihrem Leben verschwunden wie der Drehorgelmann, der heißgeliebte Onkel Eevertti Anselmi kommt selten und steht unter Beobachtung seiner eifersüchtigen Frau. Nur die strenge, steinharte, ungerechte Lehrerin, die sie fürchtet, „so, wie sie alle Menschen fürchtete, die kein Lächeln besaßen“ (S. 11), bleibt neben der Großmutter eine Konstante in Leenas Leben.

Ihr Zufluchtsort ist eine Brücke über eine Meeresbucht am Stadtrand. Zwischen dem ebenso geliebten wie gefürcheten Wasser und dem Himmel kann sie ihren Sehnsüchten, Gedankenspielen und Träumen freien Lauf lassen:

Unter Wasser ziehen… Aber im Wasser konnte sie nicht leben. Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben? (S. 22)

Eine Wende scheint greifbar, als Leena bei einem Spaziergang in eine römisch-katholische Kirche kommt und dort nicht nur einer freundlichen Nonne, sondern auch der Orgelmusik von Johann Sebastian Bach begegnet. So wie der Protagonist Mattis in Tarjei Vesaas‘ Die Vögel im Balzflug der Waldschnepfe einen Wendepunkt in seinem Leben zu erkennen glaubt, so eröffnet sich auch für die von der Musik völlig überwältigte Leena eine neue Welt.

Leena – das Mädchen zwischen Wasser und Himmel mit dem Wiesenkerbel und dem violetten Regenschirm. © B. Busch

Eigene Kindheitstraumata
Das Mädchen auf der Himmelsbrücke gilt als stark autobiografischer Roman und spielt in Viipuri (Wyborg), Manners karelischer Kindheitsstadt, die Finnland im Winterkrieg 1939/40 an die Sowjetunion verlor. Im Anfangssatz nimmt sie den Verlust vorweg:

Es war einmal, nicht weit von hier und vor nicht allzu langer Zeit, ein Stück Geometrie, das zu Holz und Stein geworden war, eine Stadt, die es nicht mehr gibt. (S. 7)

Auch wenn das nur 134 Seiten umfassende, für eine Leserschaft abseits des Mainstreams bestens geeignete Büchlein mich bei Leenas Gespräch mit dem blinden Organisten kurzzeitig verlor, fand ich glücklicherweise schnell zurück in diese in luftiger Prosa konsequent aus Leenas Sicht erzählte, auf der Grenze zwischen Realität und Traum balancierende Geschichte eines empfindsamen, sehnsüchtigen Kindes.

Antje Rávic Strubel würdigt in ihrem ebenso hilfreich-informativen wie persönlichen Nachwort Autorin und Werk gleichermaßen.

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke. Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. Mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel. Guggolz 2022
www.guggolz-verlag.de