Max Richard Leßmann: Sylter Welle

  Abschiede


Max Richard Leßmann
, geboren 1991, hätte mir als Sänger, Podcaster und Instragram-Poet längst ein Begriff sein können. Da das alles jedoch außerhalb meiner Wahrnehmung lag, kannte ich ihn bis zur Frankfurter Buchmesse 2023 nicht. Erst mit einer Veranstaltung zu seinem Debütroman Sylter Welle kam es zu einer Überschneidung unserer Hemisphären und nun habe ich das autofiktionale Buch mit Freude gelesen.

Lesung mit Max Richard Leßmann auf der FBM 2023. © B. Busch

Eine Familie mit Sprengkraft
Der brennende Strandkorb auf dem pastelligen Cover von Jessine Hein warnt alle vor, die auf einen harmonischen Familienroman im idyllischen Sylt hoffen: Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Dass einem beim Lesen die einzelnen Mitglieder trotzdem wider Willen allmählich ans Herz wachsen, ist das Verdienst von Max Richard Leßmanns liebevoll empathischer Art der Beschreibung menschlicher Stärken und Schwächen, seiner genauen Beobachtungsgabe und seinem Sinn für (Selbst-)Ironie. Jedes Familienmitglied hätte die Darstellung der anderen gelobt, mit der eigenen jedoch gehadert, berichtete der Autor auf Buchmesse. Wobei bewusst offen bleibt, welche kleineren Teile des Romans der Fiktion entspringen.

Ein letzter Sylturlaub
Fast 20 Jahre lang besuchte Max seine Großeltern im Sommerurlaub auf dem Wennigstedter Campingplatz, fernab von der Schickimicki-Szene Kampens und – Sparsamkeit als oberstes Gebot – ohne offizielle Anmeldung. Nun haben die Großeltern altershalber ihren Wohnwagen verkauft und sich in einer hässlichen Beton-Bettenburg mit Meerblick namens Sylter Welle unweit des gleichnamigen Spaßbades in Westerland eingemietet, erstmals ohne selbst angebaute Kartoffeln im Gepäck. Es soll ihr letzter Sylturlaub sein und Enkel Max besucht sie für drei Tage, über denen Abschiedsstimmung liegt. Einerseits scheinen ihm Oma Lore und Oppa Ludwig seit 30 Jahren optisch und mit ihren Eigenarten unverändert und „Enkel bleibt man für immer“ (S. 14), andererseits sind die Zeichen mentalen und körperlichen Verfalls des Großvaters unübersehbar und erfordern einen phasenweisen Rollentausch.

„Wen von diesen ganzen Leuten würdest du eigentlich mögen, wenn es nicht deine Familie wäre?“ (S. 157)
Oma Lore ist seit jeher die „Feldherrin unserer ganzen Familie“ (S. 49), der nicht einmal die heißblütige Schwiegertochter Paroli bieten kann:

Meine Mutter ist eine sture Frau. Aber Oma Lore ist nun einmal sturer. (S. 16)

Härte ist ihr Markenzeichen, Anerkennung erntet Max höchstens, wenn er sich ihren Fütterungsattacken bis zur halben Bewusstlosigkeit gewachsen zeigt, Mitleid gab es nicht einmal bei einem Badeunfall im Teenageralter („Du tust dir doch selbst schon leid genug“, S. 125), dafür sahen die Großeltern schwarz für die Zukunft des „unkontrollierten“ Enkels: „zu laut, zu frech, zu viel“ (S. 107). Nach und nach erklärt sich vieles, was zu Beginn abschreckt, aus der Biografie der Großeltern. Die Flucht des Großvaters als Kind aus Schlesien, seine Verstoßung aus der Familie, weil er eine Westfälin mit der falschen Religion heiratete, zwei Krebserkrankungen der Großmutter und der Verlust von zwei Kindern machen ihre symbiotische Obsession für Stabilität, regelmäßige Mahlzeiten, heterosexuelle Partnerschaften und bürgerliche Berufe mit geregeltem Einkommen zumindest verständlich:

[…] weil Dinge, die mir anderenorts unerträglich scheinen, bei meinen Großeltern zumindest gerade so eben aushaltbar waren.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist das eine ziemlich präzise Definition von Liebe. (S. 82)

Ein weiterer Abschied liegt in der Luft, auch wenn Max sich dem noch zu entziehen versucht:

Wenn die Ignoranz meiner Großeltern unsterblich ist, dann sind sie es ja vielleicht einfach auch. (S. 217)

Ein empfehlenswertes Erinnerungsbuch mit der richtigen Balance zwischen Lachen und Wehmut.

Max Richard Leßmann: Sylter Welle. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

Alex Schulman: Skynda att älska

  Verdrängte Trauer

Die Bücher von Alex Schulman begleiten mich seit 2021, als mit Die Überlebenden sein erster Roman auf Deutsch erschien, gefolgt 2022 von Verbrenn all meine Briefe und Endstation Malma 2023. Noch nicht ins Deutsche übersetzt sind die Titel über seine Eltern: Glöm mig, das Buch über seine alkoholabhängige Mutter aus dem Jahr 2016, und  Skynda att älska über seinen Vater von 2009. Nur elf Tage hat er für dieses Debüt gebraucht, zwei Jahre dagegen für Endstation Malma. Mit dem sehr berührenden, zarten und nachdenklichen Buch über seine Beziehung zu seinem Vater Allan Schulman (1919 – 2003), einem in Schweden sehr bekannten TV- und Radio-Produzenten und -Regisseur, überraschte der 1976 geborene Alex Schulman seine Landsleute, die ihn bis dahin als Enfant terrible der Blogger- und Zeitungswelt kannten.

Foto: © B. Busch. Buchcover: © Månpocket und Bookmark

Fünf Jahre Verdrängung
Im Jahr 2008, fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters, fuhr Alex Schulman erstmals wieder ins Sommerhaus der Familie nach Värmland. Dort, wo er alle Sommer zwischen sechs und achtzehn verbracht hatte, war der Vater präsent wie sonst nirgendwo. Weil er weiterhin nicht über ihn reden oder sich in seinem Zimmer aufhalten konnte und schwere Jahre mit unverständlichen Entscheidungen hinter sich hatte, suchte er nach diesem missglückten Besuch einen Therapeuten auf. Bei der Beerdigung war er nicht zusammengebrochen, nun erkannte er, dass dieser Triumpf keiner war:

Det tog fem år för mig att inse att den sanna triumfen ligger i att faktist göra det. (S. 226)

[Ich habe fünf Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass der wahre Triumph darin liegt, es tatsächlich zu tun.]

Vertauschte Rollen
Zwei Besuche im Sommerhaus im Abstand von drei Monaten bilden den Rahmen des Buches mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Der Vater war bei Alex Schulmans Geburt bereits 56 Jahre alt, 32 Jahre älter als die Mutter, hatte vier erwachsene Kinder und betrachtete die neue Familiengründung als zweite Chance. Wie rote Fäden ziehen sich Gespräche von Alex Schulman mit seinem Therapeuten durchs Buch, ebenso der ab 1987 alljährlich an Mittsommer vom Vater für seine drei jüngsten Söhne veranstaltete Coca-Cola-Cup. Zunehmend wurde dieser Fußballwettbewerb zum Kampf gegen dessen Alter und passten die Söhne die Regeln zu seinem Schutz an. Früh war sich Alex Schulman der Unterschiede zu den Vätern seiner Kameraden bewusst, sorgte sich schon als Kind um ihn, litt unter dem Spott der Mitschüler, spürte die väterliche Angst vor dem Tod und beschützte ihn zusammen mit seinen Brüdern, was in den Worten des Therapeuten einer Umkehrung der Rollen gleichkam:

Du blev pappa till din pappa. (S. 122)

[Du bist zum Vater deines Vaters geworden.]

Alex Schulman auf der Frankfurter Buchmesse 2023. © B. Busch

Der Titel Skynda att älska (Beeil dich zu lieben) stammt aus der wunderbar wehmütigen Höstvisa (Herbstweise) der finnland-schwedischen Schriftstellerin Tove Jansson (1914 – 2001), einem Lieblingslied des in Helsinki geborenen Vaters. Das Buch liest sich wie ein langer Abschiedsbrief an einen Mann, der die Familie mit der Stoppuhr kontrollierte, beruflich als Choleriker galt und trotzdem ein liebevoller Vater war. Dass er die Alkoholsucht der Mutter ignorierte und die Söhne nicht vor den dramatischen Folgen schützte, erfährt man erst im nach ihrem Tod entstandenen Glöm mig.

Ergreifend Trauer
Wie in allen Büchern von Alex Schulman war ich ab dem ersten Satz mitgerissen von den lebendigen Szenen, der glasklaren Sprache und den Reflexionen, der Schilderung von herzergreifender Trauer und der klugen Struktur – alles beinahe schon wie in seinen späteren Romanen, in denen man viele Parallelen zur Biografie findet.

Alex Schulman: Skynda att älska. Månpocket 2009
www.bonnierforlagen.se

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:

  Schulman    

Uwe Timm: Alle meine Geister

  Handwerk und Schreiben

Der die Existenz bestimmende Zufall bringt die Freiheit der Wahl mit sich, jemand, der ein gutes Blatt bekommen hat, kann ein schlechtes Spiel machen und verlieren, ein anderer mit schlechten Karten macht ein gutes, überlegtes Spiel und gewinnt. (S. 164)

Ein Buch des 1940 in Hamburg geborenen Uwe Timm zur Hand zu nehmen, heißt für mich, mit den ersten Sätzen in der Lektüre anzukommen. Besonders gilt das für seine Erinnerungsbücher. Alle meine Geister reiht sich zeitlich nach Am Beispiel meines Bruders (2003) ein, in dem Uwe Timm auf höchst ergreifende Weise dem Schicksal seines 1943 gefallenen Bruders nachspürt und der Frage, warum der sich als 18-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS meldete. Am Ende von Alle meine Geister steht der Aufbruch aus der Enge Hamburgs ans Braunschweig-Kolleg, wo Uwe Timm sich ab 1961 zusammen mit Benno Ohnesorg auf sein Abitur vorbereitete, Stoff von Der Freund und der Fremde (2005).

Foto: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Kein Wunschberuf
Den Beruf des Kürschners hatte sich Uwe Timm nicht ausgesucht, genauso wenig wie sein Vater, dessen Einstieg in die Selbstständigkeit im Pelzgeschäft der Fund einer Pelznähmaschine im Nachkriegs-Hamburg war. Nun wurde der Sohn, der einer Rechtschreibschwäche wegen nach väterlicher Ansicht nicht zum Abitur taugte, als knapp Fünfzehnjähriger beim soliden Hamburger Pelz- und Modehaus Levermann in die Lehre geschickt – als Nachfolger für Pelze Timm.

Prägende Jahre verbrachte der junge Uwe Timm in der streng hierarchisch geprägten Werkstatt nahe dem Rathaus, lernte die heute nahezu vergessenen Fertigkeiten, das Vokabular und die jahrhundertealten Geheimnisse der Kürschnerei, hörte die Geschichten der Meister, Gesellen, Näherinnen und Kundinnen von Krieg, Heldentum, Flucht und Vertreibung, aber auch vom Jazz und von Amerika. Heimlich frönte er im Sortierzimmer dem „zufällige[n], anarchistisch[en] Lesen“ (S. 272) von Roald Amundsen über Salinger, Benn, Dostojewski, Tostoi und Schopenhauer bis Brecht, Camus, Bachmann und Heißenbüttel. Der SS-Staat von Eugen Kogon, entliehen vom Meister Walther Kruse, befeuerte den Dauerkonflikt mit dem Vater über das Schweigen im Nationalsozialismus. Der frühe Tod des Vaters 1958 kurz nach der mit Auszeichnung bestandener Gesellenprüfung des Sohnes beendete nach drei Monaten dessen Besuch des Abendgymnasiums. Obwohl er Pelze Timm bis 1960 in die schwarzen Zahlen zurückführte, übergab Uwe Timm das Geschäft an seine Mutter, um ab 1961 in Braunschweig die Voraussetzungen für ein Studium und die erträumte Schriftstellerlaufbahn zu schaffen.

Foto und Collage: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Die Möglichkeit des Gelingens
Ich habe auch dieses dritte Erinnerungsbuch von Uwe Timm mit Freude und Begeisterung gelesen und ihm beim Staunen über Erinnern und Vergessen über die Schulter geblickt:

Wie eigentümlich sich Details, ohne ihre tiefere Bedeutung zu verraten, in unsere Erinnerung beharrlich gegen das Vergessen verkapseln. (S. 123)

Alle meine Geister ist eine Hommage an eine, durch veränderte Umstände auch in den Augen des Autors glücklicherweise untergegangene Handwerkstradition, eine Sammlung von Anekdoten und empathisch gezeichneten Porträts, Nachkriegsgeschichte, Entwicklungs- und Bildungsroman und vor allem Zeugnis der Faszination für gute Literatur:

Das Erstaunliche ist, dass diese hohe Perfektion nicht entmutigt, sondern ein Versprechen auf die Möglichkeit des Gelingens gibt… (S. 177)

Mit den als Kürschner erlernten Fähigkeiten des sorgfältigen Sortierens und ästhetischen Anordnens hat Uwe Timm hier ein exakt solch gelungenes Stück Literatur geschaffen.

Interview und Lesung mit Uwe Timm am 10.11.2023 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation: Olaf Petersen, ehemaliger Lektor von Uwe Timm. © M. Busch

Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen und einem Kinderbuch von Uwe Timm auf diesem Blog:

           

Stephanie Bishop: Der Jahrestag

  Tragödie auf hoher See

Nicht jede Wahrheit kann fiktional erfasst werden, aber ich weiß, dass ich mir selbst gegenüber ehrlicher bin, wenn ich einen fiktionalen Text schreibe, als wenn ich vorgebe, die Wahrheit zu sagen. (S. 423)

Eine Kreuzfahrt zum 14. Hochzeitstag soll die Ehe der erfolgreichen Schriftstellerin Lucie, Künstlername J.B. Blackwood, und dem bekannten Filmregisseur Patrick Heller retten. Was an einer australischen Universität als Beziehung zwischen einer 24-jährigen Studentin und ihrem allseits verehrten, charismatischen britischen Dozenten begann und jahrelang ihrer beider Arbeit bestens befruchtete, endet nahe der russischen Halbinsel Kamtschatka mit einer Tragödie. Was geschah während des Sturms an Deck der „Adventure of the Seas“ wirklich und wie konnte es dazu kommen?

Jegliche Einschätzung dessen, was zeitgleich geschieht, wird durch das, was davor geschah, kontextualisiert. (S. 326)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © dtv

Wahrheit und Fiktion
Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Leserinnen und Leser ausschließlich auf Lucies Bericht angewiesen, in deren Kopf wir uns über die gesamten 461 Seiten des Romans befinden. Er erweist sich schnell als ebenso fragwürdig wie absichtsvoll. Die australische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Sarah Bishop, die im britischen Norwich lebt und dort kreatives Schreiben unterrichtet, liefert uns einer durch und durch unzuverlässigen Erzählerin aus, bei der Wahrheit und Fiktion ein undurchdringliches Dickicht bilden. Immer wieder erzählt Lucie Episoden auf unterschiedliche Art und Weise, flüchtet mit ihrer diffusen Erzählstimme in kleinteilige Details, um vom Wesentlichen abzulenken, und streut selbst Zweifel an ihrem Erinnerungsvermögen und an ihrer Glaubwürdigkeit, wie hier bei der Vernehmung durch die japanische Polizei:

Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich nur allzu oft meine eigene Version des Erlebten in Zweifel ziehe. (S. 47)

Ungleiche Machtdynamik
Der Jahrestag kein Krimi, wie man vielleicht vermuten könnte. Eher handelt es sich um einen Ehe- und Künstlerroman, der das Machtgefälle in einer Beziehung thematisiert, in der der männliche Teil wesentlich älter und bereits erfolgreich ist, während die weibliche Karriere erst beginnt. Die scharfsinnigen, bisweilen von subtilem Humor grundierten Überlegungen zu patriarchalen Strukturen in Ehe und Literaturbetrieb und zur Frage, wieviel autobiografisches Schreiben und weiblichen Erfolg eine Ehe verträgt, sowie zu den Unterschieden zwischen Literatur und Film sind das Plus des Romans.

Opfer oder nicht?
Allerdings hat mich weder der Plot noch die Protagonistin überzeugt, die für mich als Figur nicht schlüssig ist. Nie hatte ich ein Bild von ihr vor Augen, genausowenig wie von ihrem Roman, der im Buch eine entscheidende Rolle spielt, selten gelang es mir, äußere Geschehnisse und Erzählinhalt zusammenzubringen. Weder die Opferrolle noch die ständig betonte Schwäche oder die Klagen über Fremdbestimmung habe ich ihr geglaubt. Im Gegenteil hat mich das Fehlen jeglicher Selbstkritik, die permanenten Anklagen und die Ungereimtheiten, wenngleich beabsichtigt, zunehmend ermüdet. Bei einigen Details habe ich mich gefragt, was unzuverlässige Erzählstimme und was mangelnde Recherche der Autorin ist.

Interessant sind dagegen die vielen Schauplätze auf verschiedenen Kontinenten von Großbritannien über Japan, die USA und Australien, die gut zu Lucies Atemlosigkeit passen. Erst auf den letzten Seiten ändert sich der Erzählton, passend zu ihrer neuen Situation, was für mich allerdings die Frage nach der Erzählzeit des Hauptteils aufwirft.

Der Jahrestag ist die perfekte Lektüre für alle, die beim Lesen gerne rätseln. Mir waren es einige Rätsel und Ungereimtheiten zuviel.

Stephanie Bishop: Der Jahrestag. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. dtv 2023
www.dtv.de

Willa Cather: Lucy Gayheart

  Was bleibt

 

Zu ihrem 150. Geburtstag beschenkt der Verlag Manesse die amerikanische Autorin Willa Cather (1873 – 1947) und sein Publikum mit einer wunderschönen Neuausgabe ihres elften Romans Lucy Gayheart im bekannt kleinen Format mit bunter Fadenheftung und Lesebändchen. Über 60 Jahre alt und bereits mit dem Pulitzer-Preis dekoriert war die Autorin 1935 beim Erscheinen ihres vorletzten Romans, mehr als dreimal so alt wie ihre Protagonistin.

Erinnerungen
Bereits zu Beginn erfahren wir, dass Lucy Gayheart für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres fiktiven Heimatstädtchens Haverford, Nebraska, nur noch als schöne Erinnerung weiterlebt. Gerne denken sie an den Wirbelwind zurück, der unbekümmert, heiter, charmant, voller Romantik war. Im Winter liebte sie das Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Platte River, eine Vorliebe, die so gut zu ihrem Wesen passte wie das Schaukeln zu Theodor Fontanes Effi Briest. Gelegentlich schloss sich ihr der acht Jahre ältere, vermögende Kleinstadtbankier Harry Gordon an, ein junger Mann, der eine bessere Partie hätte machen können, doch wie alle Haverforder dem Zauber Lucys seit langem erlegen war und allgemein als ihr zukünftiger Ehemann galt.

Foto: © B. Busch. Cover: © Manesse

Eine Begegnung, die alles verändert
In den Weihnachtferien 1901 war Lucy, die inzwischen im entfernten Chicago Klavier studierte und Musikunterricht erteilte, zurück in Haverford. Ungezwungen, fast noch kindlich glitt sie mit Harry über den zugefrorenen Fluss, aber etwas hatte sich verändert. Nun freute sie sich mehr als sonst auf die Rückkehr in die Großstadt, nicht nur wegen ihres eigenen Zimmers, dank dem sie „frei wie ein junger Mann kommen und gehen“ (S. 32/33) konnte, sondern auch wegen eines Vorstellungstermins beim bekannten Bariton Clement Sebastian, der eine Klavierbegleitung für seine Übungsstunden suchte. Ein Besuch seines Konzertes im letzten Herbst hatte sie spontan für diesen knapp fünfzigjährigen, verheirateten Künstler entflammt, überwältigt von seiner ausdrucksstarken Vortragsweise des Schubert‘schen Liedguts und seiner schwermütigen Ausstrahlung. Verändert kehrte sie an diesem Abend in ihr Zimmer zurück:

Vom ersten Tag an war sie in Chicago glücklich gewesen und hatte sich für vom Schicksal begünstigt gehalten, weil sie aus ihrem kleinen Heimatort in die große Stadt hatte fliehen können […]. Aber jene Zeiten lagen weit zurück. An dem Abend, als sie zum ersten Mal Clement Sebastian gehört hatte, begann für sie ein neues Leben. Zuvor hatte sie nur mit Nichtigkeiten und Träumereien herumgespielt. (S. 113/114)

Von nun an hing Lucys Glückseligkeit von der Anwesenheit dieses Mannes in der Stadt ab, pendelnd zwischen Hoffen und Bangen. Über ein Jahr – bis zur Weihnachtszeit 1902 – folgt man lesend und bangend ihrem Schicksal in Chicago und Haverford und schließlich, im dritten Teil des Romans, den Gedanken des nachdenklichen, veränderten Harry Gordon von 1927, die das Buch äußerst gekonnt abrunden.

Fußspuren
Begeistert und ergriffen habe ich diesen modernen, überhaupt nicht verstaubten Klassiker über drei Menschen mit völlig unterschiedlicher Beziehung zur Zeit gelesen. Während Sebastian der Vergangenheit nachhängt, träumt Lucy von der Zukunft und will Harry die Gegenwart beherrschen. Obwohl von zarter Melancholie durchzogen, ist es dank Willa Cathers überragender Erzählkunst kein trauriges Buch. Mit wunderbaren Bildern aus der Musik und der Natur Nebraskas, in denen sich die Stimmungen und das Gefühlsleben der Haupt- und Nebenfiguren spiegeln, erzählt sie völlig ohne Kitsch eine zu Herzen gehende Geschichte über hochfliegende Träume. Sie wird die Zeit ebenso überdauern wie die sorgsam von Harry gehüteten Fußabdrücke der übermütigen Dreizehnjährigen im noch nicht festen Beton vor ihrem Haus.

Willa Cather: Lucy Gayheart. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elisabeth Schnack. Für die Neuausgabe durchgesehen von Susann Ostwald. Nachwort von Alexa Hennig von Lange. Manesse Verlag 2023
www.penguin.de/Verlag/Manesse

Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe

  Endloses Elend

Seit 2016 stellt die Redaktion des schwedischen Bonniers Buchklub eine Liste mit zwölf schwedischen oder ins Schwedische übersetzten Titeln von hoher sprachlicher Qualität zusammen, die sich für ein breites „Årets bok„. Zwei der Siegertitel habe ich mit großer Freude gelesen: 2017 erhielt Alex Schulman den Preis für Glöm mig, 2021 Ann-Helén Laestadius für Stöld, in deutscher Übersetzung Das Leuchten der Rentiere. Meine Erwartungen waren daher beim Gewinnertitel von 2022 Dit du går, följer jag, dem Debüt der 1977 geborenen Physiologie-Professorin und schwedischen Parlamentsabgeordneten Lina Nordquist, im Diogenes Verlag als Mein Herz ist eine Krähe erschienen, hoch.

Zwei Frauenleben
Unni und Kåra, die sich kapitelweise als Ich-Erzählerinnen abwechseln, stehen im Mittelpunkt des Romans. Obwohl sie sich nie begegnen, sind ihre Schicksale eng miteinander verbunden. Beiden droht aus unterschiedlichen Gründen die Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt, beide leben, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, in derselben Bauernkate in Hälsingland, die sie schließlich verlassen, und beide lieben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, den selben Mann: Roar. Er ist der dritte, leider jedoch stumme Protagonist.

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Diogenes

Unni
1897 muss Unni, die wegen ihrer Heilkunde von der Kirche und der Justiz verfolgt wird, aus dem norwegischen Trondheim fliehen. Zusammen mit ihrem einjährigen unehelichen Sohn Roar und ihrem Geliebten Armod wandert sie bis ins schwedische Hälsingland. Dort beziehen sie eine leerstehende Bauernkate auf einer sonnigen Waldlichtung, die sie „Frieden“ nennen, doch der kehrt nicht ein. Erdrückende Schulden beim Waldbauern, Wetterkapriolen, schwierige Böden, furchtbare Hungerperioden, Elend, Tod und unvorstellbare Gewalt lassen Unni oft verzweifeln, „Herbstbangen“, „Winterdarben“ und „Frühlingshunger“ (S. 136) wechseln sich in Endlosschleife ab:

Es nahm kein Ende. (S. 319)

Kåra
Über 70 Jahre später bereiten Roars Schwiegertochter Kåra und dessen Witwe
Bricken seine Beerdigung vor. Kåra, psychisch krank seit Kindertagen, inzwischen verwitwet, hat einst geheiratet, um der Einweisung in eine Anstalt zu entgehen. Sie ist abhängig von Psychopharmaka, angstgestört, missmutig und selbstmitleidig, verabscheut die freundliche Schwiegermutter, geht bei Menschen wie Tieren über Leichen und streut wiederholt Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erzählung. Was also ist wahr an ihrer angeblichen Liebesbeziehung mit Roar?

Ein zwiespältiges Fazit
Legt man die Kriterien für das „Årets bok“ zugrunde, so erfüllt Mein Herz ist eine Krähe die sprachlichen Anforderung klar. Lina Nordquist beschreibt die ebenso atemberaubend schöne wie lebensbedrohliche Natur, Stimmungen und Licht poetisch, bildstark und lebendig. Auch die Schilderung der existentiellen Nöte Unnis hat mir, bevor sie in der zweiten Romanhälfte zu gehäuft und zu detailliert brutal wurde, gefallen. Bei den Wendungen der beiden Erzählstränge, beim Übermaß an Dramatik, bei der Logik, der klischeehaften, statischen Charakterzeichnung und beim Plot hat der Roman jedoch für mich ernüchternde Schwächen und die zweite Hälfte fällt deutlich gegen die erste ab. Selbst wenn man über diverse Zufälle hinwegsieht, handeln die Figuren an entscheidenden Stellen weder zu ihren körperlichen Möglichkeiten noch zu ihrer charakterlichen Beschreibung passend. Schade, denn mit dem Interesse von Lina Nordquist an sozialen und gesundheitspolitischen Fragen und am Schicksal stigmatisierter Frauen früher und heute wäre mehr möglich gewesen. Dafür hätte es allerdings mehr Tiefe, Subtilität und Glaubwürdigkeit, dafür weniger Effekthascherei und Holzhammer gebraucht.

Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe. Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen, die in Schweden als „Årets bok“ ausgezeichnet wurden:

2017
2021

 

Joseph O’Connor: In meines Vaters Haus

  Ein literarischer Thriller mit wahrem Kern

Während eines Irland-Urlaubs 2016 entdeckte ich beim Besuch des Museums „The Old Barracks“ in Cahersiveen am Ring of Kerry eine Erinnerungstafel für den irischen Priester Hugh O’Flaherty, verehrt für seinen Widerstandskampf gegen die Wehrmacht während der Besetzung Roms zwischen September 1943 und Juni 1944. Auf dem Friedhof des Städtchens liegt das Grab dieses beeindruckenden Mannes, der mit einer Gruppe mutiger Gleichgesinnter mehrere Tausend Juden, aus italienischen Kriegsgefangenenlager geflüchtete alliierte Soldaten und andere Verfolgte vor der SS versteckte. Bekannt war er mir aus dem amerikanischen Fernsehfilm Im Wendekreis des Kreuzes von 1983 mit Gregory Peck in der Hauptrolle und Christopher Plummer als dessen Gegenspieler Standartenführer Herbert Kappler.

Links: Gedenktafel im Museum von Cahersiveen, rechts: Grab von Hugh O’Faherty auf dem Friedhof Cahersiveen, © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © C.H.Beck

Keine Biografie
Inspiriert vom Leben Hugh O’Flahertys, aber ausdrücklich keine Biografie, ist der Roman In meines Vaters Haus von dessen irischem Landsmann Joseph O’Connor:

Obwohl reale Personen und Ereignisse […] mich inspiriert haben, handelt es sich in erster Linie um einen Roman. Bei Fakten, Charakterisierungen und Chronologie habe ich mir Freiheiten herausgenommen. (Vorbehalt, Bibliografie, Danksagung S. 379)

Entsprechend sind in diesem als literarischer Thriller angelegten Buch sowohl der Haupthandlungsstrang, die Vorbereitung, der Countdown und die Durchführung einer Rendimento genannten Aktion in der Heiligabendnacht 1943, als auch die authentisch wirkenden Dokumente dazwischen nahezu vollständig fiktiv.

Ein Spiel auf Leben und Tod
Romankulisse ist das von der Wehrmacht besetzte, vom berüchtigten Gestapo-Chef Obersturmbannführer Paul Hartmann regierte Rom. Ihm untersteht die Stadt, nicht aber der Vatikan als neutrale Enklave, weshalb er der Widerstandsgruppe um den Monsignore Hugh O’Flaherty, die sich in ihrem engsten Kern als Chor tarnt, trotz des Drucks von Adolf Hitler nicht beikommt. Hartmann schäumt vor Wut, es beginnt ein Katz- und Mausspiel auf Leben und Tod.

Ein eingeschworener Chor
Mitglieder des engsten Kreises um den Priester sind die jung verwitwete Contessa Giovanna Landini, die Frau des irischen Gesandten Delia Kiernan, der britische Botschafter Sir D’Arcy Osborne und sein Diener John May, der italienische Kioskbesitzer und Kommunist Enzo Angelucci, die barbituratabhängige Journalistin Marianna de Vries und der britische Major Sam Derry. Trotz ihrer ethnischen, sozialen, intellektuellen und politischen Verschiedenheit einen sie die Freundschaft mit Hugh O’Flaherty und ihre gemeinsame Mission. Abwechselnd berichten sie rückblickend in den frühen 1960er-Jahren, wie sie den von Güte und Glauben durchdrungenen, unkonventionellen Mann kennenlernten, und berichten aus ihrer Sicht vom Rendimento.

Lebendige Charaktere und viel Sprachwitz
Joseph O’Connor trägt bei den Wendungen in der Weihnachtsnacht dick auf und beschreibt jeden von Hugh O’Flahertys Schritten durch gespenstige Keller, unterirdische Tunnel, dunkle Seitenstraßen und Hinterhöfe, über den Tiber und an den Wachen vorbei. Als Nicht-Thrillerleserin war mir diese Schilderung in Summe zu viel. Großartig sind jedoch die Figurenzeichnungen, die jede Person mit einer eigenen, unverwechselbaren Stimme lebendig werden lassen, und der überbordende Sprachwitz, selbst in Situationen von höchster Gefahr.

In meines Vaters Haus ist eine spannende Lektüre über ein in Deutschland wenig bekanntes Stück Kriegsgeschichte mit einem ebenso beeindruckenden wie sympathischen Helden, fiktional erzählt und im Kern doch wahr. Es ist der erste Band einer Rome Escape Line Trilogie, die hoffentlich bald eine Fortsetzung findet.

Joseph O’Connor: In meines Vaters Haus. Aus dem Englischen von Susann Urban. C.H.Beck 2023
www.chbeck.de

Alex Schulman: Endstation Malma

  Wenn Familie kein Schutzraum ist

Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman Endstation Malma eindeutig um Fiktion handelt, sind viele Splitter und Spuren aus seinen autobiografischen Werken zu finden. Sie zu entdecken, hat mir beim Lesen Freude gemacht, notwendig zum Verständnis ist dies jedoch nicht.

Alles läuft in Malma zusammen
Drei Generationen nehmen den Zug ins abgelegene, verlassene Örtchen Malma, mehrere Stunden von Stockholm entfernt. Sie reisen nicht gleichzeitig, wie man zunächst glaubt, sondern im Abstand vieler Jahre. Drei Namen stehen abwechselnd über den 28 Kapiteln: Harriet, Oskar und Yana. In den 1970er-Jahren fährt Harriet mit ihrem Vater Bo zu einem Begräbnis dorthin, 2001 ist Harriets Ehe am Ende, trotzdem überredet sie ihren Mann Oskar, sie nach Malma zu begleiten, und etwa fünfzig Jahre nach der ersten Fahrt versucht deren Tochter Yana dort, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Mit den Perspektivwechseln verschwimmen – sicher vom Autor beabsichtigt – Generationen und Zeitebenen, alles scheint parallel zu verlaufen und man braucht beim Lesen viel Konzentration. Harriets Ur-Katastrophe, als beide Eltern bei der Scheidung ihre Schwester präferierten, zerstörte sie, ließ sie den falschen, da ebenfalls traumatisierten Partner wählen und setzte sich generationenübergreifend fort. Was wird aus einem verschmähten Kind? Wie stark prägt die Kindheit unser Verhalten? Welchen Folgen hat es, wenn Väter ihre Liebe nicht zeigen können und Mütter verschwinden? Wann verliert man sein Kind? Und: Welches Geheimnis liegt in Malma begraben?

Foto: © B. Busch. Cover: © dtv

Düster, aber nicht hoffnungslos
Alex Schulman, Bestsellerautor in Schweden und mittlerweile vielfach übersetzt, Blogger, Podcaster und Regisseur seines eigenen Theaterstücks am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm, verhehlt nicht, dass sein Schreiben selbsttherapeutische Bedeutung hat. Harriets Mantra „You are not alone“ vermag hoffentlich Betroffene aus desolaten Familien stützen. Mich als Nicht-Betroffene setzt die Schulmansche Literatur Erfahrungen aus, die ich sonst eher meiden würde, lässt mich in eine dunkle, verstörende Welt blicken und schafft Verständnis für Verhaltensmuster traumatisierter Menschen. Was Alex Schulmans Bücher über andere, nicht weniger düster-dramatische Kindheits-Literatur hinaushebt, ist sein außergewöhnlich scharfer Blick für kindliche Verletzlichkeit und Sensibilität und die  lebenslang offenen Wunden durch Nichtbeachtung und Zurückweisung. Weder Harriets Taktik der beständigen Rückschau, noch Oskars Versuch, die Vergangenheit abzuhaken, die Opferrolle abzustreifen und in die Zukunft zu blicken, vermag zu befreien, und so wird das Trauma an die Tochter Yana weitergereicht. Dass bei ihr zuletzt zarte Hoffnung auf Versöhnung aufkeimt, ist der Lichtblick im Roman.

Alex Schulman auf der Frankfurter Buchmesse 2023. © B. Busch

Puzzlestein für Puzzlestein
Man kann Endstation Malma die auffällige Konstruktion vorwerfen oder das offensichtliche Bestreben, alle Leserinnen und Leser für das Thema zu gewinnen, auch mit Einsatz von Thriller-Elementen. Nichts davon hat mich gestört. Mir gefallen die Virtuosität, mit der Alex Schulman die Puzzlesteine ineinanderfügt, seine Fähigkeit, schleichendes Unbehagen zu erzeugen und sein eleganter Stil. Vorzüglich gelingt der Übersetzerin Hanna Granz die Übertragung der klaren, wohlklingenden Melodie des schwedischen Originals. Wie gut allerdings, dass den unerträglichen Schockmomenten und verstörenden Grausamkeiten so wunderbare Beobachtungen aus dem Zugfenster wie diese gegenüberstehen:

Aus dem Lautsprecher eine Durchsage, der Streckenabschnitt vor ihnen sei eingleisig, sie müssten auf einen entgegenkommenden Zug warten. Sie stehen inmitten einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter ansteigt, ertrinken sie. (S. 16)

Ein Lese-Highlight!

Alex Schulman: Endstation Malma. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv 2023
www.dtv.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:

  Schulman  

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

  Überall Risse

2011 brachte ihr zweiter Roman The Buddha in the Attic der 1962 in Kalifornien als Kind japanisch-stämmiger Eltern geborenen Julie Otsuka den internationalen Durchbruch. Auch ich war 2012 begeistert von der deutschen Übersetzung Wovon wir träumten. Einerseits interessierte mich die Thematik der Japanerinnen, die in den 1920er-Jahren als Bräute für die japanischen Einwanderer in die USA kamen, andererseits erzeugten die Erzählweise aus der Wir-Perspektive, die trotzdem Raum für Einzelschicksale ließ, und der besondere Rhythmus einen ungeheuren Sog.

In dieser Wir-Perspektive, die Julie Otsuka perfekt beherrscht, ist auch die erste Hälfte ihres dritten Romans Solange wir schwimmen verfasst, erneut ausgezeichnet übersetzt von Katja Scholtz.

Im ersten Kapitel,Das Schwimmbad unter der Erde“, berichtet ein Chor aus Stammgästen eines unterirdischen Swimmingpools von der Leidenschaft für das Schwimmen, von unterschiedlichen Schwimm-Typen, die man selbst bei jedem Schwimmbadbesuch trifft, von strikten Regeln und eingefahrenen Routinen. Noch ist Alice nur eine unter vielen:

Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert und daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. (S. 9)

„Der Riss“ auf dem Beckengrund, der sich allmählich vervielfacht, unterbricht in Kapitel zwei jäh die Idylle unter der Erde, im Schwimmkollektiv macht sich Verunsicherung breit, Gerüche, Hypothesen und Antithesen kochen hoch. In der Mitte des nur knapp 160 Seiten umfassenden Romans wird das Bad geschlossen, als letzte steigt Alice aus dem Wasser.

In der allgemeinen Trauer trifft der Bruch ihrer Alltagsroutine Alice besonders hart. Auch durch das Buch geht ein Riss und im dritten Kapitel, „Diem Perdidi“, wechselt die Erzählperspektive von „wir“ zum „sie“. Nun erzählt Alice‘ Tochter über ihre Mutter: was diese noch weiß, und welche Erinnerungen ihr aufgrund des Risses im Kopf verlorengegangen sind. Der Humor der ersten beiden Kapitel weicht der Tragik. Diese Rückblicke der Schriftsteller-Tochter haben mir gut gefallen.

Dann allerdings folgte in Kapitel vier, „Belavista“, mein persönlicher Riss, denn in der direkten Ansprache des Pflegeheims an die neue Bewohnerin Alice hat das Buch mich leider verloren. Dieser Abschnitt strotzt vor unerträglichem, überspitztem Zynismus und machte mich wütend. Der geschäftsmäßige Ton der „gewinnorientierte[n] Langzeit-Pflegeeinrichtung“ (S. 88 ) schürt Ängste und setzt Angehörige von Heimbewohnerinnen und -bewohnern unter Rechtfertigungsdruck. Keinerlei Berücksichtigung findet hier, dass Alice für ihre eigene, sehr geliebte Mutter genau diese Einrichtung wählte, und dass nicht jede auf den ersten Blick abschreckende Maßnahme im Umgang mit Dementen falsch ist.

Entsprechend hat mich das abschließende fünfte Kapitel, „EuroNeuro“, geschrieben in einer von sich selbst distanzierenden Du-Perspektive, kaum mehr erreicht. Die Krokodilstränen einer schuldbehafteten Tochter, die jahrelang wenig Kontakt zur Mutter hatte und nun mit ihrem Zu-Spät-Kommen hadert, ließen mich vergleichsweise kalt. Die auf dem Buchrücken postulierte „Liebe einer Tochter“ konnte ich selten entdecken, eher schon berührte mich die stille, hilflose Trauer des Vaters beim allmählichen Verschwinden seiner Frau.

Schade, denn ich hatte mich sehr auf den neuen Roman von Julie Otsuka gefreut. Zwar hat er mit der sprachlichen Verknappung, den wechselnden Erzählperspektiven und dem unverwechselbaren Rhythmus stilistisch meine Erwartungen erfüllt, inhaltlich jedoch leider in den letzten beiden Teilen nicht.

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz. mare 2023
www.mare.de

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

  Schwarzes Schaf wider Willen

Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman Arv og miljø, deutsch Bergljots Familie (2019), veranlasste ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ und wurde in Norwegen ebenso bejubelt wie kontrovers diskutiert. Der literarisch aufbereitete Einblick in die eigene Familien mit dem Vorwurf väterlichen Missbrauchs löste bei mir gleichermaßen Sog und Unbehagen über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ aus und beschäftigt mich noch immer.

Obwohl das neue Buch Die Wahrheiten meiner Mutter mit dem deutlich drastischeren Originaltitel Er mor død (ohne Fragezeichen), wieder hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs, nicht autofiktional ist, weist es doch Parallelen auf. Erneut geht es um Uneinigkeit über die gemeinsame Familiengeschichte und die Gründe für einen Bruch. Zugleich greift die Autorin Aspekte der Debatte um Arv og miljø auf: Dürfen private Erfahrungen und Familieninterna in Kunstwerken verhandelt werden und haben alle Kunstwerke einen autobiografischen Kern?

Das Verhältnis eines Werkes zur Wirklichkeit ist uninteressant, das Verhältnis eines Werkes zur Wahrheit ist entscheidend, der Wahrheitswert eines Werkes liegt nicht in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern in seiner Wirkung auf die, die es betrachten. (S. 312)

Flucht
Die bildende Künstlerin Johanna Hauk verteidigt die Kunstfreiheit im Roman vehement. Sie hat vor 30 Jahren ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester Ruth und ihr Jurastudium zurückgelassen und ist dem Kunstlehrer Mark, der ihrem  zweiten Ehemann, nach Utah gefolgt. Inzwischen stellt sie überall auf der Welt erfolgreich ihre Bilder aus. Ihre Eltern haben Mark und ihren Sohn John nie kennengelernt. Als Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters kam, dann aber bei einer Ausstellung in Oslo ihre Triptychen „Kind und Mutter“ gezeigt wurden, die die Familie als Provokation auffasste, brach der Kontakt gänzlich ab.

Foto: © B. Busch. Cover: © S. Fischer

Rückkehr
Nun ist sie, inzwischen verwitwet, erstmals zur Vorbereitung einer Retrospektive in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hofft auf ein Gespräch mit ihrer betagten Mutter. Doch die hebt das Telefon nicht ab, antwortet nicht auf Textnachrichten. Verhindert die Schwester, wie Johanna sich einzureden versucht, die Kontaktaufnahme?

Je mehr Mutter und Schwester sich verweigern, desto obsessiver werden Johannas Bemühungen. Sie beobachtet die Wohnung der Mutter, schleicht sich ins Treppenhaus, folgt ihr, wenn sie mit Ruth das Haus verlässt, und filzt ihren Müll.

Zugleich kehren Kindheitserinnerungen zurück. Wann übernahm die zuvor zugewandte Mutter die spöttisch-ablehnende Haltung des Vaters zum Zeichentalent der Tochter? Immer verzweifelter sucht Johanna nach Beweisen, dass der Schmerz der Mutter lange vor der Flucht der Tochter begann. Hat sie nicht ihre Qualen durch eine immer größere Anpassung an den dominanten Vater kompensiert, die sie auch ihren Töchtern auferlegte? Doch was ist Erinnerung, was Fantasie?

Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann. (S. 360)

Eine Hütte im Wald wird zu Johannas Flucht- und Ruhepunkt.

Ein packender Monolog
In knappen Sequenzen mit manchmal nur einem oder wenigen kurzen Sätzen pro Seite folgen wir der Ich-Erzählerin auf der Suche nach Erlösung. Immer wieder zitiert sie Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard, Marguerite Duras oder die Bibel, reflektiert Muttersein und Familiendynamik. Parallelen zur grandiosen Natur rund um die Hütte drängen sich auf.

Trotz kleinerer Längen im Mittelteil hat mich dieser 400 Seiten umfassende, präzise formulierte, in einem furiosen Finale mündende innere Monolog begeistert. Zu Recht stand der Roman 2023 auf der Longlist zum International Booker Prize.

 

Interview und Lesung mit Vigdis Hjorth am 24.10.2023 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation: Annette Bühler-Dietrich, Deutsche Lesung: Marit Beyer. © B. Busch

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. S. Fischer 2023
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Vigdis Hjorth auf diesem Blog:
Hjorth