Die Nominierungsphase für den
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit
Trügerische Erinnerungen
John Banville war nach Donal Ryan der zweite bedeutende zeitgenössische irische Autor, den ich während meines Irland-Urlaubs gelesen habe. Sein Stil ist bedeutend literarischer, dafür gibt es weniger Lokalkolorit als bei seinem Kollegen Ryan.
Im Lichte der Vergangenheit lässt Figuren aus Banvilles früheren Romanen Sonnenfinsternis und Caliban wiederaufleben, doch kann man es, wie ich es getan habe, auch unabhängig lesen. Erzählt werden drei Geschichten aus dem Leben des ehemaligen Bühnenschauspielers Alex Cleave. Die erste ist die Erinnerung an seine erste Liebe und liegt 50 Jahre zurück, die zweite kreist um den Selbstmord seiner Tochter Cass vor zehn Jahren und die dritte spielt in der Gegenwart, als der bereits von der Bühne abgetretene Mittsechziger seine erste Filmrolle übernimmt.
Alex‘ erste Liebe im Alter von 15 Jahren galt der Mutter seines besten Freundes, Mrs Celia Gray. Die Erinnerungen, die der Ich-Erzähler an die knapp fünf Monate währende Affäre hat, sind zugleich präzise und mit unmöglichen Einzelheiten versehen, ein Umstand, den er nicht verschweigt: „Biografien sind zwangsläufig, wenn auch nicht absichtlich, immer voller Lügen“ und „Das habe ich doch sicher wieder frei erfunden, wie so vieles.“ Trotzdem – oder vielleicht gerade weil alles zweifelhaft ist – hat mir dieser Erzählstrang am besten gefallen. Die Seelenlage des pubertierenden Jungen zwischen erotischer Verzückung und dem Zurücksehnen nach „alter, unbeschwerter Normalität der Dinge“ schildert John Banville einfühlsam und glaubhaft, die Beziehung selbst trotz vieler Einzelheiten niemals geschmacklos oder gar peinlich. Dass am Ende vieles anders war, kann nicht wirklich überraschen.
Auch der zweite Erzählstrang um den Selbstmord der psychisch kranken Tochter Cass in Ligurien ist gut gelungen. Die Ehe von Alex leidet unter der Belastung und die Trauer ist eine „anhaltende Flut, die mich ausdörrt“. Dabei quält ihn weniger die Tatsache des Selbstmords, der ein „unausweichliches Ende“ war, als die gänzlich ungeklärten Umstände.
Am wenigsten überzeugt hat mich die Rahmenhandlung. Alex soll in einem Film mit dem beziehungsreichen Titel „Erfindung der Vergangenheit“ den Journalisten und Kritiker Axel Vander spielen, der viel mehr mit ihm zu tun hat, als er zunächst ahnt. Hier waren mir die Anspielungen und Zufälle zu konstruiert.
Ein sprachlich überzeugender, feinsinniger Roman, im kunstvollen Plauderton erzählt, in dem die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion gekonnt verschwimmen, der aber durch seine Rahmenhandlung unnötig kompliziert wird.
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit. Kiepenheuer & Witsch 2014
www.kiwi-verlag.de
Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer
Stürmische Zeiten
Als im Januar 2016 der schlimmste Schneesturm seit Menschengedenken mit den tiefsten Temperaturen seit 1869 in New York tobt, verweben sich während dreier Tage die Leben von Lucía, Richard und Evelyn unwiderruflich miteinander. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, eine Leiche und einen Lexus verschwinden zu lassen, obwohl sie mit beiden nicht zu tun haben – ein bei diesen Wetterbedingungen schwieriges Unterfangen für bislang unbescholtene Zeitgenossen ohne einschlägige Erfahrungen. An den kalten Abenden erzählen sie sich ihr Leben, so ehrlich, wie sie es bisher nie getan haben.
Lucía Maraz aus Santiago de Chile, 62 Jahre alt, Gastdozentin am Zentrum für Lateinamerika- und Karibikstudien der Universität New York, lebt seit vier Monaten in der ungemütlichen Souterrainwohnung ihres Vorgesetzten Richard Bowmaster in Brooklyn. Diese Figur ist Isabel Allende besonders gut gelungen und ich hatte den Eindruck, dass sie ihr am meisten am Herzen liegt. Die lebenshungrige, starke Frau hat beim Militärputsch in Chile ihren Bruder verloren, die Jahre der Diktatur im Exil verbracht, den Krebs und eine Scheidung überstanden und träumt noch immer vom großen Glück, weil die Liebe für sie immer „halbgar“ geblieben ist.
Ganz anders bei Richard Bowmaster, auf den sie ein Auge geworfen hat. Der 60-Jährige hat die große Liebe erlebt und durch Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn verspielt. Er hat als Ehemann und Vater versagt und große Schuld auf sich geladen. Seine quälenden Erinnerungen bekämpft er mit starren Gewohnheiten, hasst jede Abweichung von der Routine, hat ein melancholisches Naturell und scheint für Flirtversuche unempfänglich.
Die Dritte im Bunde, die aus Guatemala stammende Evelyn Ortega, ist vor der Gewalt einer Gang auf abenteuerlichem Weg über Mexico in die USA geflohen und arbeitet als illegale Einwanderin bei einer New Yorker Familie.
Wie immer schafft es Isabel Allende, eine unglaubliche Vielzahl von Themen anzuschneiden, von der politischen Entwicklung Lateinamerikas über Migration, Krankheit, Scheidung, sexuelle Orientierung, Freundschaft, Liebe, Alter, häusliche Gewalt, Alkoholismus, Rassismus, Behinderung, Menschenhandel und einige andere mehr. Dass ihr dies gelingt, ist ihrem überragenden erzählerischen Talent zu verdanken, weswegen sie schon lange zu meinen Lieblingsautorinnen zählt. Trotzdem gehört Ein unvergänglicher Sommer für mich nicht zu ihren großen Romanen, auch wenn ich ihn gerne gelesen habe. Die Verflechtung der drei Schicksale ist ihr dieses Mal nicht mit der gewohnten Leichtigkeit gelungen, wenngleich jedes für sich genommen einen Roman wert ist. Außerdem war mir das Happyend, sosehr ich es den Protagonisten gönne, etwas zu überstürzt und kitschig.
Und was hat das Ganze mit dem titelgebenden Sommer zu tun? Eigentlich nichts, aber ein vorangestelltes Zitat von Albert Camus passt trotzdem ganz wunderbar zu Richard, Lucía und Evelyn: „Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer ist.“
Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer. Suhrkamp 2018
www.suhrkamp.de
Donal Ryan: Die Sache mit dem Dezember
Ein Opfer der Umstände
Auf Reisen lese ich gerne Literatur aus meinem Reiseland und in Irland ist meine Wahl inzwischen schon zum zweiten Mal auf Donal Ryan gefallen. Vor zwei Jahren war es Die Gesichter der Wahrheit, ein Potpourri irischer Stimmen zur Zeit der Finanzkrise 2008, nun, während einer Hausbootfahrt auf dem Shannon, Die Sache mit dem Dezember. Beide Bücher spielen im County Tipperary und somit auf unserer Bootsroute, vermitteln aber ein sehr viel derbes irisches Flair, als wir es erlebt haben.
Zwölf Kapitel, benannt Januar bis Dezember, umfasst der Roman und alle beginnen mit allgemeinen Betrachtungen von Johnsey Cunliffes Eltern zu diesem Monat, für den tollpatschigen Einzelgänger Mitte 20 allgemeingültige Weisheiten. Im Januar ist Johnseys Vater schon seit mehr als zwei Jahren tot, tief betrauert von Mutter und Sohn. Johnsey kann den kleinen Hof der Familie nicht weiterführen, er ist ein „Hornochse“, ungeschickt, dick, Hilfsarbeiter im Co-op, wo man ihm nicht einmal den Mindestlohn zahlt. Von den Gleichaltrigen wird er seit der Grundschule gemobbt, als „Behindi“ beschimpft, gepiesackt und jeden Tag auf dem Heimweg von der Arbeit drangsaliert. Allerdings hatte ich beim Lesen oft den Eindruck, dass Johnsey keineswegs so einfältig ist, wie er sich selbst sieht und wie der auktoriale Erzähler es berichtet. Sehr behütet aufgewachsen als Augapfel seiner Eltern fehlt es ihm gänzlich an Selbstbewusstsein, er ist völlig passiv und empfindet sich in einer Familie von Helden als Versager, der beständig alle enttäuscht. An Frauen traut er sich nicht heran und begnügt sich wohl oder übel mit seinen sexuellen Fantasien.
Als im Februar seine Mutter stirbt, fühlt er sich einsamer denn je und denkt sogar an Selbstmord. Doch dann heben eine schwere Attacke der Dorf-Gang, ein langer Krankenhausaufenthalt mit neuen Bekanntschaften und ein folgenschwerer Beschluss der Kreisverwaltung sein Leben völlig aus den Angeln.
Ich habe diesen eher traurigen Roman über ein Außenseiterschicksal gerne gelesen und vor allem die Rückblicke in Johnseys Kindheit und die Bemühungen seiner Eltern, einen normalen Jungen aus ihm zu machen, sind herzzerreißend. Donal Ryans Figuren sind durchweg Originale, Johnsey genauso wie die „sexy Engelskrankenschwester“ Siobhán (sprich: Schiwon) und der aufschneiderische Bettnachbar Nuschel-Dave. Sie alle sind ein Stück Irland, das man in einem gewöhnlichen Urlaub so nicht erlebt, über das ich aber gerne lese.
Donal Ryan: Die Sache mit dem Dezember. Diogenes 2015
www.diogenes.ch
Dina Nayeri: Drei sind ein Dorf
Heimatlos
Gleich doppelt hat der mareverlag bei diesem Roman das Original übertroffen: Einmal wirkt das sowieso schon wunderschöne Cover in warmen Farbtönen mit dem charakteristischen weißen mare-Balken noch wesentlich edler und zum anderen ist der Titel Drei sind ein Dorf, den man erst gegen Ende versteht, viel ausdrucksstärker als das amerikanische Refuge.
Nilou Hamidi, geboren im iranischen Revolutionsjahr 1979, wächst behütet als Liebling ihres Vaters in Isfahan und Ardestun, dem Dorf ihrer Großeltern, auf. Als ihre Mutter Pari als Christin und Ärztin zunehmend Zielscheibe der Sittenpolizei wird, verlässt sie mit Nilou und deren jüngerem Bruder Kian 1987 das Land. Der Vater Bahman bleibt zurück, seine Zahnarztpraxis, seine Heimatverbundenheit und seine Opiumsucht hindern am Mitkommen. Zwei Jahre sind Pari, Nilou und Kian auf der Flucht, bis sie Asyl in den USA erhalten. Die Alpträume werden Nilou nie mehr verlassen, auch wenn sie das Lernen als Mittel gegen die Angst entdeckt, in Yale studiert und promoviert, den erfolgreichen Anwalt Gui heiratet und schließlich mit ihm nach Amsterdam geht, wo sie Anthropologie an der Universität lehrt. Äußerlich verkörpert Nilou alles, was eine geglückte Integration auszumachen scheint, doch im Inneren fühlt sie sich gehetzt und heimatlos: „Dass sich nichts je richtig abgeschlossen anfühlt. Dass sie etwas Wesentliches in Isfahan zurückgelassen hat und sich nicht daran erinnern kann, was es war.“ Den verständnisvollen Gui kann sie nicht an ihrer Zerrissenheit teilhaben lassen, beklagt die fehlenden gemeinsamen Wurzeln, gibt ihm aber keine Chance, sie zu verstehen.
Der Roman spielt hauptsächlich im Jahr 2009, in dem Nilou immer unruhiger wird und schließlich in einem von Iranern besetzten Haus in Amsterdam erstmals Freunde findet. Ihnen muss sie nichts erklären, sie verstehen einander ohne Worte. Gleichzeitig wird die Situation für ihren Vater im Iran immer prekärer, denn während der Unruhen nach den Wahlen wird er aufgrund einer falschen Beschuldigung unter Hausarrest gestellt. Daneben gibt es Rückblenden auf die vier Treffen zwischen Nilou und ihrem Vater in 22 Jahren der Trennung: 1993 in Oklahoma City, 2001 in London, 2006 in Madrid und zuletzt 2008 in Istanbul.
Dina Nayeri, die selbst im Alter von zehn Jahren aus dem Iran in die USA emigrierte, erzählt abwechselnd über Bahman und über Nilou, unterbrochen durch die Rückblenden aus Nilous Sicht. Zu Beginn des Romans lässt sie Bahman wegen seiner dritten Scheidung einen Tag im Gericht zubringen, wo er und wir Zeuge von 13 Scheidungen werden – ein meisterhafter Kunstgriff, der mich sofort in den Iran katapultiert hat. Überhaupt war Bahman für mich die eindrucksvollste Figur in diesem Roman, auch wenn er durch seine Opiumsucht und seine Weigerung, den Iran mit seiner Familie zu verlassen, vermutlich die Hauptursache für Nilous Zerrissenheit ist. Mit Nilou habe ich dagegen bei allem Verständnis für ihren doppelten Verlust von Heimat und Vater oft gehadert, mit ihrer Unfähigkeit zur Kommunikation und ihrer Weigerung, Gui an sich heranzulassen.
Drei sind ein Dorf war eine ebenso bedrückende wie desillusionierende Lektüre für mich, die mich etwas ratlos zurücklässt, doch ist es Dina Nayeri ausgezeichnet gelungen, meine Perspektive auf die Flüchtlingsthematik zu erweitern. Ich bin sicher, dass mir die Geschichte nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird.
Dina Nayeri: Drei sind ein Dorf. mare 2018
www.mare.de
Europareise
Historische Reiseberichte vorzüglich gelesen
Seit Juni 2018 verlost die EU im Rahmen ihres Jugend-Programms „DiscoverEU“ kostenlose Interrail-Tickets für 18-Jährige. Das Interesse an Europa soll mit dieser großartigen Aktion geweckt, Toleranz gefördert, Vielfalt und kultureller Reichtum vermittelt und dem Auseinanderfallen Europas entgegengewirkt werden.
Solche Botschafter, die von ihren Reiseerlebnissen erzählen, gab es zu jeder Zeit, und oft waren es berühmte Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Fünfzehn derartige Berichte sind auf acht CDs des Audiobuch Verlags zu hören, 592 erlebnisreiche Minuten aus dem zweiten bis zwanzigsten Jahrhundert. Wie immer sind die Sprecher vorzüglich ausgewählt und interpretieren die Texte bisweilen sogar lebhafter und interessanter, als ich sie beim Lesen empfunden hätte. Ausgezeichnet ist auch das Booklet, das die Autoren im Bild zeigt, Lebensdaten und genaue bibliografische Angaben enthält sowie eine knappe Zusammenfassung des Gehörten bietet.
Was alle Texte verbindet, ist die aus heutiger Sicht große Langsamkeit des Reisens. War das gemächliche Tempo von Ort zu Ort noch den historischen Transportmitteln geschuldet, so wurden die langen Aufenthalte – oft Wochen oder Monate – bewusst geplant und führten zu einem wesentlich tieferen Eintauchen in Landschaft, Sehenswürdigkeiten, Geschichte, Bevölkerung und Sitten, so dass wir heute von äußerst detailreichen Beobachtungen profitieren können.
Wie bei allen Anthologien wird jeder Hörer andere Favoriten unter den Texten küren. Die großartigste Interpretation liefert für mich Oliver Rohrbeck bei Charles Dickens vergnüglichem Durch Frankreich, die ich mir gleich mehrfach angehört habe. Wie immer ein sprachlicher Hochgenuss sind die Texte von Stefan Zweig über Oxford, den Hyde Park, die Provence und vor allem seine Heimatstadt Wien. An sie erinnert sich Zweig 1940 wehmütig aus dem Exil zurück und preist ihre ehemals europäische, tolerante Gesinnung als Hauptstadt eines Weltreiches, aus politischer Sicht ein ganz und gar aktueller Text. In Edward Whympers Der Matterhorngipfel über seine Erstbesteigung 1865 spiegeln sich Triumpf über die Bezwingung und Trauer über die toten Kameraden gleichermaßen und der Sprecher David Nathan arbeitet diesen Zwiespalt wunderbar heraus. Bei Ida Pfeiffers Im hohen Norden konnte ich mit ihr durch Stockholm spazieren und sah alles lebhaft vor mir. Über Franz Grillparzers schlechte Laune beim Reisen in seinem teils stichwortartigen Tagebuch auf der Reise nach Griechenland musste ich schmunzeln, mit seiner Nörgelei und Hypochondrie ist er der personifizierte Alptraum jedes Reiseveranstalters. Sehr interessant war auch Heinrich Heines Über Polen mit seiner Analyse der polnischen Gesellschaft. Mehr versprochen hatte ich mir dagegen von Johann Wolfgang von Goethes Auszug aus Italienische Reise, als schwer verständlich empfand ich Das Erlebnis Russland von Lou Andreas-Salomé, obwohl die Sprecherin Vera Teltz sehr gut liest.
Eine sehr empfehlenswerte Hörbuch-Anthologie für alle, die gerne reisen, tatsächlich oder in Gedanken.
Europareise : historische Berichte von Andreas-Salomé, Dickens, Fürst, Goethe, Grillparzer, Heine, Irving, Kobbe u. Cornelius, Nansen, Pausanias, Pfeiffer, Riesbeck, Seume, Whymper, Zweig. Sprecher: R. Barenberg, D. Bierstedt, T. Hagen, S. Jäger, M. Kautz, D. Nathan, O. Rohrbeck, V. Teltz. Audiobuch 2018
www.audiobuch.com
Buchblog-Award 2018
Ich freue mich sehr über Stimmen für meinen Blog auf
Sandra Grimm & Anja Grote: Der kleine Flohling
Keiner ist ohne Talent
Am letzten Tag der Grundschule erhalten alle Littelkinder die Zuweisung zu einer Talentklasse in der Littelschmiede nach den Ferien, nur Flohling nicht, denn bei ihm hat sich bisher kein Talent gezeigt. Eigentlich macht ihm das nichts aus, denn er ist ein zufriedenes, kluges, aufmerksames Littelkind, das alle zum Lachen bringt und immer fröhlich ist. Traurig macht ihn nur die Sorge, die er bei seinen Eltern spürt: „Eigentlich ist es mir egal… Aber irgendwie sind alle ganz besessen davon. Und langsam glaube ich auch, dass mir etwas fehlt.“ Ist es möglich, dass er für keine Tätigkeit besonders begabt ist und überall nur Chaos stiftet? Flohling beschließt, Lilvis, die Weise des Nordens, aufzusuchen, um Rat bei ihr zu finden. Zusammen mit dem Familienspatz Pilfink, seiner Freundin Lisbet und der Kröte Krotte macht er sich auf den beschwerlichen, gefährlichen Weg durch die Littelwälder, das Winterdorf, das Hügeldorf, zum Nordfluss und die Silbernen Berge hinauf. Viele spannende Abenteuer erleben die vier, begegnen Tieren, Muskis, Gnormen, Risser, Scharren und sogar einem Riesen, bis sie schließlich zu Lilvis gelangen. Doch am Ende muss Flohling sein Talent ganz alleine finden…
Der kleine Flohling von Sandra Grimm ist ein rundherum gelungenes Vorlesebuch für Kinder ab etwa fünf Jahren, das gut verständlich, spannend und stimmig von Freundschaft, Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Mut und Selbstfindung erzählt. Vorleser wie Zuhörer werden zum Miträtseln eingeladen, hoffen mit dem sympathischen Flohling und bangen um ein gutes Ende der gefahrvollen Reise. Sehr gut gefallen hat mir auch die Haltung von Littels Eltern, die ihrem Sohn Flügel geben, indem sie volles Vertrauen in ihn setzen und ihm die abenteuerliche Wanderung erlauben. Die bunten, stimmungsvollen Illustrationen von Anja Grote erinnern mich ein wenig an Mangas, vor allem bei den ausdrucksstarken Gesichtern mit den großen Augen. Die Bilder gehen über den Text hinaus und ergänzen ihn ausgezeichnet, da die Autorin sich vornehmlich auf das Innenleben ihrer Figuren und die Handlung konzentriert.
Sandra Grimm & Anja Grote: Der kleine Flohling. Oetinger 2018
www.oetinger.de
Sarah Henshaw: Mein wunderbares Bücherboot
Eine Frau, ein Kanalboot, viele Bücher
Die meisten Buchkäufer haben es inzwischen hautnah erlebt: Größere wie kleinere inhabergeführte Sortimente, die meist mit viel Herzblut, Kreativität, Leidenschaft, literarischem Sachverstand geführt wurden, schließen oder werden von Ketten geschluckt. Übrig bleiben der Onlinehandel, Wühltische in Lebensmittel- oder Drogerieketten und die immer mehr oder weniger gleichen Filialisten, in denen ich weder gerne einkaufen noch arbeiten möchte. Erschwerend kommen der erneute Rückgang der Umsätze auf dem Buchmarkt 2017, der Anstieg der E-Book-Quote und die abnehmende Kundenfrequenz in vielen Städten hinzu. In Großbritannien, wo die Autorin Sarah Henshaw mit ihrem Bücherboot unterwegs war, fehlt darüber hinaus die Buchpreisbindung, die in Deutschland zum Schutz des Kulturguts Buch glücklicherweise weiterhin besteht.
Die junge Journalistin Sarah Henshaw hat sich 2009 trotzdem ihren Lebenstraum einer eigenen Buchhandlung erfüllt, auf einem 18 Meter langen Kanalboot im Hafen von Burton-upon-Trent nahe Birmingham. Neben Kosteneffizienz erhoffte sie sich von diesem ungewöhnlichen Geschäftsmodell mehr Kunden, eine Rechnung, die im ersten Jahr aufging. Doch bereits nach zwei Jahren stand die „Book Barge“ vor dem finanziellen Aus, der Schuldenberg wuchs trotz Sieben-Tage-Wochen und zahlreichen Veranstaltungen. Als die Beziehung zu ihrem langjährigen Partner hauptsächlich wegen ihrer unternehmerischen Situation in die Brüche ging, beschloss Sarah Henshaw zu handeln und begann im Mai 2011 eine Reise über Englands Kanäle, um sich aus ihrer persönlichen Notlage zu befreien und auf den desaströsen Zustand des stationären Buchhandels aufmerksam zu machen. Zumindest letzteres scheint ihr gelungen zu sein – die immer größere mediale Beachtung im Laufe ihrer Unternehmung spricht dafür.
In ihrem Buch Mein wunderbares Bücherboot erzählt Sarah Henshaw in teilweise humorvollen Anekdoten von dieser Reise, von den 1700 zurückgelegten Kilometern, ihrem Kampf mit 707 Schleusen, ihren unzähligen Begegnungen, ihren 1172 Buchverkäufen und 223 Tauschgeschäften, bei denen sie Bücher gegen ein Bett, eine Mahlzeit, einen Haarschnitt oder was immer sie gerade brauchte, eintauschte. Wenig erfährt man dagegen über die Landschaft, die bei ihrer Reise offensichtlich keine große Rolle spielte. Gut gefallen haben mir ihre Betrachtungen zur Literatur genauso wie der fiktive Brief an den Amazon-Chef Jeff Bezos, weniger folgen konnte ich ihren philosophischen Versuchen. Cover, Vorsatzpapier und Layout passen ausgesprochen gut zum Stil des Buches, die gezeichnete Landkarte sieht hübsch aus und erleichtert die Orientierung und das Vorwort von Torsten Woywod kann ich so unterschreiben.
Ein Wort noch zu Sarah Henshaws Herangehensweise an den Buchhandel, die sie selbst zurecht als „naiv“ bezeichnet. So sehr die Liebe zur Literatur für diesen Beruf wünschenswert ist, bleibt es doch eine kaufmännische Tätigkeit und Grundkenntnisse in Betriebswirtschaft sowie eine fundierte buchhändlerische Ausbildung sind unerlässlich. Sarah Henshaw hat so manches auf bittere weil kostspielige Art gelernt, aber ich hatte das Gefühl, dass mir ihre finanzielle Misere mehr Bauchschmerzen bereitet hat als ihr.
Alles in allem ist das Buch als flammendes Plädoyer für den unabhängigen stationären Buchhandel und als Zeugnis der Literaturliebe sehr zu begrüßen, man sollte allerdings keinen genauen Reisebericht erwarten.
Sarah Henshaw: Mein wunderbares Bücherboot. Eden Books 2018
www.edenbooks.de
Lindsey Fitzharris: Der Horror der frühen Medizin
Meilensteine der Medizingeschichte
Als der Chefchirurg des University College Hospital London, Robert Liston, am 21. Dezember 1846 einen Patienten bei einer Operation mit der neuen Äther-Narkose aus den USA betäubte, neigte sich das Zeitalter der unvorstellbaren Qualen auch in Großbritannien dem Ende zu. Eines der beiden großen Hindernisse der Chirurgie war damit beseitigt, wohingegen sich das andere durch die nun vermehrt durchgeführten Eingriffe noch verschlimmerte: die enorme postoperative Mortalitätsrate durch Infektionen aller Art. Einer von Listons Zuschauern bei der legendären Operation sollte sich dieses Problems lebenslang beharrlich widmen und es schließlich lösen: der Medizinstudent Joseph Lister.
Joseph Lister wurde 1827 in eine strenggläubige Quäkerfamilie geboren. Sein Vater, der ihn lebenslang fürsorglich begleitete und unterstützte, erlangte weltweite Anerkennung durch Erfindungen im Bereiche der Optik und der Weiterentwicklung der Mikroskopie. 1844 ging Joseph Lister zum Studium der Geisteswissenschaften nach London, sattelte später um auf die Medizin und begann mit der ersten erfolgreichen Operation 1851 und der Approbation 1852 seine große Chirurgenkarriere. Doch zu einer Zeit, als ein Soldat auf dem Schlachtfeld von Waterloo eine größere Überlebenschance hatte, als jemand, der sich ins Krankenhaus begab, war eine erfolgreiche Operation erst der halbe Sieg. Joseph Lister machte die Ursachensuche für Infektionen zu seiner Lebensaufgabe und sah das bei Medizinern heftig umstrittene Mikroskop als Schlüssel für seine Forschung. Nach der Zwischenstation Edinburgh erhielt Joseph Lister seine erste Professur in Glasgow, ging später als Professor und Nachfolger seines Lehrers und Schwiegervaters James Syme nach Edinburgh zurück und wurde 1877 zum Professor für klinische Chirurgie ans King’s College London berufen.
Das größte Problem im Kampf gegen die Wundinfektionen war, dass man sich ihr Entstehen nicht erklären konnte. Inspiriert von den Forschungen des französischen Chemikers Louis Pasteur kam Joseph Lister zu dem Schluss, dass mikroskopisch kleine Organismen für die Infektionen verantwortlich wären, und entwickelte daraus ab Mitte der 1860er-Jahre die Desinfektion mit Karbolsäure. Nach und nach desinfizierte er zuerst die Wunden, sorgte für die Behandlung der Chirurgenhände und Instrumente mit Karbolsäure und entwickelte neue Fäden, zunächst heftig angefeindet durch Kollegen vor allem in Großbritannien und den USA. Doch der dramatische Rückgang der Sterberate in den Krankenhäusern mit seinen Hygienemaßnahmen überzeugte schließlich auch seine schärfsten Gegner und brachte ihm gegen Ende seines Lebens Orden und den Titel eines Barons.
Das Sachbuch der in Medizingeschichte promovierten Britin Lindsey Fitzharris Der Horror der frühen Medizin wirkt zwar durch Titel und Cover eher reißerisch, basiert aber rein auf Fakten und beschreibt die durchaus vorhandenen Gräuel und schaurigen Details nicht aus Effekthascherei, sondern nur, soweit es für eine umfassende Darstellung des Themas geboten ist. Obwohl es schwerpunktmäßig eine fundierte Biografie Joseph Listers ist, erfährt man auch sehr viel über die Geschichte der Chirurgie und die Zustände im Großbritannien der industriellen Revolution mit den verheerenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Großstädten. Das Buch ist für Laien gut verständlich geschrieben, hat mich umfassend, spannend, äußerst unterhaltsam und aus britischer Sicht über ein sehr interessantes Thema informiert und lässt mich die Segnungen der modernen Medizin nun umso mehr schätzen.
Lindsey Fitzharris: Der Horror der frühen Medizin. Suhrkamp 2018
www.suhrkamp.de