Jo Nesbø: Das fünfte Zeichen

Schlaflose Nächte garantiert

Im fünften Band der Reihe um den alkoholkranken Osloer Hauptkommissar Harry Hole ist dieser wieder einmal seiner Sucht erlegen. Er kann den Tod seiner Kollegin, die bei einem Einsatz ums Leben kam, nicht verwinden. Seine Anzeige gegen seinen smarten, ambitionierten Kollegen Tom Waaler, den er der Komplizenschaft mit der organisierten Kriminalität verdächtigt und den er für ihren Tod verantwortlich macht, stellt ihn ins Abseits. Zudem hat ihn seine Freundin verlassen. Seit vier Wochen befindet er sich im Dauerdelirium und nun kann ihm auch sein verständnisvoller Chef Bjarne Møller nicht mehr helfen. Harry Hole erhält seine Kündigung, aber vorher muss er wegen akutern Personalmangels in der Ferienzeit eben diesem verdächtigten Kollegen bei der Aufklärung des mysteriösen Mordes an einer jungen Frau helfen. Schnell verschwindet eine zweite Frau und es wird ein Muster erkennbar…

Das fünfte Zeichen ist ein typisch skandinavischer Krimi, durchweg spannend, glaubwürdig und atmosphärisch dicht. Jo Nesbø gelingt es, den Spannungsbogen durch gelegentliche Perspektivwechsel bis zuletzt aufrecht zu erhalten und die verschiedenen Handlungsstränge – Harrys private Probleme, seine internen Ermittlungen auf eigene Faust und die Serienmorde – gekonnt miteinander zu verknüpfen.

Jo Nesbø: Das fünfte Zeichen. List 2010
www.ullsteinbuchverlage.de

Jo Nesbø: Der Fledermausmann

Ein norwegischer Kommissar in Sydney

Der Fledermausmann ist der erste Band der Krimireihe um den Osloer Kommissar Harry Hole. Er ist 32 Jahre alt und Alkoholiker.

Die Besonderheit dieses ersten Bandes besteht darin, dass er in Australien spielt. Eine junge Norwegerin, Inger Holter, die in Sydney in einer Bar jobbte, wurde vergewaltigt und erwürgt. Harry Hole wird einem australischen Kollegen namens Andrew Kensington, einem Aboriginie, zugeteilt und freundet sich mit ihm an. Andrew zeigt ihm viel von Australien und erzählt ihm über die Geschichte, Kultur, Legenden und heutige Situation der Aboriginies und Harry erfährt, dass der „Fledermausmann“ ein Todessymbol in der Mythologie der Aborginies ist.

Bei dem Mord an Inger handelt es sich um den Teil einer Serie an blonden jungen Frauen. Unter Verdacht gerät Ingers letzter Freund, ein Dealer und ihr Vermieter und Vorgesetzter.

Andrew scheint bei der Ermittlung immer mehr zu trödeln – oder möchte er Harry etwas mitteilen? Als Harry ihn danach fragen möchte, begeht Andrew Selbstmord – oder ist es gar keiner?

Harry, der trockene Alkoholiker wird rückfällig, stürzt in Sydney total ab…

Diesen spannenden Krimi, der ab der Mitte richtig Fahrt aufnimmt,  kann ich allen empfehlen, die sich beim Krimilesen Zeit nehmen und von einem Krimi mehr erwarten, als nur die Ermittlung in einem Fall.

Jo Nesbø: Der Fledermausmann. List 2013
www.ullsteinbuchverlage.de

Birgit Dankert: Michael Ende

Lebenslange Suche nach der eigenen Identität

An dieses Buch bin ich mit teilweise falschen Erwartungen gegangen. Ein zugleich informatives wie unterhaltendes Sachbuch hatte ich erwartet, ein sehr gut recherchiertes, aber für literaturwissenschaftliche Laien wie mich nicht leicht zu lesendes Werk, mehr Fach- als Sachbuch, habe ich vorgefunden. Vieles meine ich zwar verstanden zu haben, kann es aber aufgrund mangelnder literaturwissenschaftlicher Kenntnisse nicht diskutieren, wie z. B. die Rezeptionsgeschichte und die Eskapismusvorwürfe, bei anderem teile ich die Beurteilung der Autorin manchmal nicht. Wenn sie bei einer sicherlich 1979 als avantgardistisch empfundenen Momo-Lesung vor 200 Managern bei einer Veranstaltung des Duttweiler Instituts zum Thema „Die Rationalisierungsfalle“ deren Diskussionsverweigerung der „Naivität oder Hybris“ von Michael Ende zuschreibt, der eine „falsche, instinktlose, vielleicht auch respektlose Taktik gewählt hatte“, so ist dies eine der Interpretationen, bei denen ich grundlegend anderer Ansicht bin.

Sehr klar chronologisch gegliedert in sieben Zeitabschnitte schildert Birgit Dankert Michael Endes Leben. Seine Hauptwerke Jim Knopf, Momo, Die unendliche Geschichte und Der Wunschpunsch werden ebenso wie verschiedene Bilderbücher und kleinere Schriften mit einer ausgezeichneten Inhaltsangabe präsent gemacht. Daneben erfährt man einiges zur Arbeitsweise von Michael Ende, über seine genauen Vorstellungen zur Illustration, zur Bühnenfassung und zu Verfilmungen, die die Zusammenarbeit mit ihm zur Herausforderung machten. Besonders interessant fand ich die Beziehung zur Familie Weitbrecht, den Inhabern des Thienemann Verlags, dem Ende lebenslang verbunden blieb.

Birgit Dankert hat u. a. Deutsche Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Bibliothekswissenschaft studiert und hat für ihre Verdienste um das deutsche Bibliothekswesen 2005 die höchste Auszeichnung für Bibliothekare, die Karl-Preusker-Medaille, verliehen bekommen. Ihren Fleiß und ihre penible Recherche spürt man bei dieser Biografie auf jeder Seite, wenn sie anhand unzähliger Quellen nahezu jeden Lebensschritt Michael Endes belegt. Verbunden ist dies aber in meinen Augen mit einem Verlust der Leichtigkeit und ich hätte mir oftmals einen direkteren Blick auf Michael Ende gewünscht, dem sie doch beim Studium so vieler Quellen, im Literaturarchiv in Marbach v. a. Primärquellen, näher gekommen sein muss, als man es in dieser spröden Biografie spürt.

Neben den puren Lebensdaten und -stationen, die ich hier nicht aufführen möchte, fand ich besonders interessant, dass Michael Ende sich zeitlebens trotz aller Erfolge nicht mit seinem von ihm als zweitklassig angesehenen Dasein als Kinder- und Jugendbuchautor abfinden konnte. Seine nie endende Suche nach der eigenen Identität und seine Rastlosigkeit standen im Mittelpunkt seines Künstler- wie seines Privatlebens. Neu und sehr spannend für mich, die ich nur seine Kinder- und Jugendbücher kannte, war seine künstlerische Vielseitigkeit, die die Autorin sehr anschaulich darstellt, und die Diskussionen zur Kinder- und Jugendliteratur der 1970er- und 1980er-Jahre, in denen ihm immer wieder die Realitätsferne und fehlende Problemorientierung seiner Bücher vorgeworfen wurden.

Ausführliche Anhänge und Register runden die informative Biografie ab. Ich würde allerdings jedem Interessenten dringend empfehlen, vor dem Kauf hineinzulesen.

Birgit Dankert: Michael Ende. Lambert Schneider 2016
www.wbg-wissenverbindet.de

Paul Maar: Herr Bello und das blaue Wunder

Eine witzige und turbulente Geschichte

Nachfolger des Sams ist der Mischlingshund Bello. Er gehört dem 12-jährigen Max, dem Sohn des alleinerziehenden Apothekers Sternheim. Die Beiden führen einen typischen Männerhaushalt, seit die Mutter von Max mit einem Krokodiljäger durchgebrannt ist.

Als Bello eines Tages in der Apotheke einen geheimnisvollen blauen Saft aufleckt, verwandelt er sich in einen Menschen. Nun wird es richtig turbulent, vor allem als sich „Herr Bello“ auch noch in die selbe Frau wie der Apotheker verliebt…

Die Geschichte von Paul Maar ist voller liebenswerter Figuren, lustiger Dialoge und überraschender Wendungen, witzig illustriert von Ute Krause. Sie ist zum Vorlesen ab sechs, wobei hier der Sprachfehler von Herrn Bello besonders lustig ist, oder zum Selberlesen ab acht Jahren bestens geeignet, erreicht aber nicht ganz die für mich absolut konkurrenzlosen Sams-Geschichten.

Paul Maar: Herr Bello und das blaue Wunder. Oetinger 2005
www.oetinger.de

Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht

Schatten und Träume

Zwischen einem Prolog und einem Epilog umfasst das Buch vier Teile mit insgesamt 14 Kapiteln, die mit Gegensatzpaaren wie „Ordnung und Chaos“ oder „Verlust und Gewinn“ sehr fantasievoll überschrieben sind.

Erzählt wird in Form eines Märchens die Geschichte von Hama und Bo, der eines Tages aus dem Nichts in der grauen Stadt ohne Namen auftaucht. Die Beiden lernen sich in der einzigen Fabrik der Stadt kennen, wo sie an der Produktion von Kriegsmaterial arbeiten. Es ist Liebe auf den ersten Blick.

Doch dann geschieht ein großes Unglück: Die Fabrik explodiert, zahlreiche Arbeiter verlieren ihr Leben und Hama, die nur noch an ihrem Arbeitsplatz war, weil Bo sie nicht rechtzeitig abgelöst hat, ihre Hände.

In ihrer Verzweiflung igelt Hama sich ein, will Bo nicht mehr sehen, verheimlicht ihm ihre Schwangerschaft. Als die Zwei doch wieder zusammenfinden, sind inzwischen die Menschen um sie herum gegen sie, denn fing nicht alles Unglück mit Bos Auftauchen an?

Hama und Bo fliehen, als der Mob Bos Schattentheater zerstört. Ihre Tochter Tsell, das Mädchen, das Tierschatten wirft, kommt unterwegs zur Welt. Einen Winter verbringen sie bei zwergenhaften Geschwistern unter der Erde, wo Bo Eisenhände für Hama und ein Metallnetz für Tsell schmiedet, dann lassen sie sich auf einer Landzunge nieder. Zwölf ruhige Jahre für die Drei, bis der Krieg sie in Form eines riesigen Frachtschiffs einholt und alles zerstört. Zusammen mit ihrem neuen Freund Vigg tritt Tsell die Reise in umgekehrter Richtung an…

Der Roman liest sich leicht, aber die märchenhafte, mystische Form hat mich leider nicht angesprochen. Wer sich allerdings von dieser Art Literatur verzaubern lassen kann, der wird sicher begeistert sein, egal ob Mädchen ab 14 oder Erwachsene.

Gut gefallen hat mir auf jeden Fall der Einband mit den Scherenschnitten und die Scherenschnitte am Beginn jedes neuen Teils des E-Books.

Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht. Carlsen 2016
www.carlsen.de

Nadifa Mohamed: Black Mamba Boy

Der lange Weg nach Hause

Beeinflusst vom Schicksal ihres Vaters hat die 1981 in Hargeisa, Somalia, geborene Schriftstellerin Nadifa Mohamed eine zwölf Jahre währende Odyssee durch Ostafrika bis Ägypten, Palästina und schließlich Großbritannien aufgeschrieben. In dem mehrfach ausgezeichneten Debütroman der Autorin, die als Kind nach Großbritannien kam und in Oxford Geschichte und Politik studierte,
erkennt der Protagonist Jama erst nach Jahren des Herumirrens, wo die Heimat eines Nomaden ist und wohin er zurückkehren muss: zu seiner Familie, seiner Frau und seinem Sohn, die in Eritrea auf seine Rückkehr warten.

Jamas Vater hat die somalische Nomadenfamilie verlassen, als die Not zu groß wurde, um sich im Sudan als Chauffeur zu verdingen. Seine Mutter Ambaro ging mit Jama nach Aden, wo sie ihren Lebensunterhalt mühsam in einer Kaffeefabrik verdiente. Jama wächst mehr oder weniger auf der Straße und ohne Kindheit auf und nach dem Tod der Mutter ist er ganz auf sich alleine gestellt. Auf der Suche nach dem Vater wandert er duch die Länder Ostafrikas, die nicht mehr als ein Spielball im Machtpoker der Kolonialstaaten sind. Er durchquert Wüsten, überlebt die Zeit als Kindersoldat und wird mit übergroßer Brutalität konfrontiert, doch seine Zähigkeit und sein übermächtiger Überlebenswillen und vielleicht auch die günstigen Sterne, die Astrologen bei seiner Geburt zu erkennen glaubten, und der Segen durch eine schwarze Mamba noch im Mutterleib lassen ihn immer wieder aufstehen und weitergehen.

Anhand der Übersichtskarte, die der C.H. Beck Verlag dankenswerterweise eingedruckt hat, konnte ich die Reise durch Somalia, den Jemen, Dschibuti, Eritrea, Ägypen und Palästina sehr gut verfolgen. Nach einigen Längen auf dem letzten Teil dieser Irrfahrt war seine Zeit als Schiffsjunge auf der Runnymede Park, die die von den Briten in Palästina abgelehnten jüdischen Flüchtlinge der Exodus zwangsweise nach Hamburg zurückbrachte, wieder ausgesprochen interessant. Als er zuletzt in England ankommt, versucht er auf einem Jahrmarkt entgangene Kindheitserlebnisse nachzuholen. Seine Zukunft als gut verdienender Seemann scheint gesichert, als er einen Brief seiner in Eritrea zurückgelassenen Frau erhält, der alles ändert…

Am Beispiel ihres Vaters erzählt die junge Autorin ein Stück der Geschichte Ostafrikas der 1930er- und 1940er-Jahre mit viel Detailkenntnis und ohne Kitsch. Die geschildert Gewalt ist dabei nur durch den sehr deskriptiven, distanzierten Stil zu ertragen. Ihr großes Verdienst ist es, uns eine Region näherzubringen, über die wir üblicherweise in Europa zu wenig wissen, obwohl die Europäer aufgrund der menschenverachtenden Kolonialpolitik große Schuld auf sich geladen haben. Die Folgen dieser Einflussnahme sind mit Bürgerkriegen, Grenzkonflikten und Flüchtlingsbewegungen leider mehr als aktuell. Gleichzeitig thematisiert sie die bis heute für Afrika prägende Clanpolitik, die einerseits Clanmitglieder in jeder Lage unterstützt, andererseits Clanfremde ausgrenzt und diskriminiert.

Dass Nadifa Mohamed es als Tochter eines Mannes, der nie eine Schule besuchen konnte, bis zur Oxfordabsolventin gebracht hat, klingt nach der Lektüre dieses biografischen Romans wie ein modernes Märchen.

Nadifa Mohamed: Black Mamba Boy. C.H. Beck 2015
www.chbeck.de

Ingrid Noll: Hab und Gier

Wo unrecht Gut doch gedeiht…

Alles beginnt mit einer Einladung zum Gabelfrühstück: Wolfram, pensionierter Bibliothekar und Witwer, lädt überraschend seine Ex-Kollegin Karla, eine biedere, allein und in bescheidenen Verhältnissen lebende Rentnerin, ein. Erstaunt und etwas misstrauisch, da sie Avancen befürchtet, nimmt Karla an und wird von Wolframs tatsächlichen Absichten völlig überrascht:

Der kinderlose, vermögende und todkranke Mann bietet ihr ein Viertel seines Vermögens, wenn sie seine Beerdigung organisiert und sein Grab pflegt und sogar die Hälfte, wenn sie sich bis zu seinem Tod um ihn kümmert. Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, Alleinerbin zu werden – unter für Karla zunächst unglaublichen Bedingungen… Doch es locken eine Weinheimer Villa mit Garten, ein Mietshaus und ein Vermögen in unbekannter Höhe.

Wer wäre da nicht zu moralischen Zugeständnissen bereit? Karlas eingeweihte Freundin Judith, die ihrerseits ihren Ex-Freund Cord ins Vertrauen zieht, jedenfalls schon. Und so gewinnt die Handlung schnell an Fahrt, nimmt manch überraschende Wendung und lässt die Pläne des Trios zu Selbstläufern werden.

Ein teuflischer, rabenschwarz-humoriger Krimi, mit dem Ingrid Noll zu alter Stärke zurückgefunden hat und wieder einmal beweist, dass jeder zum Mörder werden kann, wenn man ihn nur genug in Versuchung führt.

Ingrid Noll: Hab und Gier. Diogenes 2014
www.diogenes.ch

Cornelia Funke: Herr der Diebe

Spannung und Unterhaltung auf höchstem Niveau

Die Geschichte um die Waisenbrüder Prosper und Bo, die vor ihrer ungeliebten Tante nach Venedig fliehen, sich der Kinderbande um den geheimnisvollen Herrn der Diebe anschließen, einen Privatdetektiv auf ihre Seite ziehen und in das Abenteuer um das magische Karussell der Barmherzigen Schwestern verstrickt werden, wird von Rainer Strecker so nuancenreich vorgelesen, dass die 234 Minuten der sieben CDs wie im Fluge vergehen. Die hervorragend ausgewählte, von der Klassik inspirierte Musik von Jens Kronbügel verstärkt den vom Sprecher vermittelten Eindruck, selber im Gewirr der venezianischen Plätze, Gassen und Kanälen mit dabei zu sein.

Bei uns hat das erste Hören der CDs eine Reise nach Venedig nach sich gezogen und seither haben wir es immer wieder mit gleichbleibender Freude gehört. Spannung und Unterhaltung auf höchstem Niveau für alle ab ca. sieben Jahren sind garantiert, egal ob man das Buch bereits kennt oder nicht!

Cornelia Funke: Herr der Diebe. Goya libre 2002
www.jumboverlag.de

Carlene Thompson: Vergiss, wenn du kannst

Psychothriller mit viel Atmosphäre

Carlene Thompson, 1952 in den USA geboren, studierte englische Literatur und arbeitet als freie Schriftstellerin. In ihren Psychothrillern stehen charakterstarke Frauen im Vordergrund, deren heile Welt durch eine düstere, nur scheinbar überwundene Vergangenheit zerbricht.

In Vergiss, wenn du kannst ist Natalie, eine junge Tierärztin, soeben erst in ihr idyllisches Heimatstädtchen am Eriesee zurückgekehrt, um ihren Liebeskummer auszukurieren, als ihre Jugendfreundin Tamara auf brutale Weise ermordet wird. Sie selber wird telefonisch mit Tamaras Stimme bedroht. Zunächst versucht sie, die Gefahr zu ignorieren, doch dann geschehen weitere Morde in Tamaras nächstem Umfeld. Sheriff Nick Meredith, der nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau vor kurzem aus New York zugezogen ist, um seine Tochter in einer gewaltfreien Umgebung aufwachsen zu lassen, stößt auf ein eng verwobenes Beziehungsgewirr. Plötzlich scheint jeder als Täter in Frage zu kommen – oder als nächstes Opfer?

Ein spannender, sehr atmosphärischer Psychothriller.

Carlene Thompson: Vergiss, wenn du kannst. Fischer 2005
www.fischerverlage.de

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Bittere Kinderschicksale

Das Mädchen mit dem Fingerhut macht bereits die Zuordnung zu einer literarischen Gattung schwer: ein kurzer Roman, eine Novelle, ein Märchen?

In Michael Köhlmeier neuestem Werk begleiten wir ein sechsjähriges, offensichtlich elternloses Mädchen, vielleicht ein unbegleitetes Flüchtlingskind, durch irgendeine Stadt in Westeuropa, vielleicht sogar zwei verschiedene. Zu Beginn hat es noch einen „Onkel“, der es jeden Morgen auf dem Markt absetzt und abends wieder abholt, doch eines Tages ist er verschwunden. Das Mädchen, das die Landessprache nicht spricht und so zur Sprachlosigkeit verurteilt ist, irrt durch die Stadt, wird in ein Heim gebracht und büxt von dort mit zwei älteren Jungen aus, von denen immerhin einer ihre Sprache spricht. Die Odyssee der drei Kinder ist ein nackter Kampf ums Überleben, gezeichnet von Hunger, Kälte, Krankheit, Regen, Schnee und Armut – direkt unter den Augen einer wohlhabenden Großstadtbevölkerung. Doch sobald die Kinder den Kopf gesenkt halten, sieht man durch sie hindurch. Dabei hat die Kleine, die nach einiger Zeit behauptet, Yiza zu heißen, noch einen Vorteil durch ihre Kindlichkeit und das hübsche, niedliche Aussehen. Man schenkt ihr einen Mantel, Handschuhe, eine Mütze, doch tragen das so ungleich verteilte Mitleid und die Hilfsbereitschaft stets Anzeichen von Egoismus des Gebenden und sind unweigerlich verbunden mit dem Verlust ihrer Freiheit.

Der auktoriale Erzähler bedient sich, passend zur Sprachlosigkeit der Kinder, eines einfachen Satzbaus, doch ist auch in dieser Beschränkung die Brillanz des Autors spürbar.

Die bittere Geschichte über Kinderschicksale ohne Perspektive hält uns einen Spiegel vor, ruft zum genaueren Hinschauen auf und lässt mich doch auch ratlos zurück.

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Hanser 2016
www.hanser-literaturverlage.de