Eine Enttäuschung
Auf Pascal Merciers neuen Roman Das Gewicht der Worte hatte ich mich ganz besonders gefreut. Nachtzug nach Lissabon war 2004 mein Lieblingsbuch und auch Lea hat mir 2007 gut gefallen. Lange mussten wir auf ein neues Buch warten, entsprechend hoch waren meine Erwartungen. Dass der Protagonist ein Sprachenenthusiast und Übersetzer sein würde, hat meine Vorfreude zusätzlich befeuert. Doch dann die Enttäuschung: Pascal Mercier konnte mich mit der Geschichte um Simon Leyland überhaupt nicht begeistern, ich entwickelte beim Hören der mehr als 22 Stunden umfassenden vollständigen Lesung Überdruss ob der beständigen Wiederholungen und Widerwillen gegen den eitlen Leyland und die Blase, in der er sich ausschließlich bewegt. Kein Satz über das Weltgeschehen oder Politik auf über 600 Seiten – Leyland kreist ausschließlich um seine eigene Befindlichkeit, seine gleichgesinnten Freunde und seine ihm ähnlichen erwachsenen Kinder.
Die Handlung ist schnell zusammengefasst. Simon Leyland, Anfang 60, Übersetzer, Verlagsleiter, seiner verstorbenen Frau Livia und deren Verlag zuliebe von London nach Triest umgezogen, wird das Opfer einer ärztlichen Verwechslung. 77 Tage lang hat er den schnellen Tod vor Augen, eine Zeit, in der er seinen Verlag verkauft und den Suizid plant. Dann klärt sich der Irrtum auf, Leyland bezieht ein soeben in London geerbtes Haus in London und ordnet, „jetzt, da er wieder eine Zukunft hat“, sein Leben neu.
Leider hat mir vieles die Freude an diesem Roman vergällt. Da war gleich zu Beginn das völlig unrealistische Gespräch mit dem Triester Chefarzt, der dem MRT-Bild nicht nur die Diagnose Hirntumor, sondern gleich auch noch die Histologie entnimmt. Verständlich, dass Leyland mit der Verwechslung hadert und wütend ist, doch trifft ihn, der sofort jede Mitarbeit verweigert, eine Mitverantwortung. Weniger Selbstmitleid und mehr Empathie für den Hauptleidtragenden, den tatsächlich betroffenen Patienten, dem die Therapie vorenthalten wird, wäre angebracht gewesen. Dass ihn auch nach der Aufklärung des Irrtums seltene Anfälle wegen zeitweiliger Durchblutungsstörungen im Gehirn mit vorübergehendem Verlust der Sprache treffen, beklagt er wortreich, ohne daraus Konsequenz zu ziehen. Er und alle anderen Figuren rauchen so fortgesetzt, wie ich das in dieser Intensität und Ausführlichkeit noch nie gelesen habe.
Ebenso konstruiert wie Leyland wirken auf mich seine Freunde, alle tiefsinnig, mit höchst dramatischen, außergewöhnlichen Lebensläufen, stets aus edelsten Motiven handelnd, selbst wenn dies eine Gefängnisstrafe nach sich zieht. Nur ein einziger Kritiker zieht Leylands Übersetzungen in Zweifel, doch ihn bügelt er als „kleinen, unbedeutenden Mann“ ab und unterstellt ihm einen „kleinen, miesen Rachefeldzug“. Alle anderen denken wie er und bestätigen in Gesprächen seine Gedankengänge, die Leyland in Briefen an seine tote Frau noch einmal wiederholt. Selbst interessante Themen wie das Wesen der Zeit, Krankheit, Tod, das Erlernen von Sprachen, das Handwerk des Übersetzens, Jurisprudenz und Gesundheitswesen werden so zerredet und wirken flach.
Gehadert habe ich auch mit der Stimme von Markus Hoffmann, die zwar deutlich ist und warm klingt, aber leider das Pathos des Textes überbetont.
Vielleicht hätte mir das Buch etwas besser gefallen als die Hörfassung und natürlich ist Pascal Merciers sprachliches Vermögen wieder beeindruckend. Leider hat das aber nicht ausgereicht, um mich über die kritisierten Aspekte hinwegzutrösten.
Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. Gelesen von Markus Hoffmann. HörbuchHamburg 2020
www.hoerbuch-hamburg.de
Habe heute eine sehr begeisterte Rezi zu dem Buch gelesen, nun Deine, die ich mal wieder sehr schön und auch sehr nachvollziehbar finde. Mich reizen ja auch Bücher, die ganz unterschiedliche Reaktionen hervorbringen. Da Federfee aber zusätzlich geschrieben hat, dass sie sich vorstellen kann, dass es einige schrecklich langweilig finden werden, nehme ich wohl lieber Abstand von dem Buch.
Liebe Grüße und alles Liebe für die Woche.